Читать книгу Abseits des Imperiums - Martin Cordemann - Страница 8
Irren, Haus
ОглавлениеDie Sonne ging über dem Bernbaumwald auf und tauchte ihn in ein rötlich goldenes Licht. Es war die schönste Stunde auf Rieka, wenn der Planet langsam erwachte und das Licht in Farben spielte, wie sie sich nur ein Maler des 17. Jahrhunderts ausgedacht haben könnte. Jedenfalls sagte man das so, kaum jemand wusste wirklich etwas über Maler des 17. Jahrhunderts. Das war die alte Zeit, die Erde. Man wollte sie vergessen, aus gutem Grund. Man hatte sich weiterentwickelt. Den Weltraum erobert. Nein, das war falsch. Den Weltraum besiedelt. Ja, das klang besser. Und richtiger. Die Zeit, in der die Menschheit Eroberungen machte, war vorbei. Und, da war man sich einig, dies war eine bessere Zeit.
Sonja und Ken saßen am Ufer des kleinen Baches, der durch den Wald plätscherte und sahen der Sonne beim Aufgehen zu. Es würde ein herrlicher Tag werden, da waren sich die beiden sicher. Obwohl… war da ein Donnern in der Luft? Kündigte sich ein Gewitter an? Nein, es war kein Donner, es war ein lautes Brummen, das lauter und lauter wurde. Erschrocken sahen sie nach oben – dann pflügte sich das Raumschiff auch schon durch die Bäume. Es hinterließ eine kilometerlange Schneise, bevor es sich mit einem gewaltigen Knall in die Erde bohrte. Die beiden Jugendlichen sahen sich erschrocken an, dann liefen sie durch den Wald bis zu der Unglückstätte. Sie waren nicht die ersten, die dort eintrafen. Alle, die helfen konnten, kamen. Die Ärzte, die Mechaniker, die Ingenieure. Auf Rieka gab es nur einen kleinen Stützpunkt des Imperiums, und der befand sich auf der anderen Seite des Planeten. Es würde ein wenig dauern, bis die Soldaten hier waren.
Gemeinsam suchte man nach Verletzten, aber man fand niemanden. Das Schiff war rechtzeitig verlassen worden und zum Glück hatte sich zum Zeitpunkt des Unfalls niemand in dem kleinen Wäldchen aufgehalten. Als das Imperium eintraf, war man sich bereits sicher, dass niemand verletzt worden war. Alle Bewohner der Stadt hatten sich gemeldet. Niemand wurde vermisst. Allen ging es gut.
Das dachte man jedenfalls. Commander Hardawar vom Stützpunkt sagte, dass er die Föhr informieren würde. Man würde dafür sorgen, dass das Wrack geborgen werden würde, aber das könnte eine Zeit dauern. In der Rio de la Plata Provinz war man eben ein bisschen ab vom Schuss. So blieb das Wrack da wo es war und die Menschen gingen wieder ihrem Leben nach. Schon nach einer Woche hatte man vergessen, dass dieser Vorfall überhaupt stattgefunden hatte…
Doch dann zog Engelbert Kaminski ein Fleischermesser aus seinem Block und stürmte damit aus seiner Metzgerei. „Ich werde euch alle zerfleischen!“ schrie er und stürzte sich auf die Passanten. Es gelang ihm, drei zu töten, bevor er aufgehalten werden konnte. Er schrie und tobte und seine Schürze war besudelt von Blut, von menschlichem Blut. Es war der erste Vorfall dieser Art seit der Gründung des Imperiums. Und es sollte nicht der letzte bleiben.
Noch in derselben Nacht tötete eine Frau ihren Mann mit einem Küchenmesser. Dann lief sie hinaus auf die Straße und fiel über einen jungen Mann her. Es gelang ihm, sich zu verteidigen und die Frau zu überwältigen. Am nächsten Tag nahm ein Handwerker seinen Bohrer und lief damit durch die Hauptstraße. Commander Hardawar befand sich gerade in der Stadt, um die Vorkommnisse des Vortags zu untersuchen. Er sah noch rechtzeitig den blutigen Bohrer und schoss. Fünf Leute waren dem Handwerker zum Opfer gefallen, bevor er gestoppt worden war. Als Hardawar sich umdrehte, sah er zwei Teenager mit Spitzhacken in der Hand auf sich zukommen. Er schoss ihnen in die Beine, um sie aufzuhalten. Wie er später erfuhr, waren ihre Namen Sonja und Ken.
