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Rassismus nach Noten

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Vor langer Zeit, auf einem Planeten, der aus verständlichen Gründen ungenannt bleiben möchte, beschloss man, eine alte irdische Tradition wieder einzuführen: den Rassismus. Der war ein wenig in Vergessenheit geraten, weil all die Menschen, die von der Erde hinausgezogen waren ins All, dies getan hatten, um auf genau solche Dinge zu verzichten, doch wie es das Schicksal wollte, erlebte der Rassismus sein großes Comeback. Das hing mit einem Mann namens Sam Peck zusammen, der mit seinen Kollegen Tom Baum, Pam Hall und Mia Fong in einer Büroetage saß und sich über einen seiner Bekannten beschwerte:

„Dieser Arsch glaubt wirklich, er kann sich alles erlauben.“

„Arsch?“ wollte Baum wissen, obwohl er eine unbestimmte Ahnung hatte, von wem Peck da gerade sprach – weil er immer von ihm sprach, wenn er sich aufregte.

„Na dieser Aaronson“, zischte Peck und Pam und Mia nickten mitfühlend. Auch sie kannten die Geschichten – zur Genüge. Pam und Sam waren einmal ein Paar gewesen, aber jetzt war sie mit Otto Poe zusammen, der auch etwas weniger aufwieglerisch war als Sam Peck. „Die glauben wirklich, sich alles rausnehmen zu können“, wiederholte Peck seinen Gedanken. „Die glauben wirklich, ihnen gehört der ganze Planet.“

Mia, die glaubte, etwas nicht mitbekommen zu haben, fragte: „Die?“

„Die… die…“ Peck fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Die Antwort musste da sein. Es musste eine geben. Immerhin war dieser Aaronson nicht der einzige, der sich so verhielt. Es gab immer mehr als einen, das musste es einfach.

„Paul Ford ist auch so einer“, kam ihm Pam zu Hilfe. „Einer von… denen“, fügte sie in Ermangelung eines übergreifenden Begriffs oder Eigenschaft hinzu, auf die man „diese Leute“ reduzieren konnte, außer eben als „diese Leute“, aber das war dann auf Dauer doch etwas zu ungenau.

„Stella Beimer“, warf Mia in die Runde, eine Person, die sie nicht leiden konnte, die zwar keinerlei Ähnlichkeit mit Aaronson oder Ford hatte, aber die sie eben nicht mochte.

„Und John Harden“, nickte Tom. „John Harden“, wiederholte er dann langsam. Er war, wie sie alle, Mathematiker, und ihm schien gerade etwas aufgefallen zu sein. „Hank Aaronson, Paul Ford, Stella Beimer und John Harden“, murmelte er und das Lächeln der Erkenntnis erschein auf seinem Gesicht. Dann sah er von einer zum anderen. „Sam Peck, Pam Hall, Mia Fong, Tom Baum.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Wisst ihr, was die alle miteinander gemein haben – und was uns von denen unterscheidet?“

„Sie sind alle Arschlöcher?“ versuchte es Pam.

„Auch“, gab Tom zu, „aber das ist es nicht, was ich meine.“ Er strahlte seine Kollegen und gefühlten Mitunterdrückten an. „Fällt es euch denn nicht auf? Deren Namen? Und unsere?“

„Äh?“ war die einhellige Antwort seines Gesprächskreises.

„Sam, du hast dich immer gefragt, warum diese Leute glauben, sich so verhalten zu können, wie sie das tun. Und ich glaube, ich habe es gerade herausgefunden. Weil die sich für was Besseres halten.“

„Was besseres als wir?“

„Genau.“

„Und warum?“

„Weil sie alle gerade sind und wir die Ungeraden“, schloss Tom, verschränkte seine Hände vor der Brust und grinste, als würde das alles erklären. Was es offensichtlich nicht tat. Die anderen, alle fähige Rechenexperten, kamen da irgendwie nicht mit.

„Was genau meinst du?“ wollte Pam wissen, die ein wenig abgelenkt war mit der Entscheidung darüber, was sie heute Abend für sich und Otto zum Abendessen kochen sollte.

