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Ihr rationaler Mann
ОглавлениеSchon seit Jahren hatte von Cem Königsberg ein Gefühl der Leere Besitz ergriffen und seine Frau Wibke hatte das mit Bedauern beobachtet. Dabei hatte Cem nichts, das ihn deprimieren sollte. Er war Arzt und ein Fachmann auf seinem Gebiet. Sie hatten sich vor vielen Jahren auf Prag in der Nil Provinz kennengelernt, wo beide ihr Studium begonnen hatten. Cem war so gut gewesen, dass man ihn sogar für ein paar Semester nach Oxford eingeladen hatte. Doch dort hatte er sich nie so ganz wohl gefühlt. Alle wussten, dass seine Zeit dort nur begrenzt war. Nicht, weil man festgestellt hatte, dass sein Todestag schon in ein paar Monaten sein würde, sondern weil er von Anfang an gesagt hatte, sein Ziel wäre es, hinauszugehen in die Galaxis und Menschen zu helfen. Dafür wollte er Arzt werden, um für Menschen da zu sein, die seine Hilfe brauchten – und auf Oxford gab es genügend Ärzte. Da also klar war, dass er nicht auf dieser Welt bleiben würde, konnte man seinen Todestag nicht feiern, auch wenn man ihn gleich nach seiner Immatrikulation bestimmt hatte. Was wiederum bedeutete, dass er nie ganz Teil der Gesellschaft werden konnte. Er war immer ein Außenstehender und das deprimierte ihn ein wenig, so dass er froh war, als er nach zwei Jahren nach Prag zurückkehren konnte, wo er Wibke wieder traf, die ihm freudestrahlend um den Hals fiel. Natürlich waren sie während seiner Abwesenheit in Kontakt geblieben, aber die Planeten waren weit voneinander entfernt, so dass direkte Gespräche nicht möglich gewesen waren.
Beide beendeten ihr Studium, beide machten ihren Doktor und dann überlegten sie sich, wo sie sich niederlassen wollten. Die Rio de la Plata Provinz klang vielversprechend, mehrere Planeten mit kleinen Bevölkerungen, wenig Industrie, nur ein paar Erfinder. Das klang nach einer Gegend, in der er gebraucht wurde und so zogen sie um nach Heidelberg. Es war ein ruhiger Planet, kleine Städte, eine kleine Universität, wenig niedergelassene Ärzte. Es schien perfekt für sie zu sein, gleichzeitig eine Praxis zu haben und nebenbei noch an der Universität lehren zu können. Es schien so… aber so war es nicht.
Das Leben auf Heidelberg stellte sich als sehr eintönig heraus. Die Bevölkerung beschäftigte sich viel mit der Landwirtschaft, war den ganzen Tag auf den Feldern und immer an der frischen Luft. Das bedeutete: Sie waren fast alle gesund! Keine kränkelnden Stadtmenschen, sondern robuste Arbeiter, denen kaum etwas etwas anhaben konnte. Cems und Wibkes Dienste wurden also nur wenig in Anspruch genommen. Und da ein Großteil der Bevölkerung den Tag in der Natur verbrachte, war er abends dementsprechend müde. Was wiederum bedeutete, dass es auch wenig Kulturleben gab, da kaum jemand Zeit oder Lust dafür hatte. Cem begann sich zu langweilen. Erst starrte er nur aus dem Fenster, später dann auf leere Wände. Für Wibke waren die Symptome klar. Aber sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Ihr Spezialgebiet war ein wenig anders gelagert als das ihres Mannes, und so reiste sie hin und wieder zu anderen Planeten der Provinz, um dort zu assistieren, wenn ihre Hilfe benötigt wurde. Doch Cem hatte diese Möglichkeit nicht. Er war an den Planeten gebunden. Wibke schlug ihm vor, sich ein weiteres Fachgebiet anzueignen, aber Cem schien die Motivation dafür verloren zu haben. Und je mehr Zeit verstrich, umso weniger Motivation schien ihm zu bleiben.
