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Herzlichen Glückwunsch zum Todestag
ОглавлениеMarnie küsste ihn auf die Wange.
„Der wievielte ist es noch mal?“ fragte sie.
„Mein 17.“, murrte Frank. „Oder ist es mein 16.?“
„Nein, wir haben letztes Jahr deinen 18. gefeiert, also ist heute dein 17.!“ Sie strahlte. „Du hast also noch ein Jahr mehr auf dem Buckel!“
„Na, wie ich mich da freue“, murmelte er. Die Kerzen auf der Torte stimmten nicht mit der Zahl seines Jahrestags überein, aber das störte ihn nicht weiter. Was ihn vielmehr störte war… Ja, was eigentlich?
In seiner Kindheit hatte er von einem merkwürdigen Brauch gehört, der in vielen Teilen des Imperiums noch immer praktiziert wurde und der aus der Frühgeschichte der Menschheit zu stammen schien. Und der, streng genommen, für ihn nie wirklich Sinn ergeben hatte. Da feierte man nämlich seinen „Geburtstag“, also den Tag, an dem man geboren worden war. Völliger Quatsch, hatte er schon als Kind gedacht, als er davon gehört hatte. Wo lag denn da der Sinn? Und vor allen Dingen, was konnte man denn dafür? Als hätte man selbst einen Beitrag dazu geleistet, geboren zu werden. Gut, an dem, was sie hier auf Oxford feierten, hatte man eigentlich auch keinen großen Anteil, aber irgendwie schien es doch vernünftiger zu sein, da es sich dabei immerhin um die Person drehte, um die es auch ging. Anders als bei diesem merkwürdigen Geburtstagsritual, denn da sollte man doch streng genommen nicht das Kind feiern, sondern die Mutter, die dieses Kind zur Welt gebracht hatte.
Möglicherweise war das der Grund gewesen, dass man, als man sich auf Oxford niederließ und eine Kolonie gründete, mit der Tradition brach und eine neue einführte. Da Oxford nach irgendeiner Schulstadt oder etwas ähnlichem benannt war, die Meinungen dazu gingen ein bisschen auseinander, da das Wissen über die Erde im Laufe des Imperiums bestenfalls schwammig geworden war, handelte es sich also um einen kleinen Außenposten, auf dem sich eine Vielzahl Wissenschaftler niedergelassen hatte. Und eine der Hauptrichtungen, die man hier verfolgte, war die Genetik. Die komplette Biologie des Menschen. Medizin, Vererbung, das ganze Programm. Man hatte mehr Geheimnisse über den menschlichen Körper entschlüsselt, als einem lieb sein konnte – und man hatte einen Weg gefunden, bestimmte Entwicklungen vorauszusagen. Oder eher vorauszuberechnen. Mit haargenauen Ergebnissen. Es gab Völker, zum Beispiel die immer ein wenig aufdringlich erscheinenden Schto, die den Oxforderianern unterstellten, sie hätten statt Biologie die Zeit studiert und heimlich eine Zeitmaschine entwickelt, die es ihnen ermöglichte, ihre „genauen Berechnungen“ zu machen. Doch so war es, ein wenig zum Unmut der Oxforderianer, die gerne einen Weg gefunden hätten, die Zeitmauer zu durchbrechen oder vielmehr einzureißen und sich damit neue Felder zu eröffnen, leider nicht. Sie waren hervorragende Wissenschaftler, aber eben nur Biologen und Genetiker. Und so war alles, was sie vollbrachten, eine Art genaue Karte eines menschlichen Lebens zu zeichnen. Nicht, welche Berufslaufbahn die betreffende Person einschlagen oder wen sie heiraten würde, aber doch, wann genau sie welche Krankheiten bekommen – und wann exakt sie sterben würde!