Bevor sich die Ereignisse weiter überschlagen konnten, fand jemand das eine Element, das alle der Betroffenen miteinander verband: sie waren alle an der Absturzstelle gewesen. Alle, die dort gewesen waren, wurden ins Krankenhaus gebracht und untersucht. Man fand nichts, außer ihrem seltsamen Benehmen. Sie murmelten die ganze Zeit vor sich hin. Wahnsinn. Geisteskrankheit. Verrücktheit. So etwas hatte man seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen.
Es war ein schrecklicher Tag für Rieka gewesen, als der Frachter in einem Waldstück nahe der Hauptstadt aufschlug. Die Untersuchung des Imperiums brachte ein wenig Licht in die Dunkelheit dieses Unfalls. Das Schiff war vom Kurs abgekommen, weil seine Triebwerke nicht mehr funktionierten. Eine Bruchlandung war nicht mehr möglich, die Mannschaft hatte das Schiff vorher verlassen. Es krachte in das Waldstück und hinterließ einen riesigen Krater. Und es hinterließ noch etwas anderes. Eine Strahlung, die aus dem lecken Antriebssystem freigesetzt wurde. Erst Jahre später bemerkte man sie – Jahre zu spät, wie sich herausstellte. Ihre Auswirkungen jedoch hatte man schon viel früher wahrgenommen. Die Strahlung hatte eine unangenehme Wirkung auf den menschlichen Geist. Tatsächlich stellte man später fest, dass sie Veränderungen im Gehirn bewirkte, die den Geist, die Persönlichkeit und das Handeln der betroffenen Personen veränderten. Etwas, das man besiegt zu haben, das man auf der Erde zurückgelassen zu haben glaubte, kehrte nun zurück: Wahnsinn!
Man baute die erste Irrenanstalt in der Geschichte des Imperiums. Da war man so stolz gewesen, dass man sich von vielen Dingen getrennt hatte, die die Menschheit auf schlechte Wege getrieben hatte, Geld, Machthunger, Politik, das Bankenwesen. Es gab kaum Kriminalität, nur wenige Banken und so gut wie kein Geld. Die Menschheit hatte wichtigere Dinge zu tun gehabt, als sie sich auf neuen Planeten niederließ. Sie urbar zu machen, sie zu kolonisieren, im Einklang miteinander und der Natur zu leben. Die Fehler von früher zu vermeiden. Es war eine gute Zeit für die Menschheit… doch nun kehrte eine alte Geißel zurück.
Ein Krankenhaus wurde speziell für die Betroffenen gebaut. Erst war es nur das, ein Krankenhaus, doch wenn man ehrlich war, war seine Aufgabe nicht nur die Heilung der Patienten, sondern auch eine sichere Verwahrung für die Personen, deren einziges Ziel es nunmehr zu sein schien, andere Menschen zu töten. So wurde eher ein Gefängnis daraus – und irgendjemand grub den alten Begriff „Irrenhaus“ wieder aus. Die Irrenanstalt auf Rieka. Kein Ort, an dem man gerne sein wollte.
Jeder, der damals an der Absturzstelle gewesen war, befand sich nun in den Mauern dieser aus Stein erbauten Heilanstalt. Und es waren noch ein paar dazugekommen. Das war zunächst unerklärlich gewesen, da man die Verhaltensveränderung irgendwie mit dem Absturz in Verbindung gebracht hatte, aber nun waren auch Menschen betroffen, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal auf dem Planeten befunden hatten. Bislang hatte niemand einen Versuch unternommen, das Wrack zu bergen und so lag es unberührt vor der Hauptstadt im Wald. Endlich, endlich kam es zu einer Untersuchung und jemand entdeckte die Strahlung. Man evakuierte die Hauptstadt und nahm sich vor, das Wrack zu isolieren. An anderer Stelle begannen Wissenschaftler von Oxford, endlich an einem Gegenmittel zu arbeiten, hatten sich doch alle Therapien bislang als wirkungslos erwiesen. Aber vielleicht würde man wenigstens dafür sorgen, dass sich der Wahnsinn nicht weiter ausbreitete. Und der Wahnsinn hatte sich in verschiedenen Formen materialisiert, mal niedlich verspielt, mal aggressiv brutal, aber immer mit einem unerklärlichen Drang zu töten.
Sonja lächelte, wenn man sie ansah. Sie hörte einem zu, wenn man mit ihr sprach. Aber sie sah durch einen hindurch. Und wenn man ihr den Rücken zuwandte, versuchte sie, einen anzugreifen.
Ken knurrte einen die ganze Zeit an. Sabber lief aus seinem Mund. Seine Augen waren zugekniffen. Wenn man sich ihm näherte, schnappte er nach einem. Und er biss zu.
