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03. We´re not in Kansas anymore (Judy Garland)
ОглавлениеSiegfried erwachte aus seiner Narkose, als der Krankenwagen zum Stehen kam. Im gleichen Augenblick überkam ihn ein unwiderstehlicher Brechreiz. Er schaffte es gerade noch sich zur Seite zu wenden, sodass er sich nicht selbst bekotzte, sondern die ganze Ladung auf die weißen Reeboks eines der Pfleger ging. Der Mann unterdrückte einen Fluch.
Als alles draußen war, fühlte sich Siegfried eigentlich wieder ganz OK. "Kannst du aufstehen und laufen?" hörte er die bekannte Honigstimme sagen. Er gab ein tonloses Hmm zur Antwort.
"Danke Jungs, das war gute Arbeit", hörte Siegfried das Mädchen zu den Krankenpflegern sagen. "In ein paar Minuten kommt der Sierra und bringt euch nach Darnwolt. Der Junge und ich steigen hier um in den Bugatti."
Sie öffnete die Hecktür des Krankenwagens. Siegfrieds Blick fiel auf einen nachtschwarzen Bugatti Royale, der mit laufendem Motor hinter dem Krankenwagen stand. Sie befanden sich irgendwo an der 400 weit außerhalb von Wichita. Lisa machte eine einladende Geste und Siegfried ging mit unsicheren Beinen hinüber zu dem schwarzen Oldtimer. Auf dem Fahrersitz saß ein gedrungender Mann mit Chaufeursmütze. Er hatte ein Maulwurfsgesicht mit einer winzigen Nase, auf der eine Brille mit unglaublich fetten Gläsern lastete. Als er Siegfried bemerkte, stieg er aus und öffnete ihm die Tür zum Fond des Wagens. Siegfried folgte seiner einladenden Handbewegung und stieg ein. Lisa war inzwischen auf der anderen Wagenseite eingestiegen.
Siegfried versank förmlich in den Sitzen aus sorgfältig vernähtem Nubukleder und sah sich um. Neben dem Nubukleder hatte man sonst für die Innenausstattung des Bugatti nur noch fein gemasertes Koaholz verwendet. Das Wageninnere war erfüllt von einem warmen gelben Licht, das die Atmosphäre einer sehr vornehmen Cocktailbar erzeugte. Siegfried gegenüber saß der Herr mit der kulitiverten Baritonstimme, der sich aus dem Fenster von Siegfrieds Krankenzimmer geschwungen hatte. Auch wenn er einfach nur entspannt dasaß, war er eine beeindruckende Erscheinung. Er war nicht mehr jung, sein schwarzes Haar und der Kinnbart zeigten graue Strähnchen. Außerdem war die Frisur am Hinterkopf ein wenig licht. Aber er saß in einer sehr aufrechten Haltung und die Gesten seiner Arme und Hände machten einen geschmeidigen und kraftvollen Eindruck. Er erinnerte an einen Kater, der noch über Jahre allen Jungkatzen das Fell gerben würde, die sich in sein Revier wagten. Er war groß, etwa eins neunzig, schlank, aber gut trainiert. Ihm fehlten Muskelpolster, aber in seiner Haltung ahnte man die Gewandtheit eines Hürdensprinters. Er trug einen schwarzen iphoneKaschmirpullover unter dem dunkelgrauen Sakko. Seine Hosen waren aus schwarzer Wolle, elegant geschneidert und dabei so lässig, als könnte man in ihnen auch eine Hochhausfassade erklimmen.
Neben ihm saß das wunderschöne Mädchen. Sie hatte den Mundschutz und den Arztkittel abgelegt und trug nun einen hellblauen Kaschmirpullover zu ihren Levis. Auf ihrer Nase erkannte Siegfried etwa zwei Dutzend Sommersprossen. Erst jetzt sah Siegfried, dass sie nicht nur mit einem Beachvolleyballerinnenkörper ausgestattet war, in dem Kaschmirpullover steckte zu allem Überfluss auch noch ein Paar ausgesprochen wohlgeformte Brüste. Er war so mit Anstarren beschäftigt, dass er gar nicht gleich merkte, dass der Herr mit der Baritonstimme mit ihm sprach.
"Ich muss dich tausendmal um Vergebung bitten für die theatralische Art, mit der wir dich überfallen haben, Siegfried", begann der kultivierte Herr. "Wir wollten heute eigentlich nach der Schule mit dir Kontakt aufnehmen, aber als wir dort nach dir fragten, hieß es, du lägest im Krankenhaus. Aber entschuldige", unterbrach sich der Herr selbst. "Ich glaube es ist höchste Zeit, dass wir uns einmal vorstellen. Mein Name ist Doktor Gerold von Stackelmann, die junge Dame ist Lisa Tekiero, meine Nichte. Und der Herr, der den Bugatti steuert, ist Mister Jenkins, mein persönlicher Assistent.“ Nach einer kurzen Pause, die wohl dazu gedacht war, Siegfried Zeit zum Merken der Namen zu geben, fuhr er fort: „Eine Frage, Siegfried: Ich meine jetzt, abgesehen von den gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten mit Ron Bruckner, wie gefällt es dir in der Schule?"
