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Gegenkandidaten

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Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik könnte ein Linker an der Spitze einer Landesregierung stehen. Erstmals in ihrer Geschichte seit 1990 droht der Thüringer CDU der Verlust der Macht. Damit steht sie auch erstmals vor der Frage, ob sie bei einer Ministerpräsidentenwahl einen Bewerber gegen den Kandidaten der Mehrheit aufstellen soll. Denn für ihn bestünde die Möglichkeit, von der AfD mitgewählt zu werden – ob nun gewollt oder nicht.

Lieberknecht hat für sich entschieden, dass sie sich dieses Risiko nicht antun wird. Doch Mohring erwägt eine Kandidatur. Er sucht auf verschiedenen Wegen Gespräche mit den Sozialdemokraten, er redet auch mindestens einmal mit Höcke.

Anfang November trifft sich Mohring mit seinem Fraktionsvorstand. Was er nicht weiß: Das Gespräch wird mutmaßlich mitgeschnitten. Angela Merkel, erzählt er seinen Kollegen, habe zu ihm gesagt: „Aber passt auf, dass der Ramelow nicht noch die AfD einkauft.“16 Im Umkehrschluss habe er für sich festgestellt: „Wenn sie zu mir sagt, ich soll aufpassen, dass der Ramelow nicht die AfD einkauft, dann muss sie uns aber auch überlassen, dass wir die AfD einkaufen.“ Aus Mohrings Sicht bedeutet dies: „Wenn sie will, dass Ramelow nicht MP wird, brauchen wir die AfD, ob’s ihr passt oder nicht.“

Er selbst, sagt er, könne sich eine Kandidatur vorstellen, aber nur, wenn es eine Chance auf das Ministerpräsidentenamt gebe. „Mindestens muss klar sein: Die CDU muss stehen, und die AfD muss stehen. Also wenn, muss ich mit 45 Stimmen da rausgehen.“ Die AfD soll für ihn ganz offenbar als Mehrheitsbeschaffer dienen.

Aber das sind nur interne Aussagen. In der Öffentlichkeit spricht er nicht über eine Kandidatur. Und er setzt vor allem auf Abweichler aus SPD und Grünen, um eine absolute Mehrheit Ramelows zu verhindern. Schließlich würde den Linken eine einzige fehlende Stimme aus dem rot-rot-grünen Lager in den dritten Wahlgang zwingen – womit es ihm wie Lieberknecht fünf Jahre zuvor erginge. Träte dann niemand gegen ihn an, könnte Ramelow am Ende mehr Nein- als Ja-Stimmen erhalten.

Mohrings Interpretation lautet, dass der Linke damit nicht gewählt sei und alle Gespräche neu beginnen müssten. Oder der Ministerpräsident wäre halt fortan delegitimiert. Den CDU-Fraktionschef kümmert es wenig, dass er damit ein Verfassungsorgan beschädigte und dass seine Landespartei noch 2009 die exakt gegenteilige Rechtsmeinung vertreten hatte.

Die Reaktion folgt prompt. Der geschäftsführende SPD-Justizminister Holger Poppenhäger beauftragt den Verfassungsrechtler Martin Morlok mit einem Gegengutachten. Der begründet auf 28 Seiten, dass es die ausdrückliche Intention der Verfassung sei, nach einer Landtagswahl eine neue, arbeitsfähige Regierung zu bilden. Deshalb stelle Artikel 70, Absatz 3 der Verfassung sicher, dass in jedem Fall ein Ministerpräsident gewählt werde. Der letzte Satz des Papiers lautet: „Alles in allem: Tritt im Wahlgang […] nur ein Bewerber an, so ist er mit jeder Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen gewählt, unabhängig von der Zahl der nicht für ihn abgegebenen Stimmen.“17

Mohring lässt sich nicht beirren. Er bleibt bei seiner Strategie, Ramelow zu beschädigen, zumal der wissenschaftliche Dienst der noch von seiner Partei kontrollierten Landtagsverwaltung ein Gutachten erstellt hat, das Morlok widerspricht. Aber nun mischt sich Lieberknecht ein. Noch ist sie die Landesvorsitzende. „Für das Ansehen Thüringens ist jedoch wichtig, dass es gar nicht zu einer solchen Situation kommt und ein Ministerpräsident eine klare und eindeutige Legitimation hat“, sagt sie.18 Das Amt des Regierungschefs dürfe „nicht zum Fall für Gerichte werden“.

Kurze Zeit später geht bei der Staatsanwaltschaft Erfurt eine anonyme Anzeige ein. Darin wird Mohring beschuldigt, als Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Apolda 119 Scheinmitglieder geführt zu haben, darunter 19 bereits Verstorbene. Der „Spiegel“ berichtet Ende November: „Die Namen wurden den Ermittlern in einer Tabelle geliefert, jeweils mit Vermerk: ‚Austritt‘, ‚verzogen‘ oder ‚verstorben‘. Mehr Mitglieder bedeuten für Kreisverbände mehr Delegierte auf Landesparteitagen und höhere Finanzzuschüsse.“19 Dass Mohring dementiert, nützt ihm wenig: Er steht im Zentrum einer dubios wirkenden Affäre um tote Parteiseelen. Die Ermittlungen beginnen.

