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Die Pastorin

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Die CDU hat also die Möglichkeit, sich an der Macht zu halten – aber offenkundig nicht unter Althaus. Denn mit ihm will SPD-Landeschef Christoph Matschie nicht einmal reden. Er verlangt nach einem neuen Ansprechpartner. Auch deshalb tritt der Ministerpräsident, der sich zudem erstmals offener Kritik in der eigenen Partei ausgesetzt sieht, überstürzt von allen Ämtern zurück. Er verschwindet ins heimische Eichsfeld und unterlässt es dabei, seine Nachfolge im Sinne Mohrings zu regeln. Dank des Chaos, das er damit produziert, kann sich eine Frau durchsetzen, die viele immer wieder unterschätzt hatten.

Die einstige Pastorin Christine Lieberknecht war seit 1990 alles Mögliche gewesen, Kultusministerin, Staatskanzleiministerin, Landtagspräsidentin, Fraktionschefin, Sozialministerin. Doch in die Nähe des Regierungsvorsitzes gelangte sie nie. Hier standen stets genügend Männer vor ihr.

Hinzu kam ihr Image als Intrigantin. Noch in den letzten Monaten der DDR, im Spätsommer 1990, hatte Lieberknecht dafür gesorgt, dass CDU-Landeschef Willibald Böck, der auf Platz 1 der Landesliste stand, nicht als Spitzenkandidat in den Landtagswahlkampf ziehen durfte. Statt ihm inthronisierte sie den Zweitplatzierten Josef Duchač als Ministerpräsidenten – nur um ein gutes Jahr später einen erfolgreichen Putsch gegen ihn anzuführen. Seitdem galt sie als Verräterin.

Doch nun, im Herbst 2009, nach dem Spontanrücktritt von Althaus, ergibt sich ihre Chance. Man kann Lieberknechts späteren Beteuerungen glauben, dass sie das höchste Regierungsamt nie wirklich anstrebte. Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass sie es sich seit Langem zutraute und darauf hinarbeitete. Unumstritten ist jedenfalls: Als Finanzministerin Diezel, die als stellvertretende Partei- und Regierungschefin wieder Althaus vertritt, ihr nach einem Geheimtreffen die Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt anbietet, greift sie entschlossen zu.

Die beiden Frauen lassen zu diesem Zeitpunkt noch offen, wer den Vorsitz der CDU übernehmen soll. Lieberknecht drängt Diezel, die aber das ruhigere Amt der Landtagspräsidentin vorzieht. Damit scheint für Mohring zumindest der Weg an die Spitze der Landespartei frei. Doch jetzt stellen sich ihm Mario Voigt und Christian Carius entgegen. Die beiden Landtagsabgeordneten sind seit ihrem Studium in Jena eng befreundet – und Mohring seit Jahren in gegenseitiger Abneigung verbunden.

Mario Voigt, 1977 in Jena geboren, hatte dort auch Politikwissenschaft studiert. Nebenbei führte er für ein Jahr den RCDS und durfte in Bonn den Granden der CDU im Bundesvorstand zuschauen. Nach einem mehrmonatigen US-Praktikum promovierte er über den zweiten Präsidentschaftswahlkampf von Georg W. Bush und arbeitete als Berater für die Bundes-CDU.

Im Jahr 2005 wurde Voigt zum Chef der Jungen Union in Thüringen gewählt. In diesem Moment begann auch die Konkurrenz zu Mohring, der bereits Generalsekretär der Landespartei war und eine seiner Vertrauten an die JU-Landesspitze schieben wollte. Doch Voigt siegte nicht nur gegen sie, er installierte auch seinen Freund Christian Carius als Stellvertreter.

Damit besitzen die beiden eine eigene, kleine Machtbasis. Nun, im Jahr 2009, ist Voigt in den Landtag eingezogen – und organisiert mit Carius in der Fraktion, die gar nicht für Parteifragen zuständig ist, eine Mehrheit für Lieberknecht als CDU-Landesvorsitzende. Mohring muss ohnmächtig dabei zusehen, wie ihn die beiden auf seinem ureigenen Feld ausmanövrieren. Selbst Dieter Althaus, der, wie er verspätet feststellt, trotz seines Rücktritts laut Verfassung noch geschäftsführend im Regierungsamt ist und in die Staatskanzlei zurückeilt, vermag seinem Schützling nicht mehr zu helfen.

