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Verkehrte Welt
ОглавлениеDas erste Mal, dass es Adrian aufgefallen war, war während eines Sommers vor einigen Jahren gewesen. Zunächst hatte er sich nichts dabei gedacht, aber dann, als es sich in ähnlicher Weise wiederholt hatte, war es ihm wirklich bewusst geworden – und ein wenig merkwürdig vorgekommen.
Das erste „Ereignis“, wenn man es so nennen wollte, obwohl es dafür viel zu unbedeutend war, der erste Fall einer „Wiederholung“, war in einem Café gewesen – oder vielmehr auf einer Insel kurze Zeit später. In dem Café hatte er sich mit einer Kollegin eines Freundes unterhalten und sie hatten beide miteinander geflachst. Irgendwann meinte sie dann: „Ach, wir wollten uns ja nicht verstehen.“ Kurze Zeit später dann war er beruflich auf einer kleinen Insel gewesen und während er dort mit einer Arbeitskollegin durch die Dünen stapfte, kam als Antwort auf eine seiner Bemerkungen: „Ach, wir wollten uns ja nicht verstehen.“ Es war eine völlig andere Frau. Und er hatte diese Redewendung weder vorher noch irgendwann danach wieder gehört.
Das mochte ein Zufall gewesen sein, eine Laune des Schicksals, eine Modewendung dieses Sommers, der Sommer des Spruchs „Ach, wir wollten uns ja nicht verstehen“, der durch eine populäre Sendung in vielerlei Münder gelegt worden war und danach benutzte ihn niemand mehr. Es war möglich – aber spätere, ähnliche Details, ließen ihn ein wenig daran zweifeln.
Denn ähnliches passierte ihm mit zwei anderen Frauen. Auf zwei unterschiedlichen Partys. Wieder einmal kam er mit ihnen ins Flachsen und die eine sagte: „Ah, du bist n Lustiger.“ Er wusste nicht genau, wie er das einschätzen sollte, das konnte positiv gemeint sein, weil Frauen ja stets gerne behaupteten, Humor wäre ihnen bei einem Mann wichtiger als Aussehen, auch wenn die Realität sie dann doch meist Lügen strafte, es konnte aber auch höflich ablehnend gemeint sein, so, wie ein „hat sich stets redlich bemüht“ in einem Zeugnis eher negativ zu werten war. Nur wenige Wochen später war er im flachsenden Gespräch mit einer anderen Frau und auch da fiel in Reaktion auf eine seiner Bemerkungen der Satz: „Ah, du bist n Lustiger.“
Auch hier handelte es sich um eine Formulierung, die ihm weder vor- noch nachher jemals über den Weg gelaufen war. Zufall. Reiner Zufall. Was sollte es da für einen Zusammenhang geben? Dass sich die Frauen kannten? Sich gegen ihn verschworen hatten? Spielchen mit ihm spielten? Das war mehr als unwahrscheinlich. Und ohne jeden Anlass. Es war nur einfach ein Detail, das, wäre dies eine Geschichte oder ein Film, möglicherweise auffallen würde. Dort stellte es eins von zwei Dingen dar: Einen Hinweis oder einen Fehler. Den Hinweis auf eine Verschwörung, die er aber für extrem unwahrscheinlich hielt, zumal er auf dem Parkett des Universums keinerlei Bedeutung hatte. Wahrscheinlich war also ein Fehler. Dass man für jeweils beide Szenen dieselbe Frauenfigur eingeplant hatte, bei der der erwähnte Satz so eine Art Markenzeichen war, etwas, das sie gerne wiederholte. Dann hatte man aber aus irgendeinem Grund die eine Frau durch eine andere ersetzt, vielleicht, weil man eine neue Figur in die Geschichte einführen wollte, oder aber, weil die Originalschauspielerin für die neue Szene nicht mehr zur Verfügung stand. In einem Buch oder Drehbuch wäre es also ein Fehler gewesen, den man korrigieren sollte – aber dies war keine erfundene Geschichte, dies war die Wirklichkeit. Oder?
Es war genau dieses Oder?, zu dem er irgendwann gekommen war. Denn es ereignete sich ein weiterer „Vorfall“, der ebenso unspektakulär war wie die beiden anderen, der ihnen aber doch sehr ähnelte. Noch am Wochenende hatte er mit einem Freund über das Thema „Das dritte Geschlecht“ gesprochen, was in sich schon für manche beleidigend klang, da es nach ihrer Auffassung mehr als drei Geschlechter gab. Adrian hatte gemeint, dass man es auch ein wenig übertreiben konnte und sein Freund hatte ihn als „Genderist“ bezeichnet, so eine Art Rassist für Geschlechterfragen, ein Begriff, den die Genderbewegung gerne verbreiten wollte, weil sie sich die Rechte daran gesichert hatte. Zwei Tage später dann war Adrian auf dem Geburtstag eines Freundes gewesen und dort kam dasselbe Thema auf – und es war fast so, als würde er das Gespräch mit seinem Freund nahtlos fortsetzen, war doch der Gesprächspartner auch von Statur und Sprachduktus seinem Freund nicht unähnlich. Ja, es war wirklich fast so, als wäre das Gespräch einfach weitergegangen, nur mit einem anderen Gesprächspartner. Der aber genauso sprach und argumentierte wie sein Freund. Es war fast so… als hätte man die Szene bereits fertig gehabt, aber mittendrin einfach den Darsteller ausgetauscht. Oder… als würden beide Menschen, Freund und Genderexperte, vielleicht von derselben Person „gelenkt“? Er war sich nicht ganz sicher, wie er das formulieren sollte. Wäre dies eine Art Simulation und seine Gegenüber waren keine Programme, sondern wurden von anderen Personen „gespielt“, dann wirkte es beinahe so, als wären Freund und Genderexperte von derselben Person mit denselben Ansichten und derselben Ausdrucksweise gespielt worden. So, wie die Frauen von jeweils derselben Person gespielt worden waren, die einfach ihr bestimmtes Vokabular hatte. Es war natürlich hirnrissig und unmöglich… und doch war das der Punkt, an dem Adrian an den Dingen zu zweifeln begann!