Am Anfang war man sich noch nicht ganz sicher gewesen. Hatte man wirklich das genaue Todesdatum des ersten Patienten bestimmt? Es schien so… unwahrscheinlich. Als gäbe es da nicht noch eine Menge anderer Faktoren. Wie zum Beispiel Krieg oder Streitereien, Ansteckung mit außerirdischen Geschlechtskrankheiten. Es gab immer Dinge, die einem die Statistik versauten. Doch nicht so auf Oxford. Der Planet lag ein wenig abgelegen, so wie eigentlich fast jeder Planet ein wenig abgelegen lag. Rege Zentren des Lebens, wo sich innerhalb weniger Lichtjahre gleich mehrere Planeten, die Leben beherbergen konnten, anhäuften, gab es nur wenige in der Galaxis. So musste man also immer Zeit investieren, selbst um seinen nächsten Nachbarn zu besuchen, und wenn das so war, überlegte man es sich zweimal, ob man ihm diesen Besuch auch wirklich abstatten sollte. So lag Oxford in der Ganges Provinz des Universums, der nächstgelegene Nachbar war ein Landwirtschaftsplanet mit kleiner Bevölkerung und wenig Reisedrang, dann gab es noch einen Schürfplaneten, auf dem man Metalle abbaute, um sie in die riesigen Schiffswerften von Dol Gulmur zu verschiffen und bis zur Hauptstadt der Provinz war es etwa 40 Lichtjahre hin, also auch da bestand wenig Aussicht auf einen Regen Verkehr. Das ermöglichte es Oxford, im Laufe der Jahre zu einem relativ in sich geschlossenen System zu werden, mit einer übersichtlichen Bevölkerung und wenig Einflüssen von außen. Was es den Wissenschaftlern wiederum ermöglichte, ebendiese ausbleibenden Einflüsse auszuschließen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass ihre Ergebnisse vielleicht gar nicht so falsch waren.
Natürlich war Geduld einer der Hauptfaktoren, die zur Untermauerung dieser Theorie notwendig war. Aber die hatte man, und so sollte Dr. Wladimir Heinlein-Chow nie erfahren, dass er recht gehabt hatte – oder, er erfuhr es gewissermaßen „zwischen den Zeilen“. Als er auf seinem Sterbebett lag, um genau zu sein. Und zwar an dem Tag, für den er seinen Tod berechnet hatte. „Man wird mir nachsagen, ich habe Selbstmord begangen, um meine Theorie zu beweisen“, war der letzte Satz, den er hauchte, bevor er mit einem befriedigten Lächeln aus dieser Welt schritt. Womit er nicht ganz unrecht hatte, aber ein Team von Gerichtsmedizinern konnte keine Hilfsmittel in seinem Körper finden, die für den Tod verantwortlich gewesen sein könnten. Heinlein-Chow war eines natürlichen Todes gestorben – an genau dem Tag, für den er diesen Tod vorausgesagt hatte.
Das sollte auch noch für eine ganze Menge anderer Leute zutreffen, deren Tod der Doktor berechnet hatte. Sie alle starben eines natürlichen Todes – und sie alle starben zu dem vorherberechneten Zeitpunkt. Es sollte noch drei Jahrzehnte dauern, bis man sich sicher war – aber dann war man sich auch wirklich sicher. Sie hatten ein System gefunden, den biologisch-medizinischen Verlauf eines menschlichen Lebens zu berechnen und den Tod eines jeden Menschen auf den Tag genau festzulegen. Die Korken knallten so lange, bis man sich nach einer kurzen Euphorie bewusst wurde, was das bedeutete. Oder sich vielmehr bewusst wurde, dass man sich nicht bewusst war, was das bedeutete. Also wurde, wie es sich gehörte, umgehend eine Art Ethikkommission ins Leben gerufen – deren Haltbarkeit aber genauso beschränkt war wie ein menschliches Leben. Nur eben weit kürzer. Bevor man sich lang und breit die Köpfe heiß oder leer diskutierte, kam man zu dem Punkt, dass es eigentlich nur zwei Wege gab: Ja oder Nein. Sollte man das Wissen, das man über die Laufzeit eines menschlichen Lebens hatte, mit dieser Person teilen oder nicht?
Man vertagte sich für ein paar Jahre, um eine Feldstudie durchzuführen, in der Freiwillige ihr Sterbedatum erfuhren. Denn, so sagte die Wissenschaft, oder sonst wer, man konnte nur dann etwas verändern, wenn man wusste, dass man etwas verändern musste – und besser noch, was man verändern musste. Streng genommen wusste man aber beides nicht ganz so genau. Die Todesursachen, die man vorherberechnet hatte, waren allesamt nicht heilbar – und die Krankheiten, die heilbar waren, waren von dem Programm von vornherein als Todesursachen ausgeschlossen worden. Trotzdem wollte man „der freien Entscheidung des Menschen“ eine Chance geben, sich durchzusetzen. Wenn man wusste, dass man sterben würde, so die Theorie, würde man wahrscheinlich etwas dagegen unternehmen wollen. Gesünder leben, zum Beispiel. Weniger trinken, weniger rauchen, weniger Geschlechtsverkehr, oder nur mit Arten, die man persönlich kannte. Man beobachtete… und wurde enttäuscht. Selbst die, die meinten, ihren Lebensstil ändern zu müssen, konnten dadurch keine Veränderung erreichen. Man hatte, so schien es, nicht nur eine Prädisposition zu sterben, man starb einfach, so oder so, was auch immer man dagegen zu tun versuchte.