„Es sind…“

„Er meint die Anzahl der Buchstaben!“ strahlte nun auch Sam, dem gerade ein Licht aufgegangen war. „Du hast ja so recht! Diese verdammten…“

Mia und Pam sahen die beiden nur fragend an. Sie waren eigentlich damit zufrieden gewesen, sich über das unangenehme Verhalten dieser Leute aufzuregen, aber inzwischen schien man an einem Stempel zu basteln, den man ihnen aufdrücken wollte und sie schienen sich nicht sicher zu sein, ob sie wirklich so weit gehen wollten.

„Hank Aaronson, Paul Ford, Stella Beimer, John Harden“, wiederholte Sam nun das, was Ton eben gesagt hatte. „Alle gerade.“

„Gerade?“ fragte Mia.

„Eine gerade Anzahl von Buchstaben. Hank hat vier, Aaronson hat acht, zusammen sind das zwölf. Gerade Anzahl. Ebenso bei den anderen.“

„Und wir?“

„Wir sind ungerade, Schätzchen“, zischte er. „Pam hat drei, Hall hat vier, zusammen sieben. Das haben wir alle. Wir sind alle ungerade. Und deshalb sehen diese Arschlöcher auf uns herab und behandeln uns so, wie sie das tun. Weil sie glauben, dass sie was Besseres sind. Weil sie gerade sind!“ Sam klopfte Tom auf die Schulter. „Gut gemacht, Tom, du hast das Geheimnis gelöst.“

„Ja“, nickte Mia nachdenklich, „und jetzt?“

„Jetzt“, lächelte Sam, „werden wir diesen Leuten zeigen, dass wir das nicht mit uns machen lassen!“

Man hatte einen gemeinsamen Feind gefunden, und das war ein Schritt in die richtige Richtung. Also die falsche, streng genommen. Und es war schwierig gewesen, da man sich seit Verlassen der Erde von Dingen wie Nationalität und Rasse getrennt hatte. Die Geschlechter waren in Mann und Frau unterteilt, nicht in herrschend und unterdrückt. Hautfarben spielten keine Rolle, weil man sie wie die Namen wild miteinander gemischt hatte. Auf die Idee, sich nach Provinzen abzusondern, von „blöden Rheinländern“ oder „sturen Themserianern“ zu sprechen, war man zum Glück nie gekommen. Die Menschheit hatte es geschafft, „gleich“ zu werden. Bis zu jenem schicksalshaften Tag auf einem auf seiner Anonymität beharrenden Planeten, an dem man neue Wege fand, alte Idiotien durchzusetzen. Was man für so etwas zuförderst benötigte, war eine Sitzung. Also berief man eine ein.

Sam Peck begann zu wettern und man lauschte ihm, zunächst etwas amüsiert, dann eher schockiert. Nicht unbedingt darüber, dass er da gerade einen alten und sehr unschönen Weg betrat, sondern, dass er ja irgendwo recht hatte. Recht haben musste, denn sonst würde er so was ja wohl nicht sagen. Und mit etwas Mühe, bei einigen mit großer Anstrengung, konnte tatsächlich jeder aus seinem Bekanntenkreis einen oder eine mit geradem Namen ausmachen, der oder die irgendwie in die angesprochene Kategorie fiel, wenn auch nur ganz schwach. Damit war alles klar, Toms Rechung war aufgegangen, im wahrsten Sinne des Wortes: Sie, die Ungeraden, wurden von den Geraden schikaniert und unterdrückt. „Die hielten sich für was Besseres“ wäre der Slogan gewesen, den man auf eine Fahne gedruckt hätte, wäre diese Tradition nicht zum Glück ausgestorben geblieben. Es wurde zur Unterzeile jeder Mail, die die Ungeraden nun an ihre Gleichgesinnten und Leidensgenossen verschickten. Was in einer kleinen Kneipe begonnen hatte, zog nun seine Kreise um den gesamten Planeten. Zunächst unbemerkt von den Geraden, denn man wollte denen keine Möglichkeit geben, ihre Pläne zu vereiteln. Aber Pläne waren eine Sache. Zum Beispiel die, dass man noch keine hatte. Doch das war weit weniger schlimm als etwas anderes, das Sam Peck schnell aufgefallen war und das dringend geklärt und geändert werden musste. Es war bei ihrer dritten Sitzung gewesen – Tom hatte vorgeschlagen, alle geraden Sitzungen ausfallen zu lassen und sich nur zur ersten, dritten, fünften und so weiter zu treffen, was zwar total konsequent gewesen wäre, sie aber auch eine Menge Zeit gekostet hätte, wenn man ehrlich war. Also kippte man den Plan und traf sich zu jedem vereinbarten Zeitpunkt, aber nur an ungeraden Tagen und zu ungeraden Uhrzeiten. Dort war es gewesen, als Sam etwas bewusst wurde. Etwas Eminentes für ihre Ziele. Er ereiferte sich gerade: „Und wer hat nicht schon erlebt, dass die uns wie Dreck behandeln? Dass die uns die Freundin ausspannen? Oder den Arbeitsplatz wegnehmen? Dass die das tun, was sie uns verbieten?“