Dann erinnerte er sich an eine andere Sache, die mit einem anderen Freund passiert war. Oder vielmehr an zwei Dinge. Das eine ähnelte ein wenig den vorherigen Erlebnissen. Im Haus seiner Mutter hatte man gerade neue Schilder beim Fahrstuhl angebracht, auf denen stand „nicht anlehnen“, damit man sich nicht gegen die Schiebetür lehnte, während sie sich schloss. Die Schilder waren neu und Adrian hatte sie vor kurzem zum ersten Mal gesehen. Wenig später besuchte ihn sein Freund in seiner eigenen Wohnung in einer anderen Stadt und als sich die Fahrstuhltüren schlossen, sagte er: „Ach ja, nicht anlehnen.“ Fast so, als hätte er die Schilder in dem anderen Haus gesehen! Aber das hatte er nicht, denn seit man sie angebracht hatte, war er nicht dort gewesen. Als würde er Wissen benutzen, das Adrian hatte, aber nicht er…
Wobei auch einmal das Gegenteil eingetreten war. Er hatte Adrian einen Witz erzählt. Und eine Woche später erzählte er ihm denselben Witz noch einmal. Adrian meinte darauf, den hätte er ihm schon letzte Woche erzählt, doch sein Freund meinte: „Das geht gar nicht, den hab ich erst diese Woche gelesen!“ Fast so, als wären diesmal unterschiedliche Personen „hinter der Person“. Aber das konnten ja auch einfach menschliche Fehler sein, denn dass Leute etwas vergaßen, war ja nicht unbedingt neu.
Es gab aber auch andere Dinge, die, nunja, merkwürdig waren. Kleine Details, die anderen vielleicht gar nicht auffallen würden, die ihm aber schon fast aufdringlich offensichtlich erschienen. Wenn Ketten von Zusammenhängen auftauchten, die in einem Film oder Buch als schlicht zu sehr auf die Nase gedrückt erscheinen würden. Zum Beispiel ging er viel zu Theaterpremieren, um als Kritiker über die Stücke zu schreiben. Er kannte einige der anderen Kritiker, teils aber nur vom Sehen. An einem Tag war er ein wenig überrascht, als er sich das Bonusmaterial zu einer alten Serie ansah, die gerade wieder herausgekommen war, in dem ihm ein bekanntes Gesicht erschien: einer der Kritiker, die er nur vom Sehen kannte. Ein Mann mit Glatze, Pjotr N’Galla, der hier über eine von Adrians Lieblingsserien sprach. Am Abend desselben Tages sprach er dann mit einem Freund, der sagte, der Kritiker des PopKulturNetzes hätte eins der Stücke, von dem Adrian ihm erzählt hatte, verrissen. „PopKulturNetz?“ hatte Adrian gefragt, „vielleicht kenn ich den ja. Wie sieht der aus?“ – „Das ist der Pjotr, son Glatzkopf“, war die Antwort gewesen. Normalerweise hätte man sich bei so was keine Gedanken machen müssen – aber wenn es innerhalb weniger Stunden passierte, kam einem das doch ein wenig merkwürdig vor.
Es gab da verschiedene Möglichkeiten. Die Frage war schlicht, wie war das Universum geartet? War es etwas, das zufällig entstanden war? Gab es eine höhere Macht? War alles Leben, das es in ihm gab, Teil einer Schöpfung durch andere Wesen oder war es schlicht und einfach entstanden, so, wie Schimmel entstand, wenn man Brot zu lange herumliegen ließ? Also war Leben etwas, das ganz natürlich entstanden war, weil das einfach so war, wenn bestimmte Faktoren zusammen kamen? Und wenn dem so war, wie war es dann möglich, dass ein Leben das andere beeinflussen konnte? Oder vielmehr Gedanken und Einstellungen?
Zwei Menschen in seinem Leben, eine Freundin und seine Mutter, sagten ihm immer wieder, dass er selbst ein wenig schuld an seinem Schicksal wäre, weil er „das schlechte anziehen würde“. „Wenn du glaubst, dass es schlecht wird, wird es auch schlecht werden“, das war der Gedanke dahinter. Es läge an seiner Einstellung, nicht an seinem Handeln. Wenn man eine positive Einstellung hätte, würden einem auch positive Dinge widerfahren, hatte man eine schlechte Einstellung waren es schlechte Dinge. Das klang auf dem Papier natürlich irgendwie vernünftig, wurde in der Form aber durch die Realität nicht ganz unterstützt. Jedenfalls dann, wenn man Einstellung durch Handeln ersetzte. Denn er versuchte, mit allen Menschen freundlich umzugehen, höflich, nett – und doch gab es verschiedene Arschlöcher, die ihm immer wieder das Leben schwer machten. Konnte es also wirklich an seiner Einstellung liegen, an seinem Glauben, wenn man so wollte? Wirkte sich das Unterbewusste auf die Umgebung, auf das Schicksal aus? Dass man, wenn man schlechtes erwartete, mit schlechtem rechnete, auch immer nur schlechtes bekommen würde? Aber, wenn dies ein zufälliges Universum war, wie war das dann möglich?