Die Ethikkommission erwog noch kurz, an einem sonnigen Nachmittag, kurz bevor man ins Wochenende aufbrach, um genau zu sein, ob man den Menschen die Wahl lassen sollte, über den Zeitpunkt ihres Ablebens zu wissen oder nicht, aber das war der Zeitpunkt, an dem der Vertreter der Vermarktungsabteilung des Planeten in die Runde warf, dass durch den Wegfall eines „Geburtstags“ auf Oxford ein enormes Potential an marktwirtschaftlicher Nutzung ausgerottet worden war und er stellte ihnen die Wahl, entweder per Dekret den Valentinstag zum Nationalfeiertag zu machen oder mit dem neu erworbenen Wissen ein neues, marktwirtschaftlich vielversprechendes Fest einzuführen. Da man schnell ins Wochenende wollte und es niemandem daran gelegen war, seiner oder ihrer Angetrauten ständig irgendwelchen Firlefanz als „Beweis der Liebe“ kaufen zu müssen, entschied man sich kurzerhand für letzteres und so wurde Oxford der erste – und einzige! – Planet, auf dem sich die Leute „einen schönen Todestag“ wünschten.
„Du siehst so bedrückt aus“, meinte Marnie.
„Ich mag halt keine Feiern. Ich bin in einem Alter… wo mir das nicht mehr so bekommt.“ Was, streng genommen, nur die halbe Wahrheit war. Es hing auch ein wenig damit zusammen, wie er feierte.
„Niemand hat doch im hohen Alter mehr Lust, seinen Geburtstag zu feiern“, hatte damals der Leiter des Komitees für Irgendwas gesagt, das man ins Leben gerufen hatte, um Leuten wie ihm etwas zu sagen zu geben, auch wenn sie keinerlei wissenschaftliches Talent hatten und aus irgendwelchen Gründen nicht in den Senat geschickt werden konnten. Auch für solche Leute musste es Aufgaben geben, hatte man beschlossen, selbst – oder gerade – wenn diese absurd und nichtig waren. Das Komitee für Irgendwas war ins Leben gerufen worden und sein Name hätte kaum treffender gewählt sein können. Außer vielleicht mit „Komitee für Nichtigkeit“, aber das hätte dann wohl selbst der oberflächlichste Politiker durchschaut. Und doch hatte der Leiter des Komitees an diesem Tag ausnahmsweise mal recht, denn wie ein Besuch auf anderen Welten des Imperiums, auf denen man den traditionellen Geburtstag feierte, zeigte, ging die Lust am Feiern in der Tat mit dem Alter ein wenig verloren. Es war nur ein weiteres Jahr, das man hinter sich gebracht hatte und die Zeiten, in denen man an einem solchen Tag auf den Putz gehauen hatte, waren lange vorbei. Die Freude, die kindliche Freude, war verloren gegangen. Außerdem hatte man festgestellt, dass Frauen das Altern schwerer aufnahmen als Männer und wenn es ein Medikament gegeben hätte, das sie bei einem bestimmten Alter hätte stehen lassen können, viele hätten es genommen. Die Abschaffung des Alterns in dem Sinne war also durchaus etwas, das der Bevölkerung von Oxford entgegenkam. Für die Akten musste aber das Geburtsdatum aufgenommen werden, da die Zentrale Bürokratiestelle des Imperiums sicher erstaunt ihre metaphorische Braue gehoben hätte, wenn Oxford ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch avisierte Sterbedaten eingereicht hätte. Selbst mit einer Information, die gleichzeitig Geburts- und zukünftiges Sterbedatum enthielt, tat man sich schwer und so hielt man nach kurzem Zwiegespräch letzteres schlicht zurück.