Es gab ein kurzes Aufflackern von Hoffnung, der Gedanke, doch endlich gebraucht zu werden, endlich die Dinge tun zu können, für die er all die Jahre studiert hatte, als auf Rieka plötzlich eine unbekannte Form von Wahnsinn ausbrach. Das war etwas, bei dem er sich beweisen konnte, bei dem er all das anwenden konnte, was er gelernt hatte. Er bot seine Hilfe an, doch man stellte den Planeten unter Quarantäne und ließ ihn nicht einreisen. Bevor man genau wusste, was die Ursache war, sollten einheimische Ärzte die Untersuchung führen. Dann ereignete sich ein Zwischenfall und man trat an ihn heran, aber jetzt lehnte er ab. Erst war er ihnen nicht gut genug, aber jetzt sollte er ihre Fehler ausbügeln? Und wahrscheinlich noch als Sündenbock herhalten, wenn etwas schief ging? Nein, dafür konnten die sich einen anderen suchen. Später dann nahm ein Team von Oxford die Arbeit auf und stand irgendwann kurz davor, die wahre Ursache für den Wahnsinn zu finden – und ein Gegenmittel, das ihn heilte.
„Das hätte meine Aufgabe sein sollen“, murmelte er.
„Ein Gegenmittel zu finden?“ fragte Wibke.
„All das. Die Betroffenen zu untersuchen. Die Ursache zu finden. Ein Gegenmittel zu entdecken. Das hätte meine Aufgabe sein sollen. Dafür bin ich hier. Aber die wollten es ja nicht…“
Er seufzte – und Wibke sah ihn traurig an.
„Ich habe mein Leben verschwendet. Jedem geht es gut, jeder genießt sein Leben… ich glaube, ich bin der einzige in der ganzen Galaxie, dem es so geht! Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
Wibke dachte lange darüber nach. Dann lächelte sie und sagte: „Wir sollten etwas unternehmen. Vielleicht bringt dich das ja auf andere Gedanken!“
Es war ein herrlicher Tag. Sie machten einen Spaziergang durch die Natur. Die Blumen blühten in den unmöglichsten Farben, Insekten schwirrten um sie herum, die Sonne tauchte den Himmel in ein romantisches Rot. Ein wunderbarer Duft lag in der Luft. Nur Cems mürrischer Gesichtsausdruck änderte sich nicht. All die Schönheit um sie herum nahm er nicht wahr. Wibke kannte sich ein bisschen mit Psychologie aus. Sie hatte starke Reize eingesetzt, um ihn aus seinem Zustand herauszubekommen, aber bisher hatten sie keinerlei Wirkung gezeigt. Blieb ein weiterer Versuch, der Höhepunkt ihres kleinen Ausflugs.
„Was ist das?“ fragte Cem, als sie vor dem kleinen Haus stehen blieben.
„Lass dich überraschen!“ lächelte sie und öffnete ihm die Tür.
Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Restaurant. Es verband, so hieß es, einheimische Küche von irgendeiner alten Glaubensrichtung mit Rezepten der SinnFinnBinnHinn – und die sollten angeblich Meister der Gaumenfreuden sein. Wibke hatte ihre Speisen noch nie probiert, aber sie hoffte, dass alles, was man sich über sie erzählte, zutraf. Vielleicht war der Gaumengenuss, der phänomenale Geschmack, ein Reiz, der zu ihrem abgestumpft wirkenden Ehemann durchdringen, der ihn in gewisser Weise „wecken“ würde. Sie nahmen an einem kleinen Tisch Platz und der Ober brachte ihnen die Karte. Cem sah sie nur verwirrt an, also übernahm sie die Bestellung. Sie hatte sich vorher kundig gemacht. Was sie bestellte sollte seine Wirkung haben – und wenn das nichts half, dann half wahrscheinlich gar nichts.