Außerdem stimmte die Theorie nicht ganz. Anfangs hatte er immer geglaubt, alles würde gut werden, hatte sich gefreut und Hoffnungen gemacht – und war dann schwer enttäuscht worden. Er hatte also daran geglaubt, dass es gut werden würde und es war trotzdem nicht eingetroffen. Deswegen hatte er sich das irgendwann abgewöhnt und hatte nur noch mit dem schlechten gerechnet, das dann dementsprechend auch eingetreten war. Aber es ersparte es einem, dass seine Hoffnung zerstört und man unangenehm überrascht wurde.
Trotzdem, wie konnte seine Einstellung, seine unterschwellige Stimmung, sich auswirken auf ein größeres System? Das war die Frage – und es gab vielleicht eine Antwort. Aber es war nicht die Antwort, die er seinen Freunden gab. Denn sie hatte zu tun mit seinen Zweifeln, seinen Zweifeln an der Realität.
Setzte man also mal als Möglichkeit voraus, dass es keinen Gott gab, dass sie nicht alle geschaffen worden waren und dass sie einfach entstanden waren. Dann war es sehr unwahrscheinlich, dass sich seine miese Stimmung auf sein Schicksal auswirkte, wenn er zwar so dachte, aber nicht so handelte. Sicher, wenn man alle Leute schlecht behandelte, musste man sich nicht wundern, dass man auch schlecht behandelt wurde, aber wenn man nur dunkle Gedanken hatte, aber nicht nach ihnen handelte, erklärte das nicht, dass dunkle Dinge passierten. Und doch war es so. Zumindest bei ihm.
Wenn er also nun den ersten Gedanken mit dem zweiten verband, dann kam er… zu etwas, das er wirklich niemandem erzählen durfte, wenn er nicht wollte, dass man ihn wegsperrte, in dieses neue Irrenhaus in der Rio de la Plata Provinz. Was also, wenn das gar nicht alles echt war? Oder, um es genauer zu sagen, wenn seine Welt nicht echt war? Ja, das war Paranoismus in seiner höchsten Form, aber es war zumindest etwas, das die beschriebenen Erlebnisse erklären würde. Was also, wenn die Welt, in der er sich aufhielt, nicht die Realität war?
Sicher, sie fühlte sich so an, alles fühlte sich echt an – musste man zumindest annehmen, denn, streng genommen, wenn man aus einer anderen Realität stammte, an die man sich nicht erinnern konnte, konnte man auch keine Unterschiede feststellen. Alles war so real, wie es sein sollte – abgesehen von den beschriebenen Ausnahmen. Für die würden sich sicher rationale Erklärungen finden, wenn man jemanden fragen würde, aber auch die fanden sich für nahezu alles, wenn man sich einmal intensiver damit beschäftigte. Zum Beispiel wäre eins der Gegenargumente, die jemand bringen würde, wahrscheinlich:
„Aber es gibt doch Filme darüber.“
Die gab es, Filme, in denen gezeigt wurde, dass die Figuren in einer Art Phantasiewelt, einer Scheinwelt oder Simulation lebten – also genau das, was er von der Welt, in der er gefangen war, inzwischen vermutete. Also konnte man sagen:
„Wenn es Filme über dieses Thema gibt, dann ist deine Theorie damit widerlegt, denn wenn deine Welt wirklich nur eine Simulation wäre, würde man dir sicher nicht solche Hinweise darauf geben, dass so etwas überhaupt existieren könnte.“
Und den Punkt sah er völlig anders. Denn je komplexer eine Simulation war – und sie musste schon sehr komplex sein, um jemanden davon zu überzeugen, dass er es mit der Wirklichkeit zu tun hatte – umso mehr würde sie nicht nur Details bieten, sondern auch Dinge, die dem Zweifler den Wind aus den Segeln nehmen würden. Wenn es keinerlei Beispiele in der Fiktion für derlei Scheinwelten geben würde, wäre der Mensch dazu verleitet, anzunehmen, dass er vielleicht in einer solchen feststecken würde. Ein starkes Dementi schien oft ein Zeichen dafür zu sein, dass etwas vertuscht werden sollte. Es weckte Zweifel. Also musste die Simulation cleverer sein als der Mensch, der in ihr steckte, und ihm zeigen: Ja, wir haben auch an die Möglichkeit gedacht, dass du das annehmen könntest, deshalb haben wir dir schon mal gezeigt, dass andere das auch haben. Quasi die Simulation innerhalb der Simulation. Wer würde denn schon etwas so komplexes einbauen? Nun, derjenige, der nicht wollte, dass man Zweifel bekam, weil „die Realität“ eine Möglichkeit nicht offerierte. Es war kompliziert und gleichzeitig einleuchtend. Und so wurden durch diese Filme Zweifel am Zweifel bei ihm gesät – doch die nahmen mehr und mehr ab.
Denn alles würde, da war er sich sicher, weit mehr Sinn ergeben, wenn es nur eine Scheinwelt war. Und mehr und mehr gab er sich der Vorstellung hin, dass es sich um eine handelte. Die Frage war, welche Rolle er darin spielte?