Spätestens jetzt sind aus den Konkurrenten Voigt und Mohring erbitterte Feinde geworden. Über die Jahre wird sich der Machtkampf zu einer persönlichen Fehde entwickeln, welche die Thüringer CDU für mehr als eine Dekade prägt – bis hin zur Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten. Die beiden Männer misstrauen sich zutiefst, ja, sie verachten sich. Voigt hält Mohring für einen politischen Spekulanten, einen talentierten, aber teamunfähigen Solisten, der dabei ist, die gesamte Landespartei in die Geiselhaft seiner Ambitionen zu nehmen. Für Mohring wiederum ist Voigt nur ein akademischer Westentaschen-Stratege, der glaubt, in Thüringen US-Wahlkampf spielen zu können.

In die gegenseitige Abneigung spielt hinein, dass Voigt promoviert ist, während der Fraktionschef sein Jura-Studium abgebrochen hatte. Ab 2007 belegt Mohring auf Grundlage seiner in Jena erworbenen Scheine insgeheim Kurse an privaten Hochschulen in Innsbruck und Frankfurt am Main – und kann pünktlich im Wahljahr 2009 dem erstaunten Publikum zwei Abschlüsse vorweisen, einen Master of Law und einen Master of International Business & Tax Law. Zu diesem Zeitpunkt bekommen gleich mehrere Journalisten Hinweise, dass irgendetwas mit den Examina nicht stimme. Doch die Recherchen laufen ins Leere, Mohring hat sein Studium ordnungsgemäß abgeschlossen. Er wäre jetzt auch formal bereit für größere Aufgaben.

Aber die Chance ist vergeben. Mario Voigt hat sich, zumindest in dieser Situation, als schneller, energischer und taktisch versierter erwiesen. Christine Lieberknecht zeigt derweil, wie flexibel sie Machtpolitik beherrscht. Sie umschmeichelt die Sozialdemokraten, macht enorme inhaltliche Zugeständnisse, bei Gemeinschaftsschulen oder Gebietsreform. Und sie garantiert der halb so großen Partei die Hälfte der Fachministerien.

Ramelow hält dagegen. In einem spektakulären Schritt verzichtet er gegenüber SPD und Grünen auf den Anspruch der größeren Partei auf das Ministerpräsidentenamt und wirbt für einen parteilosen oder sozialdemokratischen Regierungschef, der am besten nicht aus Thüringen kommen soll. Die Namen des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse oder des scheidenden Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (beide SPD) werden genannt.

Doch SPD-Landeschef Matschie, der damit in einer rot-rot-grünen Landesregierung zur Nummer 3 degradiert würde, macht da nicht mit. Er nutzt das Zögern innerhalb der Linken, die DDR pauschal als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, um entgegen dem deutlich erkennbaren Basiswillen eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU durchzusetzen. Hinzu kommt, dass sich der Theologe Matschie mit der beurlaubten Pastorin Lieberknecht, die er längst duzt, menschlich einfach besser als mit Ramelow versteht.

Die CDU-Landeschefin hat also ihrer Partei noch einmal die Macht gesichert. Doch trotz dieses nicht selbstverständlichen Erfolgs präsentiert sich die Fraktion tief gespalten. Die alte Althaus-Gang fühlt sich kollektiv düpiert. Als sich Lieberknecht im Landtag der Wahl zur Ministerpräsidentin stellt, fällt sie in den ersten beiden Wahlgängen durch, obwohl Schwarz-Rot über eine solide Vier-Stimmen-Mehrheit verfügt.

Damit kommt es erstmals bei einer Thüringer Ministerpräsidentenwahl zum Drama des dritten Wahlgangs. Hier reicht nach Artikel 70 der Landesverfassung die relative Mehrheit der „meisten Stimmen“. Die Formulierung hatte in den Wochen vor der Wahl zu langwierigen Debatten geführt. Zählen nur die Ja-Stimmen? Stünde, wenn Lieberknecht als Einzelkandidatin mehr Nein- als Ja-Stimmen erhielte, die Legitimität ihrer Wahl infrage? Muss dann das Verfassungsgericht entscheiden? Die Rechtsgelehrten wirken ebenso uneins wie das zunehmend verwirrte Publikum. Die Formulierung der Landesverfassung war in den Zeiten klarer Mehrheiten niemandem aufgefallen.

