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Höckes Flügel
ОглавлениеWährend die Thüringer CDU versucht, sich in der Opposition zurechtzufinden, nimmt die rot-rot-grüne Landesregierung ihre Arbeit auf. Erste Amtshandlung: Ein Winterabschiebestopp. Der symbolische Beschluss, der kaum mit dem Bundesrecht kompatibel erscheint, vereint sofort das gegnerische Lager. Insbesondere die AfD besetzt offensiv das Flüchtlingsthema, das sowieso zunehmend die Agenda bestimmt. Die Migrationszahlen steigen auch in Thüringen rasant, die Erstaufnahmeheime in Eisenberg und Suhl sind überfüllt. 2015 halten sich 27.000 Flüchtlinge in Thüringen auf, die bis dahin sehr niedrige Ausländerquote steigt von 2,5 auf 3,8 Prozent.
Es beginnen die Monate, in denen Björn