Auch da gab es unendliche Möglichkeiten. Beispiele, aus den Scheinwelten innerhalb der Scheinwelt. Auslandende Computerspiele, in denen man durch Städte fahren und Figuren treffen konnte. Was, wenn er nur eine solche Figur war, in einer Scheinwelt auf einer höheren Ebene? Was, wenn seine Aufgabe darin bestand, ein Randcharakter zu sein, der einfach nur über die Straße ging. Was, wenn das die Aufgabe von jedem von ihnen war? Und irgendjemand anders, auf einer höheren Ebene, spielte dieses Spiel? Was, wenn er nur deswegen Bewusstsein hatte – oder glaubte, eins zu haben – damit es für den Spieler irgendwie realistischer wirkte? Was, wenn all sein Bewusstsein und all seine Zweifel ebenfalls nur programmiert waren? Was, wenn er eine Randrandfigur war, eine, die nichtmal wirklich zum eigentlichen Spiel gehörte, sondern die ein Programmierer eingebaut hatte, um zu sehen, wie sie sich entwickelte, was passierte? Was, wenn er und andere Programmierer Wetten darauf abschlossen, was er tun würde? Oder ob er jemals herauskriegen würde, dass er nur eine Figur in einer Simulation war? Was, wenn genau das herauszufinden seine eigentliche Aufgabe war?
Dann blieb ihm immer noch eins verwehrt: Es zu beweisen. Denn er konnte die tollsten Theorien aufstellen, einen Beweis hatte er dadurch noch lange nicht. Er würde in dieser Scheinwelt versauern… und vielleicht war das ja sein Leben? Vielleicht stammte er nicht aus einer anderen Realität und war hier eingeschlossen aus welchen Gründen auch immer, vielleicht war er wirklich von hier, Teil eines Programms, das innerhalb des Programms ein ganz gewöhnliches Leben führte, bis es irgendwann starb – und vielleicht liefen woanders noch unzählige dieser Programme mit unzähligen Variationen von ihm und vielleicht kamen die alle zu demselben Schluss, dass mit der Welt, in der sie lebten, etwas nicht stimmen konnte? Aber wenn dem so war, dann war es auch egal, da er dann Teil dieser Realität war und damit sein Leben in ihr hatte, wie es ein normaler Mensch in einer normalen Welt hatte – und doch hatte er irgendwie Zweifel daran, dass es so war.
Es gab nämlich noch mehr Zweifel, die er an der Wirklichkeit hatte – oder vielmehr daran, dass es sich um eine zufällige Welt handelte, in der alles passieren konnte. Zum Beispiel Glück. Das gab es. Oder vielmehr das Gegenteil davon. Pech. Glück und Pech existierten – und das mehr, als der handelsübliche Zufall erklären würde. Aber in einer zufälligen Welt konnte es so etwas wie Glück eigentlich nicht geben, oder? Und doch war es da. Zum Beispiel, was Fahrräder anging. Damit hatte er immer Pech. Er konnte noch so angeblich unzerstörbare Reifen installieren – sie wurden immer platt.
Und dann gab es da noch das SinnFinnBinnHinnianische Essen. Die hatten zusammen mit irgendeiner ausgestorbenen Erdreligion eine Reihe von Restaurants eröffnet und Adrian war ein großer Freund dieser Küche. Immer, wenn er seine Mutter besuchte, was allerdings nur etwa zweimal im Jahr vorkam, gingen sie zusammen zu einem ihrer Lokale – denn er kam freitags und am Freitag gab es dort ein Buffet. Immer. Bis auf das eine Mal, wo die Tochter des Hauses gerade ihren Abschluss an der Universität gemacht hatte und das Restaurant geschlossen war. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, wenn Adrian zweimal pro Jahr kam, ausgerechnet diesen einen unwahrscheinlichen Termin zu erwischen?
Nun, er schaffte es. Zweimal! Denn nur etwa ein Jahr später besuchte er seine Mutter wieder und diesmal wollten sie ein anderes SinnFinnBinnHinn-Lokal besuchen… das ausgerechnet an dem Tag für die Öffentlichkeit geschlossen war. Also fuhren sie zu dem alten Restaurant und Adrian meinte vorher noch: „Das hat bestimmt auch zu.“ Und er hatte recht. Es war geschlossen. Für immer. Pech!
Er änderte etwas an seinem Verhalten. Nichts spektakuläres, nur etwas… Praktisches. Oder unpraktisches, in dem Fall. Er machte keine Pläne mehr! Denn wann immer er sich etwas vornahm, kam irgendwas dazwischen. Oder fast immer, aber immer noch oft genug! Also versuchte er, so offen wie möglich zu sein, seine Tage nicht zu planen, sondern Möglichkeiten zu haben, von denen er die verwirklichte, bei denen das Schicksal ihm nicht sagte, dass sie heute nicht stattfinden würden. Flexibilität statt Planung – vielleicht ein System, das man auch anderen Leuten empfehlen sollte? Wenn es denn welche gab. Da war er sich noch nicht so ganz sicher. Obwohl es ihm ein wenig wie Verschwendung erschien, eine doch recht große und komplexe Welt nur für ihn allein zu erschaffen – und irgendwie klang das auch, als würde er sich zu wichtig nehmen.
Und ja, manchmal wusste er im Vorfeld, was passieren würde – oder er nahm es zumindest an und dann kam es auch so. Seine Mutter hätte jetzt wieder gesagt, dass er selbst daran schuld war – aber vielleicht war er das ja auch. Nur eben nicht in einer normalen Welt. Aber hier, in seiner Welt, hatte er manchmal das Gefühl, dass er die Welt vielleicht wirklich unbewusst beeinflussen konnte – negativ, aber immerhin beeinflussen. Oder aber er hatte langsam erfasst, wie die Welt in etwa funktionierte – er hatte nur leider noch keinen Weg gefunden, wie er das für sich nutzbar machen konnte!
Auch hier waren es kleine Dinge und irgendwann meinte er, da ein gewisses System entdeckt zu haben. Hoffnung. Genau das war es. Es war so, als würde ihm das Schicksal – oder die Simulation, aber vielleicht nannte die sich ja „Schicksal“, was allem einen schönen Sinn geben würde – immer mal wieder ein Häppchen hinwerfen, etwas, das ihm Hoffnung geben sollte, dass alles gut werden würde – nur, um diese Hoffnung dann über kurz oder lang zu zerstören.