„Wer sind ‚die’?“ hatte ein Zwischenrufer, der offensichtlich zu spät gekommen war, weil er zu Zahlendrehern neigte und deshalb seinen Beruf als Mathematiker hatte aufgeben müssen, gefragt.

„Die Un-Ungeraden!“ rief Sam.

„Du meinst die Geraden!“ korrigierte der Zahlendreher.

Da war es Sam bewusst geworden. Der Schönheitsfehler, den er die ganze Zeit unter der Oberfläche gefühlt, den er aber nie hatte ausfindig machen können.

„Ha!“ schrie er. „Ist das so? Nun, was denkst du, wenn du ‚die Geraden’ hörst?“

„Nun…“

„Aufrichtigkeit? Geradlinigkeit? Vertrauenswürdigkeit?“

„Äh… ja?“

„Ganz genau, und das ist es, was sie uns glauben machen wollen. Deshalb sind sie ja auch die Geraden, dass man genau das von ihnen denkt. Aber sind sie so? In der Wirklichkeit? Ist einer von denen so?“

Ein unsicheres Gemurmel ging durch die Kneipe. Das konnte aber auch damit zu tun haben, dass der Kellner gerade hereingekommen war, um Bestellungen aufzunehmen. Sam musste sich keine Sorgen machen, er war einer von ihnen.

„Also wenn ihr bei ‚den Geraden’ an etwas Gutes denkt, dann ist das ein Begriff, den wir tunlichst vermeiden sollten, meine Freunde“, sprach Sam zu seinem Auditorium, „denn dann wird niemand das für sie empfinden, was wir für sie empfinden, dann wird sie jeder als die Guten sehen, obwohl wir alle wissen, dass dem nicht so ist. Und bei uns werden sie sagen: Das sind die Ungeraden, natürlich sind die so, die sind ja ungerade. Das steht für falsch, meine Freunde, und das ist es, was wir ändern müssen. Wir müssen den anderen, aber besonders unseren Brüdern und Schwestern in der Gesamtsumme, klar machen, dass wir, die Ungeraden, nicht die Unreinen sind, sondern die Guten, die, denen man vertrauen kann. Und deshalb müssen wir den Begriff ‚die Geraden’ vernichten und durch Missachtung, durch Nichtverwendung strafen. Von jetzt an soll nicht mehr von den ‚Geraden’ die Rede sein, sondern von den Un-Ungeraden. Ungerade ist das, was es erstrebenswert ist, zu sein, Un-Ungerade ist es nicht. Zum ersten Mal in der Geschichte, meine Freunde, ist eine doppelte Verneinung in der Tat eine doppelte Verneinung. Machen wir ihr alle Ehre, hier und heute.“

„Noch ein Bier?“ fragte der Ober.