Das System ließe sich nicht auf das ganze Imperium anwenden, hatte man, nach eingehender Untersuchung der durchaus interessanten Daten, gemeint. Und zu recht. Denn ein Pilot auf einem Jägerträger mochte bei einem Einsatz einen Tod finden, den seine biologische Uhr nicht angezeigt hatte. Es war, da war man sich einig, etwas, das nur in einem „überschaubar kleinen und geschlossenen Ökosystem“, wie es Oxford war, wirklich funktionieren konnte. Und das tat es erschreckend gut. Denn, was sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisierte, war: Die Analyse um- und erfasste sogar psychische Veranlagungen. Darunter auch die Arten von Labilität, die zum Selbstmord führen konnten. Und das in manchen Fällen auch taten. Zum genau vorherberechneten Zeitpunkt. Spätestens ab da war klar, dass sich das System nicht irrte und dass man sich auf den Zeitpunkt seines Todes verlassen konnte. Der Tod war endlich ein zuverlässiger Begleiter geworden, der nicht überraschend zur Tür hereinschneite, sondern nach langer Vorankündigung pünktlich dann eintraf, wenn man ihn erwartete.
Natürlich gab es ein paar Leute, die anstrebten, mit diesem Wissen Schindluder zu treiben. Oder sie versuchten es zumindest. Aber wie kann man jemanden erschrecken, der sein genaues Todesdatum kennt? Indem man es vorverlegt? Kaum. Konnte man so jemanden erpressen? Auch das gestaltete sich schwierig. Man konnte ihm bestenfalls androhen, ihn vor seiner Zeit zu ermorden – doch auch das blieb aus, da die Kriminalität im Imperium im Allgemeinen und auf Oxford im Besonderen seit dem Verlassen der Erde doch sehr stark nachgelassen hatte. Die weitestmögliche Abschaffung von Geld tat ihren Beitrag dazu.
„Dein Alter?“ fragte Marnie. „Was für ein Alter?“
Das Alter spielte seit der Umkehrung der Feierlichkeiten eine weit untergeordnete Rolle. Man zählte nicht mehr in der Zeit, die man hinter sich hatte, sondern in der, die noch vor einem lag. Für Kleinkinder war das zunächst schwer verständlich – und tragisch für Kinder, die keine große Lebenserwartung hatten. Für die hatte man schnell einen anderen Weg gefunden. Kinder, von denen man wusste, dass sie nur 8 oder 12 Jahre alt werden würden, bekamen ein Phantasiedatum in weiter Zukunft, um sie vor der Angst vor dem eigenen Tod zu schützen. Man machte ihnen vor, dass sie älter werden würden. Es war eine Lüge, aber sie hatte sich für alle Beteiligten als vernünftig herausgestellt. Ein gesundes Kind dagegen, das seinen „83.“ feierte, freute sich einfach über Feier und Geschenke, bis es dann später, wenn es alt genug war, erfuhr, dass das die Anzahl der Jahre war, die ihm noch bleiben würden.
Frank dachte nach. Er wusste, wie er alt er war. Oder er konnte es zumindest ausrechnen. Er wusste, wann er geboren war, also… aber eigentlich spielte das keine Rolle. Wichtig war, wie lange ihm noch blieb. Und das waren 17 Jahre, auf den Tag genau. 17 Jahre, in denen er machen konnte, was er wollte.
Ein Grinsen umspielte seine Lippen. Es hatte durchaus auch eine Menge Vorteile, wenn man wusste, wie viel Zeit einem noch blieb. Man konnte sein Leben völlig anders gestalten. Der Tod war keine Unbekannte mehr, er war fester Bestandteil des Lebens, ein Zielpunkt, auf den man hinarbeiten konnte. Es gab keinen Grund mehr, sich jahrelang mit irgendwas herumzuschlagen, in dem Unwissen, wann das alles endlich vorbei sein würde. Man wusste, wann es vorbei sein würde. Und wenn man den Rest seines Lebens in Saus und Braus verbringen wollte, dann konnte man das tun, denn man wusste, wie lange der Spaß noch anhalten würde.