Ein Beispiel dafür war einer seiner Nachbarn. Schon seit Jahren hatte er Probleme mit dem Menschen, der in der Wohnung unter ihm wohnte, weil der gerne nachts seine Musik so laut hörte, dass auch Adrian etwas davon hatte und er beschwerte sich ständig über ihn. Eines Tages bemerkte er dann, dass das Namensschild dieser Person beim Briefkasten verschwunden war. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte er die Arbeitsweise des „Schicksals“ bereits durchschaut. Freund Schicksal hatte das Namensschild entfernt, damit Adrian sich freute und dachte: Ah, endlich, jetzt ist alles vorbei, das Arschloch ist ausgezogen. Nur, um ihm dann später einen reinzuwürgen, weil das alles nicht stimmte und das Arschloch noch immer da war. Ein kurzer Moment von Glück und Freude, der irgendwann wieder zunichte gemacht werden würde.
Vor ein paar Jahren hätte er vielleicht auch noch so reagiert, aber nicht mehr. Er wusste, man wollte ihm nur etwas vormachen – und so war es dann auch. Es war nichts mit Auszug und Freude und das Lärmproblem blieb ihm zu seinem Leidwesen weiter erhalten. Doch das Prinzip war klar, hin und wieder warf ihm das Schicksal einen Knochen hin, eine Aussicht auf irgendwas, eine Aussicht auf Ruhm oder Freude oder Besserung – doch es sollte stets bei der Aussicht bleiben, sie sollte nie Wirklichkeit werden.
Ähnlich war es mit seiner künstlerischen Tätigkeit. Er war Maler und er hatte schon diverse Gemälde geschaffen. Da er zu der selbstkritischen Fraktion von Künstlern gehörte, war er sich nicht sicher, ob er nun gut war oder nicht. Das Problem war, er konnte es sich auch nie sein. Denn immer dann, wenn er dachte, dass all das, was er tat, nichts taugte, niemanden interessierte, niemandem gefiel, gab es diesen kleinen Glanz am Horizont, wo jemand behauptete, er sei gut und er müsse unbedingt weitermachen. In der Welt müsse es auch intelligente Kunst geben. Wodurch seine Zweifel in Zweifel gezogen wurden. Erst zweifelte er an seiner Kunst, dann an den Zweifeln daran. Was ihn irgendwie an seine Kunst fesselte.
Und doch war er sicher, dass er nie erfolgreich sein würde, wirklich erfolgreich. Natürlich wusste er, dass es, wenn man mal ehrlich war, keine Korrelation zwischen „gut“ und „erfolgreich“ gab, jedenfalls, wenn man in die Geschichte eintauchte und sich ansah, was erfolgreich gewesen und wie viel davon tatsächlich gut war. Die Schnittmenge war minimal. Das meiste, das richtig erfolgreich war, war etwas, das alle zufrieden stellte, das den größtmöglichen gemeinsamen Nenner traf, damit es die Massen erreichte, das damit aber auch vollkommen austauschbar und vorhersehbar war und dabei noch nichtmal gut gemacht sein musste, zumindest im Bereich der Filme. Schlechtes Schauspiel hatte vieles nicht daran gehindert, megaerfolgreich zu sein – Originalität dagegen schon. Auch da gab es natürlich Ausnahmen, es gab Dinge, die intelligent und witzig und gut waren und trotzdem erfolgreich, aber für gewöhnlich wohnten gut und erfolgreich nicht nur nicht in der selben Straße, sie lebten sich nichtmal in derselben Stadt, im selben Land oder auf dem selben Planeten. Aber vielleicht war das auch nur sein Weg, sich schönzureden, dass er niemals erfolgreich werden würde.
Darüber hinaus hatte er aber noch einen weiteren gefunden. Freund Schicksal. Oder die Simulation. Denn es war einfach nicht so gedacht, dass er erfolgreich werden sollte. Er konnte seine Kunst betreiben, als Hobby oder was auch immer, und hin und wieder würde sie auch jemand loben, jemand Außenstehendes, so dass es so klang, als wäre es jemand, der es wirklich gut finden würde, kein Freund oder Verwandter, der sich dazu verpflichtet sah, das zu sagen, aber er würde damit niemals höhere Weihen erreichen, er würde dadurch nie bekannt oder berühmt werden. Niemals! Das sollte ihn nicht daran hindern, weiterzumachen und das tat es auch nicht, aber das Endergebnis, da war er sich sicher, stand bereits fest.
Blieb die Frage, warum das so war – und auch dafür hatte er eine Theorie entwickelt. Da ihn Freund Schicksal daran zu hindern schien, jemals den großen Erfolg zu erlangen, jemals das große Glück zu finden, wäre man vielleicht versucht zu denken, das wäre die Hölle. Oder Adrians persönliche Hölle, wenn es denn so was gab. Aber, wenn er ehrlich zu sich war, war es dafür nicht schlimm genug. Sicher, es war frustrierend und deprimierend, aber es war nicht vollkommen schlimm. Er war bestenfalls zufrieden, aber er lebte nicht in Armut oder Krieg, musste nicht hungern oder frieren, wurde nicht ständig gefoltert oder missbraucht, er hatte keine chronischen Schmerzen und eine der größeren Qualen war das Arschloch von Nachbar, das unter ihm wohnte. So gesehen ging es ihm verhältnismäßig gut – und er hasste es, wenn in den Medien die Leute stöhnten, wie schlecht es ihnen doch ginge, obwohl sie all dem genannten nicht ausgesetzt waren. Dummes Pack war das! Wer nicht täglich ums Überleben kämpfen, Vergewaltigung und Folter, den Tod durch Bomben oder Verbrecher, die Ansteckung mit tödlichen Krankheiten fürchten oder unheilbare Schmerzen erleiden musste, sollte in den Medien seine bescheuerte Klappe halten und sich nicht damit in die Öffentlichkeit drängen damit, wie schlecht es ihm ging, denn verglichen mit vielen anderen tat es das nicht!