Siegfried kniff sich in den Arm, um sicher zu gehen, dass er nicht immer noch träumte. Der Kerl hatte ihn aus einem Krankenhaus gekidnappt, um ihn zu fragen, was die Schule machte? Unsicher schaute er von ihm zu dem blonden Mädchen und wieder zurück. Sollte er unverbindlich das antworten, was alle Teenager sagen, wenn man sie nach der Schule fragt ("Geht so") oder sollte er in Anbetracht der ungewöhnlichen Situation mit der Wahrheit herausrücken? Von Stackelmann und Lisa schauten ihn so erwartungsvoll an, dass er beschloss, endlich einmal offen zu sagen, was er von der Schule dachte und von den Leuten, die sie gemeinsam mit ihm besuchten:
"Also die Schule ist das Letzte“, polterte Siegfried los. „Die Lehrer haben alle selbst nicht begriffen, was sie uns beibringen sollen. Jede Frage, die nur ein bisschen über den Unterrichtsstoff hinausgeht, wird als Provokation aufgefasst. Dabei ist das Ganze so primitiv, dass einen die Hausaufgaben nicht einmal für die Fahrt im Schulbus beschäftigen. Und die Halbaffen, die in meine Klasse gehen, halten mich für einen Mutanten, seit ich gesagt habe, dass sich quadratische Gleichungen prima im Kopf lösen lassen."
"Jenkins, ich glaube, wir haben gefunden, was wir suchen", sprach Doktor von Stackelmann nach vorne. Dann wandte er sich an Siegfried: "Und was würdest du davon halten, auf eine andere Schule zu gehen? Auf eine Schule, deren Lernstoff deinen Fähigkeiten entspricht? Ich leite ein solches Institut, und es ist immer schwer, Schüler zu finden, die den Anforderungen genügen. Siegfried ich lade dich ein, nach Darnwolt zu kommen, der Schule für Superschurken."
Zum Glück saß Siegfried schon. Seit sein Vater von Galaktoman ermordet worden war, hatte er davon geträumt ein Superschurke zu werden und Arnold van Bowdendonks Tod zu rächen. Verdammt, wie stolz sein Vater wäre. So stolz wie ein Highschool-Coach, dessen Sohn Sportprofi wird. Arnie van Bowdencomb war eines der zahlreichen Opfer von Galaktoman, dem Retter der Welt. Galaktoman hatte Arnies Superwaffe umgepolt und den ahnungslosen Schurken Arnie van Bowdencomb in einen Haufen grüner Asche verwandelt. Das hatte Siegfrieds Mutter ihm immer erzählt. Sekundenschnell war die grüne Asche von der erzeugten Druckwelle in die Atmosphäre der wieder einmal geretteten Welt geblasen worden. Nichts war von Arnie van Bowdencomb geblieben, außer einer Hand voll Staub, der ziellos in der Erdatmosphäre unterwegs war. Jahrelang hatte Mutter es nicht übers Herz gebracht, den Staub vom Klavier im Wohnzimmer zu wischen, auf dem Arnie so gerne den ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate gespielt hatte. Möglicherweise, so hatte sie immer mit traurigem Gesicht gesagt, enthält der Staub ein paar Atome von Papa.
Mit einer Ausbildung zum Superschurken würde Siegfried nicht so enden wie sein Vater. Denn Arnie war nur ein einfacher Schurke gewesen, einer der von Kerlen wie Galaktoman mal so nebenbei in grüne Asche verwandelt wurde. Siegfried würde nach seiner Ausbildung in Darnwolt ein Superschurke sein. Einer, der Superhelden wie Galaktoman immer wieder in den Arsch treten würde. Einer, den Galaktoman niemals würde vernichten können, einer der immer im letzen Moment noch die rettende Raumkapsel oder den geheimen Tunnel erreichen würde.