Engelbert Kaminski starrte einen kalt an. Um seine Mundwinkel gab es ein ständiges Zucken, was umso gruseliger wirkte, da seine Augen trotz der konstanten Bewegung in seinem Gesicht starr auf einen Punkt gerichtet waren. Sie waren ein Hort der Ruhe in einer unruhigen Umgebung. Er schlug zu, wenn man es nicht erwartete.
Commander Hardawar jagte mit seinen Händen unsichtbare Insekten durch die Luft. Er rief sie beim Namen und bürstete ihre kleinen, imaginären Felle. Er sprang einen an und versuchte, ihn unter seinem Körper zu begraben.
Zwei Ärzte kündigten schnell den Dienst, weil sie von Patienten verletzt worden waren. Es war ein gefährlicher Job, den kaum jemand machen wollte. Erst, als man endlich die Ursache für die Krankheit gefunden hatte, gab es Hoffnung, dass sich vielleicht alles wieder verbessern würde – und dass man den Wahnsinn heilen könnte.
Huang Björnson staunte, als er den steinernen Bau erreichte. Er wirkte wie ein Gebäude aus alten Geschichten, Gruselgeschichten, die in genau solchen Hospitälern spielten. Er hatte davon gehört. Oder Filme gesehen. Irrenhäuser, in denen man die Wahnsinnigen untergebracht hatte. Aber nicht, um sie zu heilen, sondern um grausame Experimente an ihnen durchzuführen. Sie zu quälen. Sie bei lebendigen Leibe aufzuschneiden, um herauszufinden, was die Geheimnisse der menschlichen Seele, des menschlichen Verstandes waren. Das war einer der Gründe, warum er sich um eine Stelle in diesem im Imperium einmaligen Institut beworben hatte. Nicht, um an solchen Experimenten teilzunehmen, sondern um sie zu verhindern.
Er war Krankenpfleger aus Leidenschaft, er wusste, worauf es bei diesem Beruf ankam. Gitter an den Fenstern gehörten sicher nicht dazu. Ein kühler Wind streifte ihn und ließ ihn ein wenig frösteln, so, wie ihn kurz zuvor der Anblick des Gebäudes hatte frösteln lassen. Manche Gebäude wirkten einfach unheimlich, auch wenn das natürlich völliger Blödsinn war. Es gab keine „bösen Häuser“. Und wenn, was sollten die schon tun? Reichte es da nicht, einfach auszuziehen, um ihnen zu entkommen? Oder reisten einem verwunschene Häuser nach, um ihre Arbeit zu beenden? Wäre das nicht aufgefallen?
Der Pfleger musste lächeln. Ja, dachte er, viele Horrorgeschichten verloren von ihrer Gruseligkeit, wenn man sich mal Gedanken über sie machte. Das Institut vor ihm mochte aussehen wie eine Anstalt aus einem alten Horrorfilm, aber es war nicht mehr als ein Krankenhaus, in dem man versuchte, kranke Menschen zu heilen. Und wenn man mit ihnen grausame Versuche unternehmen sollte, dann war immer noch er da, um das zu verhindern. Frohen Mutes stapfte er auf das Hauptportal zu.
„Sie wünschen?“ fragte ein Mann in einer weißen Jacke, nachdem sich die Tür mit einem leichten Quietschen geöffnet hatte.
„Ich bin Ihr neuer Pfleger“, sagte Huang und reichte dem anderen seine Unterlagen. Auf dessen Gesicht bildete sich ein Lächeln.
„Herr Björnson, schön, dass Sie da sind“, rief er erfreut, „wir haben Sie nicht vor morgen erwartet.“
„Ich dachte, wo ich schon mal da bin, mache ich mich gleich auf den Weg hierher.“
„Ach, wenn doch nur alle so wären. Dr. Feinstein, Leiter der Pathologie“, stellte sich der Doktor nun vor. „Es gibt leider nicht viele Leute, die bei uns arbeiten möchten.“
„Warum?“
„Es scheint ihnen unheimlich zu sein. Eine mysteriöse Krankheit. Ein Krankheitsbild, das seit Generationen ausgestorben zu sein schien. Und doch haben wir hier Fälle davon.“
„Und Sie wissen noch immer nicht, was die Ursache dafür ist?“
„Unsere Doktoren scheinen kurz davor zu sein, das Geheimnis entschlüsselt zu haben, aber kommen Sie doch herein!“
„Danke.“
Huang trat über die Türschwelle und Dr. Feinstein schloss die Tür hinter ihm. Und verschloss sie anschließend.