Was auch einer der Gründe dafür war, dass Adrian sich nicht zu sehr beklagte und einen Teufel tat, seine Welt als „die Hölle“ zu bezeichnen. Er hatte da eine andere, zahmere Idee. Was, wenn dies so eine Art Gefängnis war? Auch das gab es in der Science Fiction, Gefängnisse, die sich nur im Geiste abspielten – oder in die nur der Geist eingepfercht war. Vielleicht befand er sich in Wirklichkeit nur seit Minuten darin, obwohl die Simulation ihm das Gefühl gab, Jahre in ihr zu verbringen – vielleicht war es aber auch genau umgekehrt? Jedenfalls war die Möglichkeit, dass es sich um eine Art Gefängnis handelte, bisher die, die ihm am naheliegensten erschien. Aber es war kein Hochsicherheitsgefängnis, nichts, das ihm eine harte Strafe auferlegte, es war etwas sehr zurückhaltendes, minimale Sicherheitsstufe, kleinere Unannehmlichkeiten, kleinere Hoffnungen, die zerstört wurden, aber eben auch nicht mehr. In Anbetracht der Tatsache, dass es zwar unangenehm war, aber für eine Hölle einfach zu seicht, erschien ihm das als eine halbwegs logisch klingende Variante.
Selbst für das „Wofür?“ hatte er inzwischen eine halbwegs brauchbare Theorie gefunden. Was, wenn es um Aggression ging? Was, wenn er in der „wirklichen Welt“, so es sie denn gab, ein starkes Aggressionspotential hatte? Und was, wenn man ihn hier reingesteckt hatte, damit er diese Aggressionen besser unter Kontrolle bekam? Das beste Beispiel dafür war wieder das Arschloch in der Wohnung unter ihm. Jedes Mal, wenn er in der Nacht seine Musik hörte, wurde Adrian von Hass und Wut durchflutet. Schon beim ersten Mal hatte er sich gedacht, wenn wir im Wilden Westen leben würden, eine Art Welt auf der verlassenen Erde, in der die Menschen mit Waffen an den Hüften herumgelaufen und Leute mit hellbrauner Hautfarbe, die sie sinnfreier Weise „Rothäute“ nannten, abgeschossen hatten, wenn er dort leben würden, dann wäre dieses Arschloch schon lange tot, denn dann wäre er runtergegangen und hätte ihn erschossen. Oder der hätte ihn erschossen, das hätte man dann sehen müssen. Doch so blieb er in seinem Bett liegen und fühlte den Hass in sich – und der Hass wurde noch stärker, als das Arschloch sein Repertoire erweiterte, wenn man so wollte. Adrian hatte bislang versucht, trotz seines Hasses, die Sache legal zu lösen und hatte dem Arsch den Sicherheitsdienst auf den Hals gehetzt, damit der für Ruhe sorgen sollte. Bereits zweimal war am Morgen, nachdem er das getan hatte, Adrians Türschloss zerstört gewesen. Wer würde da nicht annehmen, dass das eine Retourkutsche von Mr. Laute Musik Arschloch gewesen war? Es reizte Adrian sehr, einfach mal hinunter zu gehen und diesem Kerl die Kniescheiben zu zertrümmern – und er hatte die Befürchtung, dass, wenn das Gesetz ihn weiterhin im Stich ließ und er irgendwann vielleicht dazu gezwungen war, dies als einzigen und letzten Weg zu gehen, dass das dann tatsächlich der Weg war, der zum Erfolg führte, weil Arschlöcher wie dieses nur diese eine Sprache verstanden… aber noch waren sie nicht so weit. Doch vielleicht war das ja genau sein Test, oder einer davon, seine Bereitschaft zur Gewalttätigkeit unter Kontrolle zu bringen, nicht auszurasten, wie er das manchmal gerne tun würde, nicht runterzugehen und dem Arschloch das anzutun, was es in seinen Augen schon seit langem verdiente? Er erinnerte sich daran, dass er in seiner Jugend tatsächlich zumindest einmal etwas unkontrollierter in dieser Beziehung gewesen sein. Es war auf einer kleinen Insel gewesen, beim Minigolfspielen, als er noch recht klein gewesen war, und er war dran gewesen und sein Bruder hatte ihm irgendwie reinreden wollen. Adrian wusste nicht mehr, wie das genau gewesen war, aber er hatte geschlagen und damit seinem Bruder einen Zahn halb ausgeschlagen. Das Potential für unkontrollierte Gewalt war also da – auch wenn er es seitdem nicht mehr genutzt und schon während seiner Schulzeit Schlägereien eigentlich eher aus dem Weg gegangen war.