Das Essen kam und schon der erste Bissen zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Wer auch immer dieses Volk war und wo auch immer es lebte, es wusste, wie man den Gaumen glücklich machte. Der Geschmack war einfach unvergleichlich. Jede Sekunde, die sich der Bissen in ihrem Mund befand, war ein Genuss. Befriedigt sah sie zu ihrem Mann – doch der kaute nur desinteressiert vor sich hin. Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb… doch dann tat sich etwas in Cems Augen. Sie wurden auf einmal… aufmerksamer. Wibke wollte ihn ansprechen, doch er deutete ihr an, zu schweigen. Er schien… zu lauschen. Einer Konversation. Am Nachbartisch.
„Ich weiß einfach nicht weiter“, sagte die Frau mit belegter Stimme.
„Da gibt es nichts, was man tun kann“, meinte der Mann traurig.
„Aber… es ist Unrecht!“
„Es ist das Recht des Stärkeren!“
„Die können das nicht tun. Die dürfen das nicht tun!“
„Die werden es tun. Und sie haben es schon getan.“
„Mit den Berlingers?!“
„Ja.“
Die Frau schluckte.
„Du meinst, sie werden mit uns das gleiche machen?“
„Wenn sie niemand aufhält.“
„Die Berlingers sind erfroren!“
„Sie hätten sich etwas neues suchen können.“
„Nein, das konnten sie nicht. Nachdem die Bank ihnen ihr Land, ihr Land weggenommen hat, hat sie dafür gesorgt, dass sie geächtet wurden. Weil sie ihr Land nicht freiwillig aufgeben wollten, weil sie um ihr Land gekämpft haben. Die Bank hat ihnen einen Denkzettel verpasst. Und jetzt sind sie beide tot.“
„Sie waren alt.“
„Es ist Unrecht! Die Bank hat kein Recht dazu.“
„Die Bank hat die Macht.“
„Hier? Auf unserem Planeten?“
„Auf jedem Planeten, auf dem sie das will“, seufzte der Mann. „Die Bank setzt sich durch. Und wenn es sein muss mit Gewalt.“
„Und unser Land…“
„Sie wird es sich nehmen.“
„Und unsere Kinder…“
„Ich weiß es nicht.“
„Gibt es… gibt es nichts, was wir dagegen tun können?“
„Nein“, sagte der Mann leise. „Wir haben getan, was wir tun konnten, aber es war umsonst. Unser Leben ist verschwendet. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.“
Als Wibke und Cem später das Restaurant verließen, stellte sie eine Veränderung bei ihm fest. Er war aufmerksamer. Wacher. Fast ein wenig aufgeregt. Zum ersten Mal seit langem hatte sie das Gefühl, dass etwas in ihm vorging. Und zum ersten Mal seit langem sah sie wieder ein Lächeln in seinem Gesicht.
Cems Gemütszustand wurde mit jedem Tag besser. Offenbar hatte die Erkenntnis, dass er nicht der einzige in der Galaxis war, dem es schlecht ging, einen Knoten gelöst, der seinen Geist zusammengeschnürt hatte. Er war nicht allein, anderen ging es auch so, also gab es keinen Grund, sich weiter in diesen Zustand hineinfallen zu lassen, das schien seine Erkenntnis aus diesem Abend im Restaurant gewesen zu sein und Wibke freute sich, dass der Tag doch noch zu etwas geführt hatte. Cem lächelte mehr und mehr und schon bald hatte er seinen Willen zum Leben wiedergefunden. Er brachte sie sogar zum Raumhafen, als sie wieder zu einem anderen Planeten der Provinz musste, lachte, und küsste sie zum Abschied auf die Wange. Und als sie zurückkehrte schien er ein völlig neuer Mensch zu sein, oder vielmehr ganz der alte, der, der er gewesen war, als sie ihn kennengelernt hatte. Er war fröhlich, guter Dinge und schien wieder Ziele im Leben zu haben. Die Deprimiertheit der letzten Jahre schien weggewischt, er wirkte so, als könne ihm nichts mehr etwas anhaben.