„Ja“, nickte Sam, „und noch ein Bier!“

Schnell verbreitete es sich über den Planeten. Zunächst herrschte Verwirrung, Unglaube. Doch auch hier erwies es sich als erfolgreich, konsequent auf die Leute einzureden. Sam Peck tat dies inzwischen auf diversen Plattformen, virtuell wie naturell, online wie offline, wo er den Menschen erklärte, wer sie waren – und wer ihr „Feind“ war.

„Ungerade aller Städte vereinigt euch“ wurde kurz in Erwägung gezogen, aber schnell wieder verworfen. Es waren seine Reden, die die Leute überzeugten, die ihnen ihre Zweifel nahmen – und auch hier erwies sich, dass man, mit ein bisschen Anstrengung und gutem Willen, Menschen mit gerader oder vielmehr un-ungerader Buchstabenzahl genau die Eigenschaft zuordnen konnte, die es brauchte, um sie als schlechte Menschen abzustempeln. Das war der „Beweis“, der Beweis dafür, dass es richtig war, was Peck sagte, dass die anderen, die Un-Ungeraden die Bösen waren, die sie seit vielen Jahren unterdrückt und ausgenutzt hatten. Und wenn man mal genauer darüber nachdachte, besonders am Stammtisch nach dem siebten Bier, dann war da doch auch wirklich etwas dran.

Peck sprach erfolgreich und die Zahl seiner Anhänger wurde größer und größer. Es dauerte nur wenige Monate und die Bevölkerung des kleinen Planeten hatte sich in Ungerade und Un-Ungerade aufgeteilt.

„Aber wir sind doch alle gleich“, hatte Stuart Jones verzweifelt gesagt. „Es wäre nur noch absurder, wenn wir alle Klone wären!“

„Wie heißt dein Bruder, Stuart?“

„Joe“, gestand Stuart leise.

„Siehst du“, zischte Sam, „er ist keiner von uns!“

Joe Jones war ein Un-Ungerader.

„Habt ihr euch als Kinder gestritten?“

„Ja“, nickte Stuart.

„Hat er dich unterdrückt?“

„Er ist der ältere.“

„Da siehst du es?“ lachte Peck. „Warum seid ihr nicht in der Lage, das Offensichtliche zu sehen?“

Das Offensichtliche erwies sich jedoch als ein bisschen komplizierter, als es sich Sam Peck vorgestellt hatte. Zumindest, wenn man mal anfing, Dinge zu hinterfragen, was bei solchen Dingen eigentlich nie eine gute Idee ist, aber hin und wieder einfach mal passiert. Pam Hall kam mit einer berechtigten Angst zu ihm.

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, eröffnete sie.

„Worüber?“ fragte Sam mit einer Großzügigkeit, die ihm selbst zu Herzen ging.

„Ob wir…“

„Ob wir einen Fehler gemacht haben?“ lachte er. „Ob wir zu weit gehen?“

„Ob wir nur vom kompletten Namen ausgehen“, meinte sie unsicher.

Sein Blick zeigte Verwirrung.

„Wie meinst du das?“

„Nun, du bist Sam, ich bin Pam, da ist Tom und Mia…“

„Ja?“

„Bei uns ist die Ungeradheit schon im Vornamen. Aber was ist mit denjenigen von uns, die zwar im Herzen Ungerade sind, aber auf eine anderen Weise als du, Tom, Mia oder ich.“

„Du meinst… was meinst du?“

Er hatte es noch immer nicht ganz verstanden, aber das war streng genommen auch nicht seine Aufgabe, dafür hatte er Leute. Nur waren die gerade nicht da.

„Ich meine…“ Sie stockte. „Was ist mit Otto?“

„Otto?“

„Ja. Er ist mein Freund. Und er ist ein Ungerader, Otto Poe. Aber… er ist anders als wir. Er erhält seine Ungeradigkeit durch seinen Nachnamen, während wir sie durch unseren Vornamen erhalten.“ Sie seufzte. „Ich habe ein wenig Angst… dass er vielleicht weniger wert ist als wir.“

Sam nahm sie väterlich in den Arm und tröstete sie.