Aber vielleicht waren das ja nicht seine Erinnerungen sondern „Erinnerungen“? Wenn dies eine Simulation war, dann war schwer zu sagen, wie viel davon echt und wie viel davon vielleicht auch nur „programmiert“ war? Hatte er seine Kindheit hier wirklich verbracht oder war die vielleicht nur Teil des Programms? Und wenn das möglich war, „ab wann“ war er oder vielmehr sein Bewusstsein dann wirklich hier drin, seit wann lief das Programm, ab welchem Alter? Es war faszinierend, sich darüber Gedanken zu machen, aber es bestanden jede Menge Chancen, dass er darauf niemals eine Antwort bekommen würde. Und vielleicht stimmte es ja auch nicht, vielleicht war dies die einzige Welt, die es gab und alles war so, wie es sein musste, und er nahm einfach zu viele Dinge oder die falschen wahr und bastelte sich daraus eine Verschwörungstheorie, die sein eigenes Versagen in einer normalen Zivilisation erklären und ihm damit das Leben erleichtern sollte? Möglich war’s.
Doch dann kamen wieder die Zufälle ins Spiel, oder „Zufälle“, wenn man ehrlich war, Dinge, die eher wieder den Schluss nahezulegen schienen, dass es verschiedene „Controller“ gab, die mehrere Personen aus seiner Wirklichkeit „spielten“ und die möglicherweise auch direkten Zugriff auf seine Gedanken hatten, die wiederum ihre Arbeit beeinflussten. Was zu extrem surrealen Ergebnissen führte. Und wieder schien es eher so zu sein, als würde „die Welt“ eher durch sein Unterbewusstsein beeinflusst, denn wenn er versuchte, es bewusst zu machen, klappte es nie.
Es war ihm erst nicht richtig aufgefallen, aber irgendwann hatte er es bemerkt. Manchmal, nicht immer. Er hörte sich aus dem ImpNetz eine Diskussion über Kunst an und dann geschah es. Auf seinem Bücherregal oder in einer Zeitschrift, sah er ein Wort, zum Beispiel
„Raumkreuzer“
und wenige Sekunden später hörte er in der Sendung jemanden etwas sagen wie:
„Und auf einem Raumkreuzer würde so etwas überhaupt nicht passen.“
Es mochte ein Zufall sein, wenn so etwas einmal vorkam, aber einmal dachte er, während er eine Sendung hörte
„Wollt ihr mich verarschen?“
und in der Sendung sagte jemand einen Moment später:
„Ich dachte echt, wollt ihr mich verarschen?“
Und es war mehr als einmal, dass etwas in dieser Art vorkam. Was das ganze dabei noch surrealer erscheinen ließ, als es ohnehin schon war, war die Tatsache, dass diese Sendungen bereits aufgezeichnet waren, wenn er sie sich zum Anhören aus dem ImpNetz herunter lud. Also wie sollte er die Sendung, die Sprecher, wen auch immer, beeinflussen, wenn alles bereits vorher aufgezeichnet worden war?
Oder war es das nicht? wäre die Frage, die irgendwie noch zwei Spuren alberner klang, als es seine gesamte Theorie ohnehin schon war. Denn wenn dies eine Phantasiewelt war, eine Simulation, dann war das, was er sich aus dem Netz herunter lud, vielleicht gar nicht aufgezeichnet, sondern wurde, während er sich die angebliche Aufnahme anhörte, erst von den entsprechenden Personen eingesprochen?
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, wenn er darüber nachdachte. Vielleicht waren das ja nur die Ausnahmen. Vielleicht wollte ihm Freund Schicksal damit nur eins auswischen. Ihn verunsichern. Denn das klang so albern, dass man, wenn man den Gedanken ernstlich verfolgte, sehr an sich zweifeln musste. Und doch war das genau das, was er machen würde, wenn er jemanden in seiner Situation verunsichern wollte. Die Filme über simulierte Welten, die die Möglichkeit, dass dies selbst eine war, allein durch ihre Existenz aushebeln sollten, eine „Beeinflussung“ von Sendungen, die bei klarem Verstand nicht einmal ansatzweise möglich war… all das würde auch er tun, um den Grundgedanken, den Zweifel eines Zweiflers zu diskreditieren. Und das Schöne war, so musste sich Freund Schicksal denken, dass man mit niemandem darüber reden konnte, ohne als komplett verrückt zu erscheinen. Es war ein perfektes System… wenn es denn eins war.
Adrian befand sich in einer Sackgasse. Gab es irgendwelche Beweise? Nein. Hinweise, die gab es. Mehr oder weniger. Wenn er an seine Jugend zurückdachte… Die Welt schien in allen Bereichen sehr ähnlich zu verlaufen. Die Frage war, ob das in diesem Maße realistisch war. Denn die gleichen Dinge konnte man auf Wirklichkeit und persönliche Entwicklung anwenden.
In seiner Jugend war die Welt einfacher gewesen, d.h. nicht nur die Welt an sich, sondern auch die Dinge in dieser Welt.
Sein Spielzeug. Die Fahrzeuge. Die Häuser.
Man konnte das noch auf Bildern und in Filmen aus dieser Zeit sehen. Alles war einfacher gehalten, hatte weniger Detailreichtum. Sein Spielzeug hatte klare Linien ohne viel Schnörkel. Ebenso die Fahrzeuge, die Gebäude, die Bilder in Comics. Heute war das anders.
Heute hatte die Welt an Details gewonnen. Spielzeuge, Fahrzeuge, Computerspiele, Comics verfügten über mehr Kleinigkeiten, winzige Details, die früher scheinbar nicht möglich gewesen waren. Prinzipiell war das natürlich nachvollziehbar, die Frage war jedoch: Warum hatte sich die Welt in dem gleichen Maße entwickelt wie er? Und zwar parallel zu ihm? Hätte er diese Dinge damals nur gröber wahrgenommen, wäre das eine Sache gewesen, aber die Bilder bewiesen, dass sie gröber waren.