Das war der Zeitpunkt, zu dem sie genau das auf die Probe stellen musste. Denn obwohl er wieder besser gelaunt war, die Liebe zu Cem hatte Wibke seit einiger Zeit verlassen. Und sie war auch mit seiner Wandlung nicht zurückgekehrt. Schon seit langem hatte sie sich von ihm trennen wollen, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, nicht in seinem Zustand. Aber jetzt hatte sich alles geändert. Er war wieder ganz der alte, mit frischem Geist und dem Drang, etwas zu unternehmen.
Sie tastete sich vorsichtig an ihr Ziel heran. Sie wollte nicht mit einer Konfrontation all das zerstören, was sie erreicht hatte, sie wollte ihn nicht wieder in seinen alten Zustand zurückversetzen. Sie ging es vorsichtig an… doch er lächelte nur und nickte.
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Dir tut es leid?“ fragte sie ungläubig.
„Ja“, lächelte Cem, „dass ich dir das all die Jahre lang angetan habe. Es tut mir wirklich leid, dass du mich aushalten musstest… und ich danke dir dafür, dass du mich ausgehalten hast. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein Leben bekommst, so, wie du es dir immer vorgestellt hast. Ich gebe dich frei, leb dein Leben, genieße es, denn dafür ist es da.“
Wenige Tage später befand sie sich auf dem Weg nach Venedig, einem anderen Planeten in der Rio de la Plata Provinz, wo sie mit einem Mann zusammenzog, einem anderen Arzt, den sie schon bei mehreren ihrer Reisen durch die Provinz getroffen hatte. Das Leben, so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, konnte beginnen.
Es gab einen Grund, warum Cem plötzlich so gut gelaunt war. Wobei der Begriff „plötzlich“ nicht ganz angemessen war. Es hatte schon ein bisschen gedauert. Ausgelöst wurde alles durch das Gespräch am Nachbartisch, aber ein wenig anders, als seine Frau es angenommen hatte. Cem hatte zwar gemerkt, dass es auch andere Menschen gab, die mit dem Leben ähnliche Probleme zu haben schienen wie er, aber was für ihn noch viel wichtiger war, war: Diese Menschen brauchten Hilfe!
Und wie es schien, schien ihnen niemand zu helfen. Gegen die mächtigen Banken. Aber hinter Banken standen auch immer Menschen. Und an Menschen kam man heran. Das waren seine ersten Gedankengänge, während Wibke mit Erstaunen und Freude seinen Gesichtsausdruck beobachtete, der mehr und mehr seinen alten Geist auszustrahlen schien. Es arbeitete hinter seiner Stirn, er war nicht mehr der Unbeteiligte, er war jemand, der… der was? Etwas verändern konnte? Der Menschen helfen konnte? Aber wie?
Am nächsten Tag stellte er Nachforschungen an. Über das Paar, das erfroren war. Und tatsächlich, auf ihrem schönen, abgelegenen Planeten hatte sich eine Bank niedergelassen und hatte begonnen, die Leute von ihrem Eigentum, auf dem sie lange und hart gearbeitet hatten, zu vertreiben. Mit irgendwelchen Klauseln, gegen die sich keiner wehren konnte, weil es hier keine Anwälte gab. Das schien, so stellte sich heraus, ein beliebter Weg von ein paar Banken zu sein. Besiedelte Planeten anzugehen, die ohne Anwälte auskamen und auf diese Weise hart arbeitende Leute um ihr Eigentum zu bringen. Und wenn sie sich nett anstellten, durften sie vielleicht sogar noch auf ihrem ehemaligen Eigentum für die Bank arbeiten. Es war eine neue Art von Invasion, aber eine, der scheinbar legal war.
Cem lächelte. Er hatte wieder eine Aufgabe.
