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06. I Love To Live So Pleasantly, Live This Life of Luxury (Kinks)
ОглавлениеSiegfried wollte tanzen vor Freude. „Ich bin drin“, sagte er wieder und wieder, manchmal klang es nach Boris Becker in seinem AOL-Werbespot, manchmal nach Robert Redford in „Sneakers“ und manchmal war es einfach nur ein triumphierender Schrei.
Siegfried ging bei aller Euphorie das seltsame Benehmen des Dieners nicht aus dem Kopf. Hasberg sollte er nicht als Passwort nehmen. Wie kam der Kerl darauf? Was hatte er mit jemandem namens Hasberg zu tun? Seltsamerweise hatte Siegfried das todsichere Gefühl, dass er den Namen schon mal irgendwo gehört hatte. Aber wo? Und wie kam es, dass jetzt dieser Diener damit anfing? Siegfried beschloss angesichts der knappen Zeit bis zum Empfang keine weiteren Gedanken darauf zu verschwenden. Er holte seine Levis, das Hanes-Shirt und die Nikes aus der Tasche und kleidete sich für den Empfang. Dann sicherte er das Türschloss, wie es der Diener erklärt hatte, und begab sich nach unten.
Siegfried ging in Gedanken versunken die zwei Stockwerke hinunter. Wo hatte er den Namen Hasberg schon einmal gehört? Er stand auf dem letzten Treppenabsatz, bevor es in die Eingangshalle ging, als es ihm einfiel. Hasberg war der Mädchenname seiner Mutter. Nimm nicht den Mädchennamen deiner Mutter als Passwort, das stand in jeder Computerfibel für Anfänger. Aber woher kannte Gooseberg Cornelia van Bowdendonks Mädchennamen? Was wollte der Lange ihm mit seiner Warnung sagen? Siegfried beschloss das Nachdenken auf später zu verschieben. Stattdessen genoss er den Blick in den feierlich erleuchteten Empfangssaal. Der Kronleuchter war auf halbe Kraft gedimmt, in den Ecken des Raumes standen Deckenfluter, die ein warmes gelbes Licht auf die in herbstlichem Rot getünchten Wände warfen. An der Stirnseite des Raumes stand ein schwerer etwa sieben Meter langer mit weißem Leinen eingedeckter Tisch. Darauf lockten Schüsseln mit Salzmandeln und anderen Knabbereien, es gab Coca Cola und in der Mitte stand ein Rührgerät, in dem grüne Oliven in einer gelben Flüssigkeit gemächlich im Kreis bewegt wurden. Etwas verloren in dem großen Raum standen ein Dutzend Diener und etwa zwanzig Jugendliche in Siegfrieds Alter, Mädchen und Jungen. Die Kinder hielten Abstand voneinander, schließlich handelte es sich ausnahmslos um angehende Superschurken, denen der Sinn nicht nach Smalltalk mit Fremden stand.
Während Siegfried den Raum musterte, schritt Doktor von Stackelmann an den Dienern und den wartenden Schülern vorbei auf das Rednerpult zu, das an der Wand vor einem rot schimmernden Brokatvorhang aufgebaut war.
Doktor von Stackelmann schaltete das Mikrophon ein. Es gab kein Knacken, keine fiepende Rückkopplung, kein peinliches Test, Test. Er wartete noch einen Moment, bis Jenkins ein Glas mit Milch auf dem Rednerpult abgestellt hatte. Dann füllte seine angenehme Baritonstimme den Saal: „Liebe Schülerinnen und Schüler, ich bin stolz darauf, dass Eure Wahl auf unsere Institution gefallen ist. Jeder Schüler hat auf seinem Gebiet ganz herausragendes Talent bewiesen, und angesichts dieser Talente halte ich es für ausgemacht, dass jeder einzelne auch an einer anderen Institution Erfolg gehabt hätte. Aber was ist schon ein lumpiges Diplom von einer dieser Durchschnittsuniversitäten, wenn man hier lernen kann, die Weltherrschaft an sich zu reißen? Wozu einen Beruf lernen, mit dem man Geld verdient, wenn man Geld stehlen kann? Warum Geld stehlen, wenn man es drucken kann? Warum Geld drucken, wenn einem die Menschen alles vor die Füße legen, damit man diesen lächerlichen Planeten nicht pulverisiert? Schon bevor euch die erste Unterrichtseinheit etwas von dem geheimen Wissen in Darnwolt vermittelt hat, seid ihr etwas ganz besonderes, denn ihr seid euch dessen bewusst, etwas Besonderes zu sein. Aus diesem Bewusstsein entspringt euer Talent zum Superschurken, die Opferbereitschaft, ohne die sich große Ziele nicht erreichen lassen.