„Ich weiß genau, was du meinst“, sagte er sanft. Sie hatte da einen guten Punkt angesprochen. Gab es Ungerade erster und zweiter Klasse? Es gab immer die Gefahr, dass jemand eine solche Idee ausnutzte. „Wir sollten da kein Risiko eingehen“, meinte er und streichelte sie beruhigend. „Es besteht immer die Gefahr, dass Verräter unter uns sind und vielleicht hast du recht, vielleicht sind es genau diese Leute. Sei lieber vorsichtig. Hüte dich lieber vor solchen Menschen. Entscheide dich lieber für jemanden, bei dem du sicher sein kannst, dass es nicht später zu unschönen Überraschungen kommt.“

Und so trennte sie sich von Otto und Sam und Pam waren wieder ein Paar.

Doch das sollte nicht die einzige Komplikation sein – nur die einzige, die sich so sehr zu Sams Gunsten auswirkte. Denn nicht alle auf dem Planeten waren Mathematiker. Und auch, wenn sich eine Trennung in zwei Lager schneller ergab, als man angenommen hatte, so schien das doch mit gewissen Problemen verbunden.

„Was?“ fragte Peck, schon fast ein wenig angenervt davon, dass seine Idee immer wieder auf Stolpersteine stieß, die scheinbar nur er aus dem Weg räumen konnte.

„Viele Leute sind von unserem Weg überzeugt“, eröffnete Mia.

„Aber?“

„Die Leute haben Schwierigkeiten…“

„Womit?“

„Zu erkennen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Wer ein Un-Ungerader ist.“ Sie seufzte. „Jeder kann für sich selbst erkennen, zu welcher Seite er gehört, das ist nicht besonders schwierig.“

Und es hatte schon große Wirkungen gezeigt. Ehepaare hatten sich getrennt, Kinder waren verstoßen worden, es war zu Schlägereien mit Nachbarn gekommen, weil die „endlich ihr wahres Gesicht gezeigt hatten“, obwohl bei der Hälfte davon anschließend Entschuldigungen notwendig wurden, weil man sich bei ihnen schlicht und einfach – und im wahrsten Sinne des Wortes! – verrechnet hatte. Es konnte also jeder feststellen, wo er in dieser neuen Weltordnung stand – aber etwas anderes war schwieriger:

„Man sieht es den Leuten einfach nicht an!“ heulte Mia, die schon mehrmals mit ihren Verdächtigungen falsch gelegen und Nachbarn, Freunde und Mitarbeiter der Un-Ungeradheit bezichtigt hatte, besonders Leute, bei denen sie den Vor- oder den Nachnamen nicht kannte. „Es ist so schwierig!“ kreischte sie, nicht mehr Herr ihrer Gefühle.

„Namenschilder“, schlug Tom pragmatisch vor.

Das war…

„Nein.“

…bei näherer Betrachtung keine so gute Idee, da man ja dann erstmal den Namen lesen und dann rechnen und dann erst wilde Beleidigungen ausstoßen konnte. Das schien kein geeignetes System zu sein, um das zu erreichen, was sie hier erreichen wollten.

„Aber sie hat recht“, stimmte Tom zu, „ich meine, wir verachten diese Leute, wir hassen sie und wir wollen uns für das revanchieren, was sie uns angetan und wie sie uns behandelt haben. Aber das geht eben nicht, wenn wir sie einfach nicht erkennen. Ganz ehrlich, wenn wir so was wirklich anständig machen wollen, dann müssen wir diese Leute kenntlich machen, denn ohne irgendein Zeichen werden wir nie erkennen, wen wir verachten müssen und wen nicht! Wie sollen wir sie hassen, wenn wir nicht wissen, wer sie sind?“

Das war wirklich ein Problem!

Sam fand dafür eine Lösung. Die Un-Ungeraden sollten ein Zeichen tragen, ein Zeichen, das sie markierte, das jeden auf den ersten Blick erkennen ließ, dass man einen Un-Ungeraden vor sich hatte. Er lächelte. „Es ist alles so einfach“, sagte er… und sollte Unrecht behalten – und nicht Un-Unrecht!