Doch bevor die Lebenswirklichkeit eine Antwort geben kann und der entscheidende dritte Wahlgang beginnt, erklärt Ramelow auch zur Überraschung der eigenen Partei, dass er gegen Lieberknecht antrete. Aus der Perspektive des Linke-Fraktionsvorsitzenden ist die Bewerbung ein risikofreier PR-Stunt. Die Sondersendungen werden nun von ihm dominiert.

Aber Ramelow hat noch andere Motive. Zum einen hält er den Streit um die Verfassung für unwürdig. Zum anderen will er Lieberknecht schlicht helfen. Tatsächlich sorgt seine Kandidatur dafür, dass sich im dritten Wahlgang die bürgerlichen Reihen schließen. Die CDU-Kandidatin erhält nun alle Stimmen von CDU und FDP – und kommt damit auf eine stattliche absolute Mehrheit.

Dass ein linker Oppositionsführer eine christdemokratische Ministerpräsidentin dabei unterstützt, gesichtswahrend ins Amt zu gelangen, ist wohl so nur im kleinen Thüringen möglich. Lieberknecht und Ramelow kennen sich seit den frühen 1990er Jahren gut – und sie schätzen sich. Sie duzen sich und sprechen oft miteinander; Ramelow lud Lieberknecht sogar zu seiner zweiten Hochzeit ein.

Die beiden verbindet der gemeinsame evangelische Glaube, der wiederum, etwa bei sozialen Themen, gemeinsame politische Ansichten induziert. Gefühlt standen die lutherische Pastorin und der protestantische Gewerkschafter Ramelow nicht selten in gemeinsamer Opposition zu den Katholiken Vogel und Althaus. Falls sie sich mal im Eifer des politischen Gefechts gegenseitig öffentlich verletzten, folgten sofort danach die Entschuldigungen per SMS.

Aber dies geschieht selten. Selbst nach ihrem Amtsantritt greift Ramelow die Ministerpräsidentin selten persönlich an. Ihre Regierungszeit beginnt auch so schon schwierig genug. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat ihren Höhepunkt erreicht, überall fehlt Geld, das Land muss neue Schulden machen. Gleichzeitig erschwert die CDU-Fraktion das Regieren; Mohring blockiert Reformen und präsentiert stattdessen eigene, unabgestimmte Initiativen.

Lieberknecht scheut die Konfrontation, aus Schwäche, aber eben auch, weil in Thüringen alles so klein ist. Sie wohnt in Mohrings Wahlkreis, und Mohring in ihrem – und sie ist Mitglied des Kreisverbands, den er führt. Christian Carius, den Lieberknecht als Bauminister in ihr Kabinett geholt hat, und Mario Voigt, den Lieberknecht in der Landes-CDU zum Generalsekretär befördert, müssen dabei zusehen, wie der Rivale größere Teile der Agenda bestimmt.

Je näher das Ende der Legislaturperiode rückt, umso nervöser wirkt Lieberknecht. Sie begeht Fehler. Im Vorwahljahr 2013 beginnt eine Kette von Personalaffären, die zwischenzeitlich sogar zu Untreue-Ermittlungen gegen die Ministerpräsidentin führen. Im Ergebnis landet die CDU, die noch im Vorwahljahr in den Umfragen bei bis zu 40 Prozent gelegen hatte, bei der Landtagswahl am 14. September 2014 wieder bloß bei 33,5 Prozent. Das Ergebnis ist kaum besser als das von 2009. In absoluten Stimmen, auf diese Feststellung legt Mohring am Wahlabend großen Wert, fällt es sogar noch schlechter aus.

Mario Voigt, der als Generalsekretär die Kampagne für die CDU organisierte, ahnt schon am Wahlabend, dass das Ergebnis das Ende der Regierung bedeuten könnte. Er, der öffentlich stets kontrolliert und beherrscht auftritt, lässt sich auf der Wahlparty im Erfurter Restaurant „Hopfenberg“ gehen. Vom Alkohol enthemmt lästert er laut über Mohring und die Medien.

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