„Wir sind eine Hochsicherheitseinrichtung“, erklärte er, „unsere Patienten sind sehr gefährlich.“
„Für sich und andere“, lächelte der Pfleger.
„Merkwürdigerweise nur für andere. Als wüssten sie, wer einer der ihren ist.“
„Vielleicht haben sie ja eine Art mentale Verbindung zueinander“, schlug Huang vor. „Oder sie stehen alle unter dem Einfluss einer fremden Macht.“
„Wir haben das erwogen“, nickte der Arzt, „dass es vielleicht jemanden oder etwas gibt, der sie alle kontrolliert. Aber wir haben nichts gefunden, das diese These unterstützen würde. Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.“
„Klasse.“ Huang schulterte seine Tasche und folgte dem Doktor. Es ging eine große Treppe hinauf und dann in einen abgetrennten Flügel des Hauses.
„Man hat sich beim Bau dieser Anstalt von alten Filmen beeinflussen lassen“, erklärte Feinstein. „Leider waren es, wie wir später erfahren haben, Filme, in denen solche Orte nicht so gut wegkamen.“
„Ah“, meinte der Pfleger nur. „Vielleicht waren die Architekten ja auch verrückt.“
„Oh, das waren sie“, nickte der Arzt. „Zwei davon befinden sich im Westflügel. Bei ihnen scheint die Krankheit nur später gekommen zu sein als bei den anderen. Und langsamer. Wir wissen noch immer nicht, warum.“
Sie kamen an einer vergitterten Tür vorbei und erreichten wenig später einen Korridor. Hier schienen die Unterkünfte des Personals untergebracht zu sein. Feinstein öffnete eine Tür, eine schrille Frauenstimme schrie, er schüttelte den Kopf, schloss die Tür wieder und ging zur nächsten. Als niemand schrie, trat er ein, sah sich um und nickte.
„Das ist Ihr Zimmer.“
„Sicher?“
„Ich glaube schon.“ Er sah auf seine Uhr. „In einer Stunde gibt es Abendessen. Wenn Sie sich vorher frisch machen möchten?“
„Gerne“, lächelte Huang.
„Wunderbar. Einfach die Haupttreppe hinunter und geradeaus durch die große Halle.“ Der Arzt nickte noch einmal, dann ging er hinaus.
Huang sah sich um. Das Zimmer war relativ groß, einfach eingerichtet und sauber. Es gab eine Tür, die in ein Badezimmer führte und einen Schrank. Er legte seine Sachen hinein, ging ins Bad und nahm eine ausgiebige Dusche.
Mit einem guten, sauberen Gefühl und einem fröhlichen Lächeln betrat Huang das Speisezimmer. Es waren nicht viele Personen anwesend, aber so, wie er das verstanden hatte, arbeiteten auch nicht viele Personen hier. Da waren ein junges Mädchen und ein junger Mann, beides Pfleger wie er, wie er annahm, obwohl sie fast ein bisschen zu jung dafür wirkten, ein Mann mittleren Alters und ein Herr, den man auf den ersten Blick für einen Offizier hätte halten können. Als Huang eintrat, erhob er sich und schritt auf den jungen Mann zu.
„Dr. Armin Guadalupe“, sagte er und streckte die Hand aus. „Sie müssen Börnsen sein. Dr. Feinstein lässt sich entschuldigen, er hat noch im Labor zu tun.“
„Ah“, antwortete Huang und ergriff die Hand, „sehr erfreut.“
„Ist das der Neue?“ jauchzte das Mädchen nun und sprang auf. Ihr Kollege folgte ihr weit weniger enthusiastisch.
„Sie sind Börnsen?“ rief sie. „Börnsen, ja?“
„Björnson“, korrigierte Huang und reichte ihr die Hand.
„Börnsen, ich bin Emilia.“ Ihr Kopf zuckte ein paar Mal in Richtung des jungen Mannes. „Und dieser Sauertopf hier ist Petrovic.“
Petrovic nickte kurz mit dem Kopf und ging dann wieder zurück zum Esstisch. Der Mann, der dort noch immer saß, hob nur kurz den Kopf, sah in ihre Richtung, und beschäftigte sich dann wieder mit seinem Essen und einem Computer.
„Ach komm, Linski, willst du unseren Gast denn nicht begrüßen?“
Linski winkte kurz, aber desinteressiert, und beugte sich wieder über seine Beschäftigungen.
„Wir sind alle ein bisschen überarbeitet“, rief das Mädchen. „Wir haben hier viel zu tun und das ist nicht so leicht wegzustecken für jeden. Manche vergraben sich in sich selbst.“
„Und andere?“
„Nehmen Drogen!“ schrie sie heraus und hüpfte zurück zum Tisch.