Denn nach kurzen Protesten über das Überhaupt, die man mit Tiraden aus dem Mund des Sam niederzudreschen pflegte, kamen Proteste über das Einzige, was in einem solchen Fall vielleicht noch hilft, das Wie?

„Was?“ fragte Peck etwas genervt.

„Wie“, korrigierte Leo Hess. Er war mit Ella Lee neuer Bestandteil der Ungeraden geworden, wobei Lee die Un-Ungerader-Vorname-Quote erfüllte, die man eingeführt hatte, um einen großen Teil der Ungeraden nicht zu verprellen. „Wir sind alle Ungerade, egal ob im Vor- oder im Nachnamen!“ hatten sie skandiert und Peck hatte das nicht ignorieren können. Immerhin hatte ihm Tom in einer eiligst einberufenen Sitzung erklärt, dass auch er ein Un-Ungerader hätte werden können, hätte er zum Beispiel eine Un-Ungerade-Vornamige geheiratet, zum Beispiel Ella, dann wäre er jetzt Sam Lee und damit ein Un-Ungerader, während ein Un-Ungerade-Vornamiger durch die Heirat mit einer normalen Ungeradigen ebenfalls zum Un-Ungeraden werden konnte, zum Beispiel wenn Ella Sam heiratete und seinen Namen annahm, wodurch aus ihr Ella Peck werden würde. Es war kompliziert… und es wurde gerade noch komplizierter.

Was?“ wiederholte Sam ungläubig, aber diesmal, nachdem man ihm alles erzählt hatte. Zweimal!

Folgendes Problem war aufgetreten:

„Das ist Stefanie Lau“, erklärte Hess und deutete auf eine junge Frau, die schüchtern winkte.

Sam ging das im Kopf schnell durch.

„Ja, eine von uns“, sagte er. „Und?“

„Nun“, Hess trat von einem Bein aufs andere, „das ist nicht ganz so einfach.“

„Warum nicht?“

„Weil es so ne und so ne gibt“, meinte er leichthin, was nicht unbedingt förderlich war.

„So ne und so ne was?“

„Anhänger des ph“, seufzte Hess.

Tatsächlich hatte sich im Laufe der Zeit auf dem kleinen Planeten eine kleine Gruppe von Leuten gebildet, die bei ihrer Sprache eine altertümliche Variante vorzogen und sie auch konsequent benutzten. So wurde in manchen Fällen das F durch das althergebrachte PH ersetzt. Sie nannten sich „Die Anhänger des PH“ und waren ein „eingetragener Pherein“, was sie dem Beamten, der das als Scherz gemeint hatte, noch heute übel nahmen.

„Für manche ist sie Stephanie Lau“, sagte Hess, „und damit eine Un-Ungerade.“

„Man nennt mich auch Steffi“, warf sie ein.

„Dann bist du wieder eine von uns.“

Sam wollte vorschlagen, dass sie ihren Namen in Steffi ändern ließ, aber ihm fiel ein, dass einer der ersten Schritte, die sie eingeleitet hatten, ein Verbot von Namensänderungen gewesen war. Jeder hatte seinen Namen und damit stand fest, wer oder vielmehr was er war.

„Wer ist das?“

„H.G. Wells.“

„Oh!“ seufzte Peck. Ihm deuchte, dass das kompliziert werden konnte. Wer hätte auch daran gedacht, dass Abkürzungen und Mittelnamen plötzlich eine so große Rolle spielen könnten? „Einer von uns… nehm ich an?!“

„Ja… und nein.“

Wie er erwartet hatte.

„Als H.G. Wells, benannt nach dem großen Autor, ist er natürlich einer von uns.“

„Und als seine Großmutter ist er es nicht?“

„Er ist es nicht, wenn er seinen vollen Namen benutzt, Herbert George Wells. Dann ist er einer von denen.“

Es war zum Kotzen! dachte Peck. Dabei war alles so einfach, wäre, könnte sein… Mussten denn die Leute alles hinterfragen? Mussten sie denn alles zu genau nehmen?