Wibke sah sein Lächeln. Er hatte seine Selbstaufgabe aufgegeben. Sie strahlte ihn an – aber er war zu sehr in Gedanken, um es wahrzunehmen. Denn seit er wusste, was er tun musste, musste er herausfinden, was er tun musste. Oder vielmehr tun konnte. Um auf Anwalt umzuschulen und die Banken zu bekämpfen hatte er nicht die Zeit. Es ging um Menschenleben, die auf dem Spiel standen, hier und jetzt. Er musste sofort handeln, wenn er etwas erreichen wollte. Rechtliche Schritte schlossen sich also aus. Aber das war ohnehin nicht sein Gebiet, sein Gebiet war die Medizin. Und wie er sich schon einmal klargemacht hatte, hinter Banken steckten Menschen und die waren sein erster Ansatzpunkt.
Die Vertretung der „Bank des Bürgers“, wie sie sich nannte, war nicht groß. Es gab ein paar Sekretärinnen und einen Mann, der das alles leitete. Bisher kamen die meisten Welten des Imperiums ohne Geld und daher auch ohne Banken aus. Auf Heidelberg war das bis vor kurzem auch so gewesen, bis die „Bank des Bürgers“ eine Filiale eröffnet hatte und nun ihre gierigen Finger nach dem Eigentum anderer ausstreckte. Der Bankmanager war bemüht, mit allen Bauern der Region Verträge abzuschließen, Darlehen, die niemand brauchte mit Zinsen, die niemand zurückzahlen konnte, was zwangsläufig dazu führen würde, dass das Land in das Eigentum der Bank überging. Wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte, verfügte die Bank noch über ein bisschen mehr Personal. Offiziell wurde es als „Wachpersonal“ geführt, in Wirklichkeit waren es aber Schläger, die die Bauern dazu „überreden“ sollten, Verträge zu unterzeichnen. Cem war schnell zu der Überzeugung gelangt, dass das nicht unbedingt die legitimsten Wege waren, die die Bank ging – und das befreite ihn in seinen Augen davon, ebenfalls legitim zu handeln.
Nach einem gemeinsamen Essen in der Kantine erlitt das komplette „Wachpersonal“ eine so starke Lebensmittelvergiftung, dass man es in ein Krankenhaus auf einem anderen Planeten bringen musste. Das würde das Problem natürlich nicht auf lange Sicht lösen, aber es war zumindest ein Anfang. Nun wandte sich der Arzt dem wirklich wichtigen Teil seiner Operation zu. Ein paar Tage lang beobachtete er das Verhalten des Bankmanagers, dann hatte der plötzlich einen überraschenden Herzanfall und verstarb. Niemand schloss auf einen Unfall, schon deswegen, weil Cem in der Lage gewesen war, die Patientenakten des Mannes einzusehen und eine bestehende Anfälligkeit auszunutzen. Nicht lange danach zog die Bank die Sekretärinnen von Heidelberg ab und schloss ihre Filiale dort. Das einzige, was sie zurückließ, war ein strahlendes Lächeln auf Cems Gesicht.
Der war sich, seit sein Verstand wieder etwas gefunden hatte, womit er sich beschäftigen konnte, seit er endlich das machen konnte, was er immer hatte tun wollen, nämlich Menschen zu helfen, bewusst geworden, dass es eine Person gab, der er nicht hatte helfen können und deren Leben er in den letzten Jahren sehr erschwert hatte. Und da war noch etwas. Er hatte seine Aufgabe im Leben gefunden und er würde den Weg, den er gerade begonnen hatte, weitergehen. Das bedeutete aber auch, dass er vermutlich Dinge tun würde, die illegal waren – und er wollte seine Frau in diese Sache nicht hineinziehen. Was auch immer er tat sollte nur er selbst zu verantworten haben. Es war also an der Zeit, so schwer ihm das auch fiel, sich von Wibke zu trennen und ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Zu seiner Freude nahm sie die Sache viel leichter auf, als er es befürchtet hatte. Aber es war eine richtige Entscheidung, denn immer, wenn er an sie dachte, dachte er nur daran, wie er sich in den letzten Jahren ihr gegenüber verhalten hatte und was sie seinetwegen durchmachen musste. Seine Liebe zu ihr wurde durch den bitteren Beigeschmack der Art, wie er sie behandelt hatte, versauert. Sollte sie ihr Leben genießen – und er sollte das tun, was er immer hatte tun wollen.