Auch die Marktwirtschafstabteilung hatte die Veränderung auf Oxford mit Freude aufgenommen. Ihr Plan, wenn sie denn einen gehabt hatte, war aufgegangen. Die Menschen feierten wieder – und nicht zu knapp. Was früher „mit steigendem Alter“ geheißen hätte, war heute ein „mit nahendem Tod“, oder, wie es in einer alten, leider nicht vergessenen Sprachform hieß: „Je oller je doller.“ Was bedeutete, dass man als junger Mensch stark feierte, weil man eben ein junger Mensch war und die feierten halt gerne – aber auch, je näher das Ende rückte. Hatte man auf anderen Welten des Imperiums mit steigendem Alter keine Lust mehr, seinen Jahrestag zu feiern, so war das auf Oxford anders. Man wusste, wie wenig Zeit einem noch blieb, also wollte man die voll auskosten. Je älter man wurde, und je näher man seinem Abtrittstermin kam, umso wilder wurden die Feiern. Fast so, als gäbe es kein morgen – was ja nur bedingt richtig war. Man wollte das Leben in vollen Zügen genießen – oder in den letzten Zügen. Fast schien es so, als gingen die Menschen auf Oxford leichter in den Tod als auf anderen Planeten, denn nur wenige verbrachten ihre letzten Stunden auf dem Sterbebett oder in irgendeinem Krankenhaus, viele gingen mit einem guten Gefühl – und einem relativ hohen Blutalkoholspiegel. Das Leben, so sagte man, wurde dadurch wertvoll, dass es endlich war – aber es wurde für die meisten leichter dadurch, dass sie genau wussten, wann dieses Ende kam.
Frank war eine der wenigen Ausnahmen. Er hatte als Kind die falschen Bücher gelesen und empfand den Tod als eine Gefahr. Während sich die anderen an ihrem Todestag ihres Lebens freuten, sah er nur die wenige Zeit, die ihm noch blieb. Es war eine tickende Uhr, deren Ticken er nicht aufhalten konnte. Er steckte in einer Falle, ohne Ausweg. Der Sensenmann wusste, wann er ihn abholen sollte und er würde da sein, soviel stand fest. Nichts konnte ihn aufhalten, nichts würde ihn aufhalten. Worin andere eine Chance sahen, war für Frank ein Gefängnis, ein Weg des Unausweichlichen, ein Schicksal, dem er nicht entkommen konnte.
„Wollen wir nun feiern oder nicht?“ wollte Marnie wissen und wedelte mit der Flasche.
Er hätte eine Antwort auf diese Frage gehabt. Oder… eine darauf, wie es war, dem Schicksal eins auszuwischen. Denn es war nicht ganz ohne Grund, dass er der Sache mit dem sicheren Tod ein wenig kritisch gegenüberstand. Sie hatten einen guten Freund gehabt, Ingmar Pudelowski. Der war ein fröhlicher Knabe gewesen. Hatte das Leben geliebt. Und hatte sich einen Scheiß um sein Todesdatum geschert.
„Ist doch super“, hatte er gesagt und breit gegrinst, „das macht das Leben doch viel einfacher!“
„Wieso?“ hatte Frank gefragt.
„Weil dir doch alles egal sein kann“, kam es grinsend zurück. „Okay, du solltest kein Russisch Roulette spielen oder so was, denn es ist ja nicht so, dass das Ende des Lebens mit einer Zeitmaschine bestimmt wurde… oder?“
„Nein, wurde es nicht.“
„Na also“, hatte er fröhlich gerufen, „dann ist das einzige, was wir nicht tun dürfen, irgendwelchen Scheiß zu machen, den wir nicht kontrollieren können. Ich meine, wenn ich dank einer Zeitmaschine wüsste, dass ich erst in 43 Jahren sterben würde“, Ingmar hatte gerade seinen 43. gefeiert, er hatte also noch eine Menge vor sich, „dann könnte ich mir die Pistole an den Kopf setzen oder ohne Raumanzug aus dem Orbit springen, und wir alle würden wissen, dass mir das nichts anhaben könnte.“ Er tippte sich an die Stirn, eine Geste, die er mal in einem alten Film gesehen hatte. „Aber ich bin ja nicht blöd. Also mach ich son Scheiß natürlich nicht. Aber alles andere“, er griff nach einer Flasche, „kann mir nichts anhaben! Und darauf trink ich.“
Sie stießen miteinander an und Ingmar verbrachte drei Jahre in einem alkoholisierten Rausch, bis er unerwartet eine Treppe herunterfiel. Er fiel in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Man hielt seinen Körper noch 40 Jahre bis zu seinem Todestag am Leben, so sah es das Gesetz vor.
„Ob er sein Leben so genießt?“ murmelte Frank.