“ Von Stackelmanns Augen blitzten fröhlich. „Man muss bereit sein andere für die eigenen Ziele zu opfern.“ Verhaltenes Gelächter. „Seid nicht zimperlich, schließlich geht es um den Frieden der Welt.“ Gemurmel. „Also ich kann mir keine friedlichere Welt vorstellen als eine, die von einer einzigen Person beherrscht wird. Unfrieden ist immer die Folge des Konfliktes etwa gleich starker Einzelinteressen. Wenn es aber ein Interesse gibt, dem sich alles unterordnet, dann ist dauernder Frieden die zwangsläufige Folge. Und weil jeder von euch so ein Interesse hat, halte ich jeden Superschurken für einen Botschafter des Weltfriedens.“ Gelächter. Diener gingen umher und boten den Gästen Colagläser an. „Leider ist die Erde noch nicht das erträumte friedliche Idyll, das vom Willen eines einzigen überlegenen Geistes gelenkt wird. Bisher konnte noch kein Superschurke das Ziel der Weltherrschaft erreichen, wie Ihr Euch alle denken könnt. Auf unserer armen Mutter Erde gibt es eine Reihe von traurigen Realitäten zu beklagen: Jeden Tag sterben Millionen von Kindern an Krankheiten, die sich ganz einfach behandeln ließen. Tausende Männer und Frauen verrecken in Kriegen, die man mit dem Geld finanziert, das man dadurch einspart, dass man Kinder am unsauberen Trinkwasser krepieren lässt. Statt die Welt mit sauberem Trinkwasser zu versorgen, tüfteln irgendwelche kranken Gehirne an Tarnkappenbombern. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es einem Darnwolt-Absolventen eines Tages gelingt, diesen Wahnsinn abzustellen. Liebe Schülerinnen und Schüler, fast beneide ich euch um diese Aufgabe, vor die das Leben euch stellt. Aber glaubt mir, es wird hart werden. Deshalb solltet ihr die ersten zehn, zwanzig Jahre nach dem Abschluss eurer Ausbildung hier damit zubringen, den einen oder anderen Nobelpreis zu gewinnen. Oder aber ihr erwirtschaftet euch ein kleines Vermögen von sagen wir dreißig Milliarden, damit eure Weltherrschaftspläne auf finanziell gesunden Füßen stehen. Ich bin sicher, mit dem, was ihr hier in den nächsten Jahren lernen werdet, lässt sich das spielend bewerkstelligen.
Lasst uns deshalb darauf trinken, dass wir alle den Tag erleben, an dem einer der Menschen in diesem Raum die Mission Weltherrschaft mit Erfolg abschließt.“ Einen Augenblick schwiegen die Schüler verlegen. Dann fiel einem nach dem anderen ein, dass es sich gehörte, nach einer Rede in die Hände zu klatschen. Sie spendeten von Stackelmann verhalten Applaus, Gläser klangen, dann wurde getrunken. „Liebe Schülerinnen und Schüler, ich darf Euch nun den Bankettsaal zu einem Diner bitten. Auch wenn die staatliche Förderung für Darnwolt seit Jahren nicht richtig in die Gänge gekommen ist, verfügen wir doch über beachtliche Stiftungsmittel, die nicht nur dazu ausreichen, Unterrichtung und Unterbringung der Schüler zu bestreiten, sondern uns auch in die Lage versetzen, diesen Abend mit einem festlichen Essen zu feiern.“ Die roten Brokatvorhänge hinter von Stackelmanns Rednerpult wurden zur Seite gezogen und gaben den Blick in einen festlich erleuchteten Speisesaal von der Größe eines Basketballfeldes frei. Die Tafel hatte die Form eines „U“. Vor jedem der mit rotem Samt beschlagenen Stühle waren zehn Sorten Besteck und viererlei Gläser gedeckt. Die Mitte des Tisches war mit Blumen, silbernen Leuchtern und bunten Glassteinen verziert. Vor den pyramidenförmig gefalteten Leinenservietten standen Tischkärtchen aus handgeschöpftem Büttenpapier.
Hinter Siegfried räusperte sich jemand. Es war der Diener, der aussah wie eine Stabheuschrecke. „Ich würde auch nach unten gehen, Siegfried. In Darnwolt wird es nicht gerne gesehen, wenn jemand aus der Reihe tanzt. Es macht alles so schwer zu kontrollieren.“ Siegfried dankte und ging die Treppe hinunter zum Bankettsaal. Er nannte einem Diener seinen Namen, der brachte ihn zu seinem Platz.
Erst als Siegfried in den weichen Sessel gesunken war, bemerkte er zu seiner Freude, dass ihm Lisa Tekiero gegenübersaß.
"Hallo, Siegfried", begrüßte ihn Lisa freundlich.