Man sagte einst, die Wege des Herrn seien unergründlich. Cem gelang es, ähnliche Wege zu finden. Bei vier Filialen der „Bank des Bürgers“ auf verschiedenen Planeten in verschiedenen Provinzen erlitten die Filialleiter überraschende Enden, die aber alle natürlicher Ursache waren. Das war der Vorteil eines Arztes, dachte Cem bei sich, und niemand sollte jemals Verdacht schöpfen. Doch wie man erwarten konnte, würde sich das Handeln einer solchen Bank nur dadurch stoppen lassen, dass man es mit ihrer Führungsspitze aufnahm – und eine hohe Mortalitätsrate bei diesen Leuten wäre sicher nicht unentdeckt geblieben. Doch das Schicksal spielte Cem eine überraschende Karte zu und er fand einen Weg, sie höchst gewinnbringend einzusetzen.
Vor einiger Zeit war auf Rieka etwas schief gelaufen und ein paar der Verrückten waren entkommen. Die meisten davon hatte man wieder eingefangen, aber einer hatte es geschafft, den Planeten zu verlassen. Er war ein sehr gefährlicher Mann, ein ehemaliger Commander des Imperiums, der sich jetzt jedoch als ein Dr. Linski ausgab. Cem hatte die Krankheit studiert. Sie drückte sich zunächst in ungezügelter Gewalt aus, doch nach einiger Zeit veränderten sich die Symptome. Die Patienten konnten sich anpassen, nicht alle gleich gut, aber manche wurden sehr gerissen und waren sehr gut in der Kunst der Täuschung. Das machte es schwierig, den jetzigen Dr. Linski zu finden, denn er verstand sich großartig darauf, unterzutauchen. Trotzdem gelang es Cem, ihn ausfindig zu machen – und eigentlich hatte sein Plan darin bestanden, die Galaxie vor ihm zu schützen, indem er ihn eines natürlichen Todes dahinscheiden ließ… doch wie es der Zufall wollte trafen sich ihre Wege auf Frankfurt in der Wolga Provinz, dem Hauptsitz der „Bank der Bürger“. Wieder wurde sein vor nicht allzu langer Zeit noch so mürrisches Gesicht von einem Lächeln übernommen. Denn Cem hatte eine Idee.
Statt Dr. Linski zu überwältigen, ließ er ihm eine Nachricht zukommen. Eine Einladung. Sich einer Aufsichtsratssitzung anzuschließen. Von der er herausbekommen hatte, wann und wo sie stattfinden würde. Alle würden da sein, alle, die in der „Bank der Bürger“ etwas zu sagen hatten. Und Linski erschien dort ebenfalls. Cem hatte ihm in seiner Nachricht den Eindruck vermittelt, dass man die Sitzung einberufen hatte, um „der Galaxie etwas gutes zu tun und ein Kopfgeld auf einen entlaufenen Irren auszusetzen“. Linski nahm das so auf, wie man es erwarten konnte und fünf Minuten nach seinem Erscheinen war der Aufsichtsrat der Bank Geschichte – und die „Bank der Bürger“ damit kurze Zeit später auch. Linski, oder Commander Hardawar, wie er wirklich hieß, verhielt sich bei seiner „Selbstverteidigung“ allerdings so auffällig, dass er beim Verlassen des Gebäudes durch herbeigerufene Imperiale Truppen gestellt und erschossen wurde. Zwei Wochen später fand das Team aus Oxford ein Heilmittel gegen den Wahnsinn und nach ein paar Jahren würden alle Betroffenen möglicherweise geheilt sein. Alle, bis auf Commander Hardawar.