Marnie seufzte nur. Immer an Franks Todestag kam dasselbe Thema auf. Geistig tot, aber künstlich am Leben erhalten. Ihr System war eben nicht perfekt. Obwohl es, wie sie fand, so manchen Vorteil bot. Besonders für Liebende. Es gab sogar die entsprechenden Kennenlernpartys dafür. Dort lernte man nicht Leute im gleichen Alter wie man selbst war kennen, sondern Leute mit dem gleichen Todesjahr. Und wenn man sich in einen davon verliebte, dann wusste man, dass man wahrscheinlich bis ans Ende zusammen sein würde, weil man im gleichen Jahr starb. Natürlich hatte das auch schon zu sehr merkwürdigen Paarungen geführt, wenn der Bräutigam 40 Jahre älter war als die Braut – aber andererseits konnte man ihr dann nicht vorwerfen, dass sie ihn nur wegen seines Geldes heiratete. Wenn Geld in dieser Gesellschaft noch eine Rolle gespielt hätte.
Sie schniefte. Dies war auch immer einer der beiden Tage im Jahr, wenn sie sich eingestand, dass sie Frank etwas vorgelogen hatte. Sie hatte ihm immer das Gefühl gegeben, dass er weniger Jahre vor sich hatte als sie. Doch das stimmte nicht. Sie hatte über ihr Todesdatum gelogen. Doch irgendwann würde ihn ein weiterer Schlag treffen, der noch mehr zu seiner Deprimiertheit beitragen würde. Sie hatte ihm gesagt, sie wäre 21, aber in Wirklichkeit war sie 5. Sie würde also 12 Jahre vor ihm sterben – und sie wusste, dass ihm das sehr zu schaffen machen würde. Aber noch mehr würde es ihm zu schaffen machen, wenn sie es ihm früher gestehen und er die nächsten fünf Jahre daran knabbern musste. Ach, dachte sie manchmal, wenn es doch eine Medizin dagegen geben würde. Aber die gab es nicht. Es gab keine Heilung für den Tod. Er war die eine Konstante im Universum, die für alle galt.
„Na gut, feiern wir“, sagte Frank leise. Warum auch nicht? Er hatte noch 17 Jahre, die der Tod nicht an seine Tür klopfen würde, und wenn er sich nicht so blöde anstellen würde wie Ingmar, dann konnte er diese Zeit vielleicht auch genießen. Immerhin… Er sah Marnie an. Ja, immerhin hatte er eine schöne Frau an seiner Seite. Und er würde sie bis ans Ende lieben. Bis an sein Ende. Er würde sie nie verlieren, musste sich nie mit ihrem Verlust auseinandersetzen, musste sie nie betrauern. Es würde ihn zerstören, sie zu verlieren, das wusste er, denn sie war das einzige, das ihm ein bisschen Freude in sein Leben brachte – und Motivation, zu leben. Ohne sie hätte das alles noch weniger Sinn, als es ohnehin zu haben schien. Ohne sie… gab es keinen Grund mehr, zu leben.
Sie tat ihm ein bisschen leid, dass er vor ihr sterben und sie diesen Gefühlen aussetzen musste, aber vielleicht konnte er sie ja in 15 Jahren so schlecht behandeln, dass sie ihn hasste und sich von ihm trennte und dann konnte er in dem guten Gefühl sterben, ihr nicht weh getan zu haben. Zumindest nicht mit seinem Tod. Ja, gestand er sich ein, das war eine gute Idee. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Das war es, das hatte er gebraucht: Ein Weg, wie er, einen Weg, warum er die nächsten 17 Jahre genießen konnte. Nun hatte er ihn gefunden. Das Lächeln wurde langsam breiter und Marnie sah ihn irritiert an. Ja, dachte er, das war der Knackpunkt gewesen, das Hindernis, aber jetzt hatte er das Problem gelöst. Er hatte einen Grund gefunden, warum er sein Leben von jetzt an wirklich genießen konnte, denn nun hatte er ein Ziel. Es war herrlich. Es war die Lösung. Es war perfekt. Kein Grund mehr, deprimiert zu sein.
Er hob sein Glas, lächelte sie an und sagte sanft: „Was würde ich nur ohne dich machen?“
Das schöne war: Er würde es nie erfahren.
„Auf uns. Das ist der beste Todestag meines Lebens!“
Die nächsten 17 Jahre würden großartig werden – und nichts konnte das verhindern!