Siegfried grüßte zurück, dann herrschte erst einmal Schweigen. Sein Hirn fahndete nach einem geistreichen Einstieg ins Gespräch. Aber alles, was ihm einfiel, war nur peinlich: "Was machst du, wenn du keine Kinder aus Krankenhäusern entführst? Warum hast du so einen bescheuerten Nachnamen?" So sehr er sich auch mühte, es fiel ihm kein unverfängliches Gesprächsthema ein. Zum Glück standen die Hors doevres vor ihm, sodass man erst einmal essen konnte statt zu reden.
Das Zeug sah aus, als hätte ein Goldschmied mit Mürbteig experimentiert. Ein halbes Dutzend Kreationen aus Filet und Räucherlachs und anderen Leckereien für Erwachsene war mit Akribie auf dem Vorspeisenteller arrangiert worden. Meeresfrüchte lagen auf dem Teller, die die Form von Blumen oder kleiner Tiere angenommen hatten.
Lisa nahm eins der kleinen Kunstwerke nach dem anderen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie öffnete den Mund gerade so weit, dass das Häppchen darin verschwinden konnte. Ihre Zunge kam den Fingern bis zur Kante des Lippenrots entgegen. Dann schlossen sich Mund und Augen langsam und synchron. Lisa kaute, schluckte und kümmerte sich dann um das nächste Stück auf ihrem Vorspeisenteller.
Siegfried starrte sie einfach nur an. „Oh, die musst du probieren, die sind köstlich. Eines besser als das andere“, sagte Lisa. Ihre Stimme war sehr sanft, ein klein wenig zu tief für ihre vielleicht sechzehn Jahre. Es klang so als liefen die Worte über einen sehr weichen und tiefen Teppich. Sie sprach ein wenig langsam. Nicht zu langsam. Es klang auch nicht nach blondem Dummchen oder dummem Blondchen. Es klang einfach nur wohlig. Siegfried bekam von ihrer Stimme das Gefühl, das man hat, wenn man an einem Sommernachmittag auf einer Luftmatratze im Pool treibt, während einen die Sonne von oben durchwärmt.
Siegfried sagte verlegen. „Erst anschauen, dann reinbeißen“, was ein bisschen peinlich war, denn er hatte ja die ganze Zeit Lisa angeschaut und nicht seinen Teller. Das wurde ihm nun bewusst und er wurde rot wie das Carpaccio aus getrockneten Tomaten, das im Entenconfit eingerührt war.
Er verzehrte die Häppchen eins nach dem anderen. Dabei fand er das gekünstelte französische Zeug absolut widerlich. Aber nachdem Lisa mit solchem Genuss gegessen hatte, wollte Siegfried nicht den Spielverderber geben. Er hatte das natürliche Misstrauen eines Teenagers gegen alle Gerichte, die sich nicht mit drei Wörtern aus der Muttersprache benennen ließen. „Nudeln mit Tomatensoße“, das war ein Name für ein ordentliches Essen. Aber „Tartar von der Nordmeerkrabbe an Kresse-Balsamico-Capuccino“, das klang nach einem undefinierbaren Durcheinander von Geschmacksrichtungen. Trotzdem würgte er die Hors d’œuvre tapfer herunter, denn Lisa lächelte ihn erwartungsvoll an, als lechzte sie förmlich nach einer Begeisterungsregung. Dabei hatte Siegfried noch nie einen ordentlichen Spritzer Ketchup so sehr vermisst wie jetzt.
Aber er wollte sich nicht als Ignorant outen, und deshalb meinte er tapfer: „Haute Cuisine ist für einen Superschurken einfach die angemessene Nahrung.“ Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und fragte Lisa: "Was machst du eigentlich, wenn du nicht gerade Leute aus Kliniken entführst?"
„Ich gehöre zum Haus. Dr. von Stackelmann ist mein Onkel.“ „Cool. Dann kriegst du Privatunterricht. Welches Konzept in Quantenrechnerarchitektur wird den hier gelehrt? Das von Quimp oder das von Teschkolnikow?“ Lisa sah Siegfried fragend an. „Ich kriege hier keinen Unterricht in Kolnikow. Ich bin Assistentin des Lehrkörpers."