„Ist natürlich nur ein Scherz“, erklärte Dr. Guadalupe. Dann seufzte er. „Obwohl sie natürlich recht hat. Die Arbeit hier macht uns allen schwer zu schaffen. Und da wir nur so wenige sind, haben wir wenig Freizeit. Und wenig Möglichkeit, das, was wir hier erleben, zu verarbeiten.“
„Ah“, nickte Huang.
„Aber das merken Sie dann ja noch. Das Essen steht in der Küche. Wir haben eine Köchin, die das Essen für uns und die Patienten macht, wir bekommen also das gleiche, das sie bekommen.“
„Damit wir am eigenen Leibe erfahren, was wir diesen armen Schweinen antun“, murrte Petrovic in die Runde.
„Aber irgendwie ist es auch eine Qualitätskontrolle“, meinte Guadalupe nachdenklich. „Wenn wir uns schon darüber beschweren, wissen wir, dass wir es den Patienten nicht zumuten können.“
„Ha!“ rief Linski plötzlich.
„Dr. Linski scheint ein Haar in der Suppe gefunden zu haben“, kommentierte sein Kollege.
„Nein, aber ich habe einen Durchbruch gemacht.“ Er hielt seinen kleinen Computerschirm hoch, an dem er mit der einen Hand gearbeitet hatte, während er sich mit der anderen das Essen hineingeschaufelt hatte. „Ich glaube, ich habe eine Idee, woran es liegen könnte.“
„Das Essen?“ wollte Petrovic halbherzig wissen.
„Die Krankheit! Ich glaube, ich weiß… oder ich vermute… ich denke, ich habe definitiv eine Idee.“
„Lasst uns feiern!“ rief Emilia.
„Die wievielte Idee ist das schon diesen Monat?“
„Die 23.“
„Und den wievielten haben wir heute?“
„Den 2.?“
„Genau.“
„Also kein Feiern?“ schmollte das Mädchen enttäuscht.
„Nicht, bis er nicht mal was Handfestes hat.“
„Ich bin was Handfestes“, grinste sie. „Aber mich hat er noch nie gehabt.“
„Er hat auch so schon genug Probleme“, murmelte Petrovic und sah sie ein bisschen eifersüchtig an.
„Äh, guten Appetit“, meinte Guadalupe in Huangs Richtung und kehrte dann zu seinem Platz am Esstisch zurück.
Der junge Pfleger ging in die angrenzende Küche, füllte sich einen Teller mit Eintopf und gesellte sich dann zu den am Tisch sitzenden. Guadalupe schien irgendwelche Probleme mit Insekten zu haben, denn ab und an schlug er um sich, um sie zu vertreiben. Linski widmete sich so sehr seinem Computer, dass er gar nicht mitkriegte, dass sein Teller seit einiger Zeit leer war und er sich nur noch leere Löffel in den Mund schob. Petrovic hielt den Blick gesenkt, aber hin und wieder, wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah er zu Emilia hinüber und knurrte ein wenig. Lediglich Emilia war die Fleisch gewordene Freude. Sie plapperte und lachte fröhlich vor sich hin, nur in die Augen sah sie keinem der Anwesenden.
„Das ist natürlich alles schrecklich, was diese Leute erleiden mussten, aber auch, was sie getan haben, ich meine, Sie wissen doch, was sie getan haben, oder? Also vielleicht nicht bei jedem einzelnen, aber Sie sollten vorher mal in ihre Akten schauen, bevor sie sich mit ihnen einlassen, das kann nicht schaden, aber es macht einen auch traurig. Diese Leute waren mal normale Menschen wie Sie und ich und haben sich ihres Lebens gefreut auf diesem schönen Planeten und dann, Bumm, passiert was und alle verändern sich plötzlich, ohne, dass sie etwas dafür können, ich meine, es ist ja nicht so, als wäre es ihre Schuld.“
„Könnten Sie vielleicht mal eine Minute still sein?“ schrie Dr. Linski unvermutet, dann schnaubte er, schnappte sich seinen Computer und verließ ohne eine weitere Bemerkung das Zimmer.
„Ja, vielleicht geh ich auch lieber“, stimmte Emilia ihm zu, „ich muss noch… in die Apotheke.“ Sprachs, sprang auf und lief hinaus.
„Ja“, sagte Petrovic nur und ging wortlos hinaus.