Und nun, ganz plötzlich, erklärt Lieberknecht öffentlich ihren Verzicht. Am 2. Dezember – am Tag, an dem Linke, SPD und Grüne offiziell den Vorschlag für die Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten am 5. Dezember einreichen – sagt sie auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz: „Ich gehe am Freitag nicht in die Arena des Löwen.“20

Das Kalkül dahinter: Wenn schon jemand gefressen werden soll, dann doch lieber Mohring. Entweder verlöre er oder die AfD kontaminierte ihn – oder beides. Schließlich hat Höcke verkündet, dass der CDU-Fraktionschef „nach menschlichem Ermessen mit allen elf Stimmen der AfD-Fraktion rechnen“ könnte. Mohring, sagt er, sei „ein profilierter Konservativer“, ein „junger Stürmer und voll im Saft“21.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende ahnt die Falle. Er setzt vorerst weiter darauf, dass Ramelow keine Mehrheit erhält, parallel dazu sucht er nun einen Notkandidaten, der statt ihm in einem möglichen dritten Wahlgang in die Arena geht. Zwei Tage vor der Wahl beschließt das Präsidium der Thüringer CDU, im ersten Wahlgang keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. Ob die CDU in einem möglicherweise zweiten oder dritten Wahlgang mit einem eigenen Kandidaten antrete, lässt Voigt als Generalsekretär offen. Das werde gegebenenfalls die Fraktion entscheiden, sagt er.

Einen Tag vor der Ministerpräsidentenwahl erläutert Mohring seine Taktik im Deutschlandfunk: „Unser Ziel ist in Thüringen, dass eine bürgerliche Regierung gebildet wird, und deswegen gilt ja nach wie vor unser Angebot an die SPD und auch die Grünen, nicht den Tabubruch zu begehen, mit der Linkspartei zu koalieren, sondern einen anderen Weg für Thüringen einzuschlagen, der auch ein zukunftsfester ist.“

Rot-Rot-Grün solle an sich selbst scheitern, sagt Mohring. „Deswegen haben wir ja auch, ich wiederhole das gern noch mal, bisher keinen Kandidaten für den ersten Wahlgang nominiert, tun das auch nicht, weil wir davon ausgehen, dass sich das dann an sich selbst scheitern lässt, und dann kann man auch die Gemengelage neu ordnen. Wenn das im zweiten Wahlgang nochmal passiert, ist auch klar: Dann findet Bodo Ramelow in dieser Koalition keine Mehrheit.“22

Doch was ist mit dem dritten Wahlgang? Was ist mit dem Kandidaten, den Lieberknecht angekündigt hat, um Mohring zum Antritt zu nötigen? Die Lösung hat Bernhard Vogel vorbereitet, gemeinsam mit seinem vormaligen Vize-Ministerpräsidenten Gerd Schuchardt von der SPD, der seit jeher jede Zusammenarbeit mit PDS oder Linke ablehnte und nun die Ideale von 1989 verraten sieht. Sein Name steht unter einem Appell, dem sich auch bekannte Schriftsteller wie Reiner Kunze angeschlossen haben. Darin heißt es: „Jetzt soll ganz legal stattfinden, was die Kommunisten die Konterrevolution nannten: Die Befreiung durch die Revolution von 1989 soll in Thüringen revidiert werden. Und die Revolutionäre von damals sollen ihnen dabei behilflich sein! Verkehrte Welt!“23

Schuchardt betrachtet sich also ganz offenbar als Kämpfer gegen eine Konterrevolution. Darum sind er und Vogel zum ehemaligen Rektor der Universität Jena gefahren, und haben ihn in langen Gesprächen zu einer Kandidatur überredet. Klaus Dicke, ein aus Rheinland-Pfalz stammender Politikprofessor, soll als überparteilicher Bewerber antreten und im Fall eines Erfolgs eine bürgerliche Expertenregierung bilden.

Vieles von dem, was in diesen Wochen geschieht, wird sich fünf Jahre später wiederholen. Manches muss nur reifen. Noch hat die AfD ihre endgültige Radikalisierung vor sich. Noch existieren jenseits von Linke und AfD knappe Mehrheiten, die bloß nicht genutzt werden. Noch ist Thomas Kemmerich bloß ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der FDP.

Doch auf der kleinen politischen Bühne, die Thüringen heißt, haben jetzt sämtliche Menschen, die fünf Jahre später Haupt- oder Nebenrollen erhalten werden, ihre Positionen eingenommen: Mohring, Ramelow, Höcke, Hennig-Wellsow, Voigt, Vogel, Lieberknecht, Gauck. Und die CDU präsentiert sich bereits genau so, wie man sie 2019 und 2020 erleben wird: gespalten, taktierend, überfordert. Nicht wenige ihrer Führungsmitglieder erscheinen bereit, mit allen Mitteln die Wahl des ersten linken Ministerpräsidenten zu verhindern – falls es sein muss, mit Hilfe der AfD.

In diesen Tagen fallen fast unbemerkt zwei Sätze, die heute prophetisch klingen. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagt sie vor der geplanten Wahl Ramelows am 5. Dezember 2014: „Ein Ministerpräsident der CDU darf nie von der AfD abhängig sein. Ein CDU-Kandidat, der dieses Amt nur mit den Stimmen der AfD erreichen kann, sollte diese Wahl nicht annehmen.“24

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