Manchmal fragte sich Cem, ob er dem Commander hätte helfen können. Manchmal fragte er sich aber auch, ob er das hätte wollen, denn Hardawar war für den Tod von mindestens 12 Menschen verantwortlich. Sicher, er war nicht Herr seiner Sinne, verrückt, wahnsinnig, aber bedeutete das wirklich, dass man ihn nicht für diese Taten zur Verantwortung ziehen konnte? Wenn man ihn gefangen und ihm das Heilmittel, das nun existierte, verabreicht hätte, wäre er dann wieder der alte gewesen, der er war, bevor er wahnsinnig geworden war? Hätte man ihm all seine Taten verziehen? Hätte er sich an sie erinnert? Hätte ihn die mögliche Erinnerung vielleicht verändert? Cem wusste es nicht. Hätte er, hätte es das Mittel früher gegeben, Hardawar vielleicht einfach geheilt? Oder… hätte er ihn diesen Plan umsetzen lassen und ihn direkt danach geheilt, so dass er nicht mehr für den Mord an den Bankern verantwortlich gewesen wäre? Auch das wusste er nicht – und irgendwie war er froh, dass er sich diesen Fragen nicht hatte stellen müssen.
Eine andere Frage, der er sich nicht stellte, war die, ob das, was er tat, rechtens war. Streng genommen hatte er das Gesetz in die eigene Hand genommen. Und auch, wenn er bei all den Leuten, mit denen er sich „auseinandersetzte“, nachforschte, dass diese auch für den Tod anderer Menschen verantwortlich waren und für andere eine akute Gefahr darstellten, so war er dann doch auch für deren Tod verantwortlich. Und, noch strenger genommen, würde er vermutlich einen Menschen, der die Dinge tat, die er tat, verfolgen und ihm das antun, was er diesen Menschen antat. Nein, wenn er ehrlich war, war er sich der Tatsache bewusst, dass er eigentlich ebenfalls auf seine Liste gehörte, aber wenn er sich selbst dafür zur Rechenschaft zog, wer würde dann all die anderen zur Rechenschaft ziehen? Es war dieser kleine Rest Heuchelei, den er sich gestattete, um seine Arbeit tun zu können. Denn, und das durfte er niemals vergessen, er tat sie, um anderen zu helfen!
Und das ging sogar über das Imperium hinaus. Während seines Studiums hatte er auch einige Satugie kennengelernt. Sie waren ein gespaltenes Volk, von dem ein Teil noch auf der Heimatwelt lebte, große Teile sich aber auf anderen Planeten niedergelassen hatten. Die Satugie hatten sich vom Rest der Galaxie isoliert und einige hielten ihre verstreuten Stammesgenossen für Verräter. Besonders diejenigen, die sich offen dafür aussprachen, dass sich ihr Volk wieder vereinigen sollte. Ab und an sandte die Heimatwelt Agenten aus, um die Mitglieder ihres Volkes aufzuspüren – und umzubringen. Durch Zufall entdeckte Cem, als er sich für einen Besuch auf Prag befand, einen solchen Agenten. Der Arzt beschloss, ihn unauffällig zu beschatten, etwas, das er im Laufe der letzten Jahre gelernt hatte. Als er dessen Verhaltensmuster studiert hatte, hatte er auch eine ganze Menge von Commander Hardawar alias Dr. Linski gelernt – sonst hätte er ihn auch kaum aufspüren können. Sein Verdacht stellte sich als richtig heraus und bevor der Agent zuschlagen konnte, musste auch er sich einer natürlichen Todesursache stellen.