Sie sprach das Wort „Lehrkörper“ so aus, dass sich Siegfrieds Puls um etwa zehn Schläge beschleunigte. Er versuchte seine Reaktion mit einem Witz zu überspielen: „Die Klausuren liegen also auf deinem Rechner?“ fragte er frech. „Nein, ich unterrichte Amoral und Narzissmus. Übermorgen haben wir die erste Stunde. Ich weiß nicht, das Fach ist schwer in Worte zu fassen. Aber wenn du von mir unterrichtet wirst, dann merkst du schon, was ich meine.“ Mit ihrer etwas zu tiefen Stimme klangen Lisas Worte wie das Anzüglichste, was Siegfried in seinem Leben von einem Mädchen gehört hatte. Sein Gesicht fühlte sich daher so heiß an, als würde er mit Lisa in einer finnischen Sauna sitzen. Am besten war es, das Thema zu wechseln. Wenn Lisa Biokybernetik oder so etwas unterrichtet hätte, dann hätte er jetzt versucht sie zu beeindrucken. Aber Amoral und Narzissmus? Um ein Gespräch über dieses Thema in Gang zu halten, hätte er sich genauso blöd stellen müssen, wie er auf dem Gebiet wirklich war. Und das schien Siegfried so peinlich, dass er beschloss lieber den Mund zu halten.
Um irgend etwas zu tun, spießte er das kleine grüne Bällchen auf, das noch auf seinem Teller lag und schob es in den Mund. „Vorsicht“, rief Lisa, doch es war zu spät.
Siegfrieds Mund brannte wie Feuer. Zum Glück habe ich Ohren, wo der Dampf rauskann, dachte er. Schweiß rann über die Stirn. Ihm wurde heiß. Gleich würde sein T-Shirt an ihm kleben wie beim Wet-T-Shirt-Contest. „Drei Gramm Wasabi , nicht schlecht“, sagte Lisa.
Siegfried tastete nach seinem Weinglas und leerte es auf einen Schluck. Das machte das Brennen nicht besser. „Ein Glas Milch für den jungen Mann“, sagte Lisa zu einem der Diener. Nur wenige Sekunden später war der Diener zurück mit einem großen Glas Kuhsaft. „Trink das“, sagte Lisa zu Siegfried. „Milch ist das Beste, wenn man etwas zu Scharfes gegessen hat.“
Siegfried nahm ihr das Glas aus der Hand. Es roch ganz zart nach ihrem Parfum. Als er die Milch trank, mischte sich der Parfumduft mit dem weichen Milchgeschmack, als hätte Lisa musste das Glas irgendwie verzaubert. Die Milch schmeckte nach dem Blick, den man von einer Bergwiese in den blauen Sommerhimmel hat. Vor allem stellte sie das höllische Brennen in seinem Mund ab. „Danke“, sagte Siegfried. „Gern geschehen“, antwortete Lisa und der Klang ihrer Stimme heilte die wunden Ohrgänge, wo der Wasabidampf Siegfrieds Körper verlassen hatte.
Er schaute Lisa an und erschrak, denn irgendwie sah er sie doppelt. Ihre Bewegungen waren seltsam unscharf und auch ihre Stimme klang so, als hörte er zusätzlich ein leises Echo.
Das Glas, mit dem er versucht hatte, den Wasabi zu löschen, war die erste größere Menge Milch in den vergangenen Jahren. Seit er fünf war, hatte er aus irgendwelchen Gründen keine Milch mehr getrunken. Er fragte sich, ob er in der Zwischenzeit eine Art Allergie entwickelt hatte. Auf jeden Fall sah er um sich die seltsamsten Doppelbilder. Alle Bewegungen verschwammen zu einem seltsamen Gewirr, als würde man eine Szene mit achtzehn Sekunden Belichtungszeit fotografieren. Auch die Geräusche verschwammen zu einem seltsamen Brummen.
Siegfried war so benommen, dass er es für das Beste hielt, auf der Toilette zu verschwinden. Dort besprengte er sein Gesicht mit kaltem Wasser. Er schaute sich im Spiegel an, das Bild war wieder scharf. Solange er still hielt, sah er alles ganz normal. In dem Moment, in dem er sich bewegte, entstand ein Doppelbild. „Multiple Sklerose“ stöhnte er. „Ich habe Multiple Sklerose.“ Er würde ein Superschurke vom Typ „sadistischer Körperbehinderter“ werden. Im Rollstuhl sitzen mit einem Joystick zwischen den Zähnen. Mit einer Zungenbewegung Großstädte ausradieren, das war eigentlich nicht das, was sich Siegfried vom Leben erhoffte.
Er schwappte sich nochmals kaltes Wasser ins Gesicht und schaute sich im Spiegel an. Sein Gesicht sah er scharf, aber die Tropfen, die über sein Gesicht liefen, waren seltsam verschwommen. Was war das für eine Nervenkrankheit, bei der man ruhende Objekte scharf sah, und bewegte unscharf?
Warum hatte er nichts gegen seine Pickel unternommen, bevor er Lisa Tekiero kennen lernte?
Er beschloss zurück in den Bankettsaal zu gehen und für den Rest des Abends Lisas Anblick so gut es ging zu genießen.