Es war, wie gesagt, kein Beweis. Nur ein weiterer Puzzlestein in einer Phantasie über eine Phantasiewelt, in der er sich möglicherweise befand. Vielleicht war es auch nur genau das? Vielleicht lag sein Körper in einem Krankenhausbett und all das spielte sich nur in seiner Phantasie ab. Einer Phantasie, die ihn bei der Stange hielt, mit hin und wiederem Aufflackern von Hoffnung, aber ohne Möglichkeit auf das große Glück. Vielleicht passierte all das nur in seinem Kopf… und vielleicht würde sein Tod gleichzeitig in beiden Welten stattfinden?
Vielleicht war es aber auch dieser Gefängnisaufenthalt, mit dem er beinahe rechnete. Man hatte ihn von all seinen Erinnerungen befreit und in diese Welt gesteckt. Oder hatte man das nicht? Basierte diese Welt vielleicht auf der realen Welt und man hatte nur ein paar Details verändert? Oder was, wenn…
Was, wenn dies die beste aller Welten war? Was, wenn die Wirklichkeit, die wahre Realität, viel schlimmer war als die Unbequemlichkeiten, die er hier empfand? Was, wenn diese Welt im Vergleich zu der, aus der er wirklich stammte, so harmonisch war, dass man sich hierher begab, um Urlaub von der Wirklichkeit zu machen? Was, wenn die Realität so grausam, brutal und furchtbar war, dass er sich wünschen würde, wieder hierher zurückkehren zu dürfen, wenn er wieder dort war? Was, wenn dies keine Strafe, sondern eine Belohnung war? Es war eine merkwürdige Vorstellung – und keine, die einen wirklich glücklich stimmen sollte.
Für den Moment hielt er es aber mit der Theorie des Gefängnisses. Also bestand seine Lektion möglicherweise darin, seine Gewaltausbrüche unter Kontrolle zu bekommen. Dafür hatte er möglicherweise einen Weg gefunden. Seine Kunst. Sie gab ihm ein Ventil, durch das er seine Aggressionen ableiten konnte. Die Frage war, ob das schon reichte – oder ob er schlicht eine gewisse Zeit „abzusitzen“ hatte, bevor man ihn wieder aus diesem Gedankenknast herausließ. Vielleicht…
Ein weiterer Gedanke durchzuckte seinen Geist. Vielleicht war dies aber noch mit etwas anderem gekoppelt? Vielleicht war er in Wirklichkeit kein Mensch, vielleicht gehörte er einer anderen Spezies an, die die Menschen infiltrieren wollte und in diesem langwierigen und anstrengenden Programm wurde er quasi „zu einem Menschen ausgebildet“. Das wäre eine interessante Theorie – aber er hatte die Vermutung, dass man solche Programme auch effektiver gestalten konnte als das.
Natürlich gab es eine Möglichkeit, aber die war bestenfalls… unsicher. Er konnte sich das Leben nehmen. Dann würde er erfahren… was? Möglicherweise nichts. War dies das normale Leben und gab es nichts danach, wurde seine Existenz dadurch ausgelöscht und er war keinen Schritt weiter. War dies ein Gefängnis, würde man seinen Selbstmord vielleicht mit dem Tode bestrafen und das Ergebnis mochte dasselbe sein. Oder was, wenn er… bereits mehrere Male diesen Weg gegangen war? Was, wenn er schon etliche Male Selbstmord begangen hatte? Was, wenn er schon etliche Male bei Nacht aufgestanden und das Arschloch in der Wohnung unter ihm in den Tod geprügelt hatte? Was, wenn man nach diesen Aktionen nur ein bisschen „zurückgespult“ hatte, wie es altmodisch hieß, seine Erinnerung an den Vorgang löschte und alles von der Stelle davor wieder weiterlaufen ließ?
Adrian seufzte. Möglich war alles – und nichts. Das Geniale an dem Konstrukt war, dass es so verrückt klang, dass er in der Tat niemandem darüber berichten konnte. Es gab nur einen Weg, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, direkt weggesperrt zu werden, sollte ihn jemand ernst nehmen. Es gab einen Weg, aber er glaubte nicht, dass er ihm irgendwelche Antworten bringen würde. Er würde sein Leben leben müssen, soviel hielt er für sicher, und irgendwann, hoffentlich, würde er „aufwachen“ und feststellen, dass er eigentlich in einer besseren, schöneren, angenehmeren Welt lebte als in der, in der er die letzten Jahrzehnte verbracht hatte. Vielleicht würde dann auch sein Drang nachlassen, die Leute, die ihm dies antaten, Freund Schicksal, der ihm immer Steine in den Weg warf, für das zur Rechenschaft zu ziehen, was sie ihm angetan hatten – aber vielleicht gehörte das ja auch zum Rehabilitationsprozess im Gedankengefängnis? Irgendwann, dachte er, irgendwann…
Es sei denn. Vielleicht gab es noch einen anderen Weg hinaus! Vielleicht war der einzige Ausweg, neben dem Tod, seinen Bewachern, Freund Schicksal, zu zeigen, dass er eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wo er sich befand und wie „seine Umwelt mit ihm umging“. Er konnte das nicht tun, indem er es von den Dächern schrie, aber es gab einen anderen Weg, es ihnen mitzuteilen. Und dann, vielleicht, wenn er Glück hatte, würden sie ein Einsehen mit ihm haben und ihn aus dieser Welt herausholen.
Adrian setzte sich an den Computer und begann zu schreiben:
Das erste Mal, dass es Martin aufgefallen war, war während eines Sommers vor einigen Jahren gewesen. Zunächst hatte er sich nichts dabei gedacht, aber dann, als es sich in ähnlicher Weise wiederholt hatte, war es ihm wirklich bewusst geworden