Viele Jahre lang reiste Dr. Cem Königsberg durch die Welten des Imperiums und wo immer die Menschen seine Hilfe benötigten, half er ihnen. Auf seine Weise. Ohne, dass sie jemals davon erfuhren. Möglicherweise beging er die größte Kette von Verbrechen, die es im Imperium je gegeben hatte, doch man kam ihm nie auf die Spur. Und den Menschen ging es besser. Viele wären ohne sein Eingreifen gestorben. Nun waren sie es nicht. Er hatte Menschenleben gerettet – wenn auch auf etwas unorthodoxe Weise. Er sah sich wie der Arzt, der er war. Die Menschen, die er getötet hatte, waren wie ein Virus, wie eine Krankheit. Und eine Krankheit ließ man ja auch nicht überleben. Man bekämpfte sie. Einen Tumor schnitt man heraus. Und er war der Chirurg, der die menschlichen Tumore aus dem Körper des Imperiums heraustrennte, fein säuberlich, ohne andere Organe zu verletzen. Aber er tat es nur, wenn er sicher war, dass keine andere Behandlung zum Ziel führen würde.
Lange Zeit später traf er Wibke auf Venedig. Ihr Mann war vor kurzem gestorben und Cem hatte davon erfahren. Er wollte sicher gehen, dass sie sich nicht in sich zurück zog, so wie er es einst getan hatte. Sie umarmte ihn, als sie ihn auf dem Raumhafen abholte. Er wollte sie sehen – aber sein Besuch hatte auch noch eine andere Bewandtnis.
„Und welche ist das?“ fragte sie, als sie abends in einem Restaurant mit Blick über eine Meerenge saßen.
„Du weißt doch, wo ich zwei Jahre lang studiert habe.“
„Oxford“, schmunzelte sie, während sie die funkelnden bunten Lichter betrachtete, die sich auf dem Wasser spiegelten. Dann verstand sie. „Du meinst…“
„Ja“, nickte er und lächelte. „Wenn die recht haben, kann ich bald meinen Todestag feiern.“
„Aber…“
„Ich hab es mit deren Kalender verglichen.“ Er zuckte die Schultern. „Sieht so aus, als wäre meine Zeit bald abgelaufen.“ Cem sah sie an und lächelte. „Aber ich habe sie gut genutzt. Ich… habe meinen Weg gefunden.“
„Ich bin so froh darüber“, gestand sie. Sie dachte einen Moment nach. Dann sagte sie: „Ich muss dir etwas gestehen.“
„Was?“ fragte er lächelnd. „Dass du mich damals in eine bessere Stimmung versetzen wolltest, damit du dich ohne schlechtes Gewissen von mir trennen konntest?“
„Das auch“, gestand sie. Es war tatsächlich einer ihrer Hintergedanken gewesen. „Aber da ist noch etwas…“
„Was?“
„Dieses Gespräch am Nachbartisch damals…“
„Dieses Gespräch hat mein Leben verändert.“
„Das hatte ich gehofft. Es war… mein letzter Versuch.“
Cem sah sie verwirrt an.
„Versuch?“
Wibke nickte. „Mein letzter Versuch, dir einen Ruck zu geben. Wenn der Geschmack dich schon nicht aus deinem Zustand herausreißen konnte, dann vielleicht der Gedanke, dass es anderen Leuten genauso schlecht geht wie dir.“ Sie lächelte. „Und das scheint dann ja zum Glück funktioniert zu haben.“
„Du meinst… was? Diese Leute…“
„Waren Schauspieler, die ich engagiert habe.“ Sie lachte. „Ich war verzweifelt. Also hab ich ein bisschen in der Presse gestöbert und mir eine zu Herzen gehende Geschichte ausgedacht. Etwas, das dir hoffentlich nahe gehen und das dir zeigen würde, dass du nicht allein bist mit deinen düsteren Gefühlen. Und dann hab ich zwei Schauspieler engagiert, die das hoffentlich so glaubwürdig vortragen würden, dass du es für wahr hältst und dich dann vielleicht nicht mehr so viel mit dir beschäftigst.“
„Es war alles nur gelogen?“ hauchte er ungläubig.
„Es war… eine Verzweiflungstat. Aber die beiden waren nie in irgendeiner Gefahr, falls du das meinst.“ Sie führte ihr Glas zum Mund und lächelte. „Wieso fragst du?“