„Ich fürchte, es zählt der volle Name“, seufzte er. „Nächster.“

„Arthur König.“

„Da seh ich kein Problem…“

„Wie Sie wissen verfügt nicht jeder im Imperium, nicht einmal jeder auf unserem Planeten, über Umlaute.“

„Über was?“

„Umlaute. Ä, ö, ü.“

„Nicht?“

„Nein, Sir.“

„Das bedeutet… was?“

„Dass er in manchen Teilen des Landes Arthur König ist und in anderen Arthur Koenig…“

„Und damit einer von denen.“

„Ganz genau.“

„Eigentlich nennt mich jeder Art.“

„Art König?“

„Art Koenig.“

Der Laut, der aus seinem Mund drang, war schwerlich als Wort zu identifizieren, eher als ein Ausdruck der Abscheu. Man war nicht sicher ob vor dem genannten Namen oder vor der Situation, die er geschaffen hatte.

„Okay, und wer ist der nächste?“

„Björn Stefan Börnsen.“

Das war der Zeitpunkt, an dem Sam Peck die Sitzung für diesen Tag abbrach und sich einer anderen Form von Zahlen zuwandte, Promille. Er musste sich eingestehen, dass die Idee des Rassismus, mochte sie auch noch so gut sein, leider gescheitert war. All die schönen Dinge, die er geplant hatte, Ausgrenzungen, Arbeitslager, möglicherweise die komplette Auslöschung der Un-Ungeraden, würden nun statt Un-Unerfüllt schlicht unerfüllt bleiben. Allein schon die Zeichen, mit denen er die Un-Ungeraden kenntlich machen wollte. Er hatte Verträge gehabt, für Fabriken, die diese Zeichen produzieren sollten – und viele dieser Fabriken gehörten Un-Ungeraden, die nur zu gerne bereit waren, am Schmach ihrer eigenen Buchstabilität zu verdienen. Damit hätte er sie noch einmal bloßstellen, sie noch einmal als das entlarven können, was sie waren. Doch all das wurde nun durch einfache Fehler im System zunichte gemacht. Ein einziger Buchstabe konnte über die Zukunft eines Menschen entscheiden, das hatte er gelernt, das war der Ausgangspunkt, der Grundgedanke ihrer Idee gewesen. Und nun wurde alles durch genau diesen einfachen Buchstaben komplett zerstört. Sein ganzes Lebenswerk war dahin.

Seine Anhänger, seine an seinen Lippenhänger, sie alle sahen zu ihm auf und ihn aufmerksam an. Er hatte ihnen etwas zu verkünden, er, der große Schöpfer des… ach, sie hatten noch nichtmal einen passenden Namen für ihre Form des Rassismus ausgewählt, hatten keine Symbole, Flaggen, markige Sprüche, nichts dergleichen. Sie waren auf ganzer Linie gescheitert, das musste er sich jetzt eingestehen. Die Grundidee war vielleicht richtig gewesen, aber das Material mit dem er arbeitete, dieses verdammte Alphabet, das hatte ihnen letztendlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vielleicht, wenn sie chinesische Schriftzeichen zugrunde gelegt hätten, oder japanische, vielleicht hätten sie dann eine Chance gehabt. Aber gab es dort so etwas wie gerade und ungerade Namen? Nun, er würde sich damit auseinandersetzen und er würde es herausfinden. Und wenn es das nicht gab, dann gab es vielleicht etwas anderes, woran man einen Unterschied festmachen konnte. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Ja, er würde forschen und er würde diesen einen, feinen Unterschied finden und dann würde er zurückkehren und dann würden sie seine Pläne endlich Wirklichkeit werden lassen. Denn eins war sicher: Rassismus würde seinen Weg finden, immer. Und diese Erkenntnis machte ihn glücklich… doch zum Glück für den Rest der Galaxie nahm er sie mit ins Grab, weil er wenig später bei einem Medikament die falsche Anzahl an Pillen nahm. Wie sich herausstellte, und wie er eigentlich hätte wissen sollen, waren nicht nur Buchstaben wichtig – die richtigen Zahlen waren es auch!

Abseits des Imperiums

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