Dass auch Siegfried Galaktoman nicht würde vernichten können, dass er sich mit seinem Todfeind solange er lebte einen endlosen Kampf liefern würde, daran mochte Siegfried im Moment nicht denken. Er würde der Kerl sein, der Galaktoman das Leben zur Hölle machen würde, der ihn zwingen würde, eine geheime Identität anzunehmen. Er würde verhindern, dass Galaktoman das Mädchen bekommen würde, das Galaktoman so leidenschaftlich liebte, und das selbstverständlich auch unsterblich in Galaktoman verknallt war. Er würde Galaktoman alles nehmen, außer seinem Ruhm als Superheld. Seine Rache würde darin bestehen, dass sich Galaktoman trotz aller Triumphe ein Leben lang als das fühlen würde, was er in Siegfrieds Augen war: Ein blau leuchtender Trottel in Strumpfhosen.
So unglücklich war Siegfried an seiner Schule in Wichita gewesen, so sehr hatte er die Schnauze voll von kichernden Cheerleadern, arroganten Pointguards und Tyrannen wie Bruckner, dass er von Stackelmann sofort glaubte. Wer in Kaschmir gehüllt zusammen mit einer superblonden Sexbombe in einem nachtschwarzen Bugatti durch die Gegend fuhr und Kinder entführte, dem konnte man auch glauben, dass er der Leiter einer Superschurkenschule war. Und weil auch das Verhältnis zu seiner Mutter in den vergangenen Jahren nicht immer idyllisch gewesen war, beschloss Siegfried sich auf den Pakt einzulassen. Lisa deutete sein Lächeln richtig und reichte ihm einen Hochglanzprospekt. Fasziniert begann Siegfried zu lesen.
Das Glanzpapier klebte leicht an Siegfrieds Fingern, die vor Aufregung schwitzten. Darnwolt, die Schule für Kinder mit unbegrenzten Möglichkeiten, stand vorne auf dem Prospekt zu lesen.
Auf Seite drei gab es ein Grußwort von Dr. Gerold von Stackelmann. Er schrieb über ein labiles Gleichgewicht von Gut und Böse, in dem die Welt sich befand. Nach seinen Worten bewahrten Superschurken die Erde davor im Chaos zu versinken. Auf der anderen Seite waren Superhelden nur naive Tugendbolde. Ein Teil von jener Kraft, die das Gute will und nur das Böse schafft, wie von Stackelmann es unübertrefflich formulierte. Er entwarf das Bild einer friedlichen von einem einzigen Superschurken beherrschten Welt. Und er drückte in dem Vorwort seine Hoffnung aus, dass einer der Darnwolt-Absolventen dieses Ziel, die Weltherrschaft, erreichen würde.
Die nächste Seite enthielt Nachrufe auf Schurken, die im Kampf gegen die Superhelden gestorben waren. Natürlich fehlte Arnold van Bowdencomb, Siegfrieds Vater. Er war er nicht mehr gewesen als ein weiterer Skalp an Galaktomans Gürtel. Sein Vater hatte sich überlisten lassen, schon in seiner ersten Auseinandersetzung mit einem Superhelden. Echte Superschurken dagegen brachten es auf zahllose Auseinandersetzungen, auf einen lebenslangen Kampf, zumindest auf eine Auseinandersetzung, die sich über Jahrzehnte hinzieht. Wer sich von Galaktoman beim ersten Showdown überlisten und aus dem Verkehr ziehen lässt, ist kein Superschurke, dachte Siegfried bitter.
Nach den Nachrufen kamen die Bilder der Superschurken, die sich unbesiegbar einen ewigen Kampf mit ihrem Heldengegner lieferten: Lex Luther, Magneto, der Sandmann und so fort.
Darum ging es in Darnwolt: Superschurken sollten die Schüler werden, böse Genies, die den Kampf mit dem übermächtigen mit unnatürlichen Kräften ausgestatteten Gegner nichts entgegensetzen konnten als die Schärfe ihres Verstandes.
Fasziniert blätterte Siegfried durch die Bilder des Hochglanzprospektes. Sie zeigten den Berg, auf dessen Spitze sich das von Gewitterwolken umtoste Schlossinternat befand. Ein Bild zeigte den Speisesaal, der in weißem Linnen eingedeckt war. Der Beitrag über die Küche zeigte einen halben Hummer, der mit einer Vinaigrette aus Ingwer und weißem Balsamico garniert war.
Das großartigste schien Siegfried die Garage von Darnwolt: Lamborghinis, Ferraris, Bugattis so weit das Auge reichte. An der Decke hing ein Motorsegler und ein Rennboot.
Weiter hinten zeigte der Prospekt Jungen und Mädchen in Siegfrieds Alter beim Nahkampftraining, beim Schießen, beim Auseinanderbauen eines Sportwagens. Ein Bild zeigte den dunkel getäfelten Hörsaal. Die Tafel war über und über vollgeschrieben mit chemischen Gleichungen.
"Wo muss ich unterschreiben?" fragte Siegfried, als er das Heft durchgeblättert hatte.
"Dein Wort genügt", antwortete Doktor von Stackelmann.