„Was?“ Dr. Guadalupe sah auf. „Oh, schon wieder?“ Er warf Huang einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. „Das passiert öfter. Die Nerven liegen hier ein wenig blank. Vielleicht ändert sich das ja jetzt, wenn wir ein Paar Hände mehr haben, das uns die Arbeit abnimmt.“ Er erhob sich. „Ich muss noch mal ins Labor.“
„Ähm, die Patienten?“ wollte der junge Pfleger wissen.
„Ach ja, die. Habe ich Ihnen Ihre Sicherheitskarte gegeben?“
„Nein.“
Der Doktor kramte in den Taschen seines Kittels.
„Hier ist sie ja.“ Er stand auf und reichte sie Huang. „Damit kommen Sie in den Flügel mit den Patienten.“
„Darf ich da denn rein?“
„Aber natürlich, dafür sind Sie ja hier.“ Der Arzt lächelte. „Aber ihre Zellen… ihre Zimmer können Sie damit nicht öffnen. Das kann nur ein Arzt. Aus… Sicherheitsgründen.“
„Natürlich“, nickte Huang.
„Sehr schön.“ Der Doktor sah wieder auf seine Uhr. „Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.“ Gedankenversunken ging er hinaus.
Huang beendete sein Mahl, brachte den Teller zurück in die Küche und sah sich dann in der großen Halle um. Irgendwie hatte er nicht das Gefühl, dass ihn jemand einarbeiten würde. Dazu schien es auch schlicht zu wenig Personal zu geben, vorausgesetzt, die Leute, die er bisher getroffen hatte, waren die einzigen Menschen, die hier arbeiteten. Eine Köchin musste es noch geben, aber die hatte für heute vermutlich schon Schluss gemacht.
Ein früherer Gedanke glimmte durch seinen Kopf. Experimente mit Patienten. Fast musste er lachen. Diese Leute wirkten nicht so, als würden sie mit Patienten experimentieren, also musste er sich da wohl keine Sorgen machen. Die Frage war, ob sie in der Lage waren, die Patienten gut zu behandeln oder ob sie sie vielleicht vernachlässigten? Nun, das ließ sich ja herausfinden. Er hatte viel über die merkwürdige Krankheit gelesen, die die Menschen von Rieka befallen hatte und er war neugierig, ob es wirklich so schlimm war, wie es in den Akten klang. Aber war er neugierig genug, dass er mit einer Beantwortung seiner Frage nicht bis zum Morgen warten konnte und jetzt, ohne jede Aufsicht oder Begleitung, in den Flügel mit den Patienten ging? Er war!
Wie ein Dieb sah er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete, bevor er die Tür zum Patientenflügel öffnete. Seine Karte funktionierte, die schwere, vergitterte Tür ging auf. Schnell trat er hinein und schloss sie hinter sich. Dann kam ihm der Gedanke, ob er denn auch wieder herauskommen würde… aber neben der Tür befand sich ebenfalls ein E-Schloss, also musste er sich da wohl keine Sorgen machen. Langsam, vorsichtig, neugierig machte er ein paar Schritte in den Flügel. Es gab jede Menge Zimmer, Zellen, wie Dr. Guadalupe sie genannt hatte, nicht mit Türen, sondern mit Gittern verschlossen. Und in den Zellen befanden sich Menschen. Menschen… die gar nicht so verrückt wirkten, wie er gedacht hatte.
„Hallo?“ fragte ihn eine ruhige Stimme.
„Ja?“ fuhr er erschrocken zurück. Ein großer Mann stand am Gitter einer der Zellen und sah ihn an.
„Sind Sie… Björnson?“ fragte er.
„Was… woher?“
„Sie sind der neue Pfleger“, sagte der Mann nun.
„Aber… woher…“
„Ich habe Ihre Bewebung beantwortet.“ Der Mann sah Huang ruhig an. „Ich bin Dr. Linski!“
Huang musste schlucken. Das war…
„Ich weiß, Sie halten das für unmöglich“, nickte der Mann in der Zelle. „Und irgendwie ist es auch ein Klischee.“ Er lachte trocken. „Ich nehme an, Sie haben die Leute getroffen, die sich als Ärzte ausgeben?“
„Als Ärzte ausgeben?“ murmelte Huang zweifelnd.
„Ich fürchte, ja. Wir waren hier ein wenig überarbeitet und als wir einmal nicht richtig aufgepasst haben, weil wir übermüdet waren… haben ein paar der Patienten uns überwältigt. Und unsere Plätze eingenommen. Ich sagte ja, es ist ein Klischee.“ Er deutete auf die Zellen neben sich, in denen ein junges Mädchen, ein junger Mann und zwei reifere Herren erschienen. „Darf ich bekannt machen, Dr. Feinstein, Dr. Guadalupe, Pfleger Petrovic und unsere liebe Schwester Emilia.“
Huang sah zweifelnd von einem zum anderen. Das war…
„Ich weiß genau, was Sie jetzt denken.“ Der Mann in der Zelle seufzte müde. „Aber ist Ihnen das Verhalten dieser Menschen nicht selbst ein wenig merkwürdig vorgekommen?“
Wenn er ehrlich war…
„Ich bitte Sie, Björnson, sehen Sie sich die Akten an. Lesen Sie sie sich durch.“
„Und dann?“
„Dann überlegen wir, was wir als nächstes tun!“
Huang ging zurück in sein Zimmer. Das klang alles irgendwie… wahnsinnig! Aber das musste nicht heißen, dass es nicht wahr war. Vor allem, als er in den Akten auf vier Fälle stieß, auf die die Beschreibung der Leute, die ihn hier begrüßt hatten, nur zu gut zutraf. Und doch hatte er seine Zweifel…
Aber die waren zwei Tage später verschwunden. Die junge Krankenschwester hatte ihm eine kurze Einführung gegeben, während sie sich verschwörerisch zu ihm herüberbeugte, auf eine der Zellen zeigte und lasziv hauchte: „Vor dem müssen Sie sich in Acht nehmen, der frisst gern kleine Pfleger!“
Sie zeigte ihm, wo alles war und überließ es ihm dann, die Patienten mit Essen zu versorgen, während sie entschwand, wahrscheinlich in die Apotheke. Dem entspannten Zustand nach, in dem sie war, als er sie beim Mittagessen sah, war ihr Besuch dort ein voller Erfolg gewesen.
Dr. Linski bekleckerte seinen Computer mit Essen und schrie, dass er die Lösung gerade gelöscht hätte.
Dr. Guadalupe winkte nur ab und vertiefte sich in irgendwelchen Akten. Ein paar imaginäre Fliegen fielen seiner Hand zum Opfer.
Petrovic knurrte vor sich hin, als wäre er ein Hund, der gefüttert werden wollte. Emilia warf ihm ein Stück Fleisch hin und er verzehrte es wie ein hungriger Wolf.
Nur Dr. Feinstein ließ sich nicht blicken, wichtige Untersuchungen, angeblich.
„Früher“, rief Emilia, während sie sich vom Kronleuchter baumeln ließ, „gab es Schilder mit der Aufschrift: ‚Man muss nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten, aber es hilft’.“ Sie lachte. „Man muss verrückt sein, um hier eingeliefert zu werden… aber das hilft nicht. Wir helfen. Wir helfen denen. Die sind total krank und kaputt und hinterrücks und gemein und lügen einem was vor und wir versuchen doch nur, ihnen zu helfen. Aber das kapieren die nicht, kapiern die einfach nicht, weil sie total irre sind und gemeingefährlich und wir sind ganz allein mit denen, weil uns niemand hilft. Niemand. Hilft. Uns. Nein! Aber jetzt bist du ja da, kleiner Börnsen, und jetzt wird alles guuuut und die Patienten werden alle heilllll und gesunnnnd und dann können wir nach Hause gehen und richtige Dinge tun.“
„Knrrr!“ meinte Petrovic nur.
Guadalupe sah auf, nickte, schüttelte den Kopf, erschlug eine seiner Fliegen und entschwand dann wieder. Und so ging es weiter und weiter…
Das angebliche „Personal“ verhielt sich derart auffällig, dass Huang sich in der dritten Nacht wieder in den Patientenflügel schlich.
„Sie scheinen mir also zu glauben“, meinte Dr. Linski, der echte Dr. Linski.
„Sagen wir einfach mal, das tue ich.“
„Da fällt mir ein Stein vom Herzen“, seufzte der Arzt erleichtert.
„Ich werde gleich morgen die Behörden verständigen“, erklärte Huang, aber Linski sah ihn erschrocken an.
„Das können Sie nicht tun!“ rief er.
„Wieso? Haben Sie Angst, dass diese Sache bekannt wird?“
„Nein, darum geht es mir nicht, aber es wäre gefährlich, wenn Sie das tun. Für Sie und für uns.“
„Warum?“
„Weil die uns alle sofort umbringen würden, wenn sie Verdacht schöpfen. Das sind mordende Bestien. Die lassen Sie nur in Ruhe, weil sie nicht wissen, ob Sie sich noch bei irgendjemandem melden und ihnen von ihren Erlebnissen hier erzählen. Sobald sie das raushaben, werden die Sie auch hier reinstecken. Und sobald das Imperium hier an die Tür klopfen sollte, haben wir nur noch ein paar Minuten zu leben.“
„Haben Sie eine andere Lösung?“
„Die habe ich“, gestand der Doktor. „Die dürfen nicht mitkriegen, dass Sie sie durchschaut haben, denn sonst bringen sie Sie sofort um. Deshalb müssen Sie sehr vorsichtig sein. Sie müssen diese Betrüger betäuben, sich eine ihrer Karten nehmen und uns dann befreien. Wenn alle tief und fest schlafen, können wir das Imperium rufen und dann werden diese Leute wieder in ihre Zellen gebracht.“
„Und wie soll ich das schaffen?“
„Kennen Sie sich mit Medikamenten aus?“
„Ein bisschen.“
„Gut. In der Apotheke finden Sie ein Mittel, das Permaprosin heißt. Das mischen Sie den anderen einfach ins Essen und dann werden alle schön und tief schlafen.“
„Bleibt die Frage: Wie komme ich in die Apotheke?“
„Tjaaaa…“
Huang kam die Idee. Er wusste, wer einen Schlüssel dafür hatte.
„Okay“, meinte er, „das krieg ich hin. Permaprosin.“
„Ja“, nickte der Doktor. „Aber seien Sie vorsichtig. Die dürfen nicht merken, was Sie vorhaben, sonst sind wir alle verloren.“
Es war das letzte gemeinsame Abendessen, aber außer Huang wusste das niemand. Und er schien keinen großen Appetit zu haben. Die anderen langten zu, auch wenn Linski, der falsche Linski, wie üblich über seinem Computer brütete.
Guadalupe sah müde auf. „Tut mir leid, dass wir uns bisher nicht mehr um Sie kümmern konnten, aber im Moment wächst uns die Arbeit einfach über den Kopf.“
„Kopf“, murmelte Petrovic.
Emilia schien irgendwas beruhigendes eingenommen zu haben, sie ließ ihre übliche Exaltiertheit heute vermissen.
Feinstein und die Köchin hatten sich zu ihnen gesellt. Beide schienen sich entweder nicht leiden zu können, oder ein Verhältnis miteinander zu haben. Oder beides.
„Ha!“ rief Linski, als er wieder einmal die Lösung hatte. „Und das erklärt auch ihre Veränderung. Mentaler Chamäleonismus! Damit geh ich in die Medizinbücher ein. Ha!“
„Schön, dass sich wenigstens einer an den Veränderungen der Patienten freut“, kommentierte Guadalupe. „Und ich freue mich für Sie.“
„Worüber?“
„Dass Sie sie in diesem Zustand kennengelernt haben. Am Anfang waren die alle so komplett aggressiv, dass sie gleich jeden angefallen haben, aber irgendwie scheint sich ihre Krankheit entwickelt zu haben und jetzt…“ Er schluckte. „…sind sie…“ Er schluckte wieder. „…was… ist…“
Das „das?“ brachte er schon nicht mehr heraus. Er sackte auf den Tisch. Die anderen taten es ihm gleich, auch wenn Huang nicht annahm, dass sie es aus Solidarität taten.
„Phase 1 erledigt“, lächelte er, „auf zu Phase 2.“
Er fingerte Dr. Guadalupes Sicherheitskarte aus dessen Brusttasche und schlenderte dann gemächlich zum Patientenflügel.
Dort war es auch, wo man ihn später fand.
Captain Lee sah ihn ein wenig verärgert an, als man Huang aus seiner Zelle befreite.
„Aber… ich dachte, die Gefangenen hätten die Irrenanstalt übernommen.“
„Das haben sie nicht.“
„Nicht?“
„Nein, die Gefangenen waren alle schön in ihren Zellen, wo sie hingehören. Sie haben sie freigelassen und sie sind alle abgehauen.“
„Aber die anderen…“
„Sind alle tot. Der Mann, der Ihnen gesagt hat, was Sie benutzen sollen, kennt sich mit Waffen und Toxinen sehr gut aus. Das angebliche Schlafmittel, das Sie Ihren Kollegen verabreicht haben, ist ein tödliches Gift!“ Der Captain seufzte. „Sie haben eine Horde kaltblütiger Mörder auf diesen Planeten losgelassen. Gute Arbeit, wirklich!“
Dadurch sollte sich die Entdeckung der wahren Ursache für den Wahnsinn um einige Jahre verzögern. Zum Glück waren die Wahnsinnigen nicht ansteckend… nur eben sehr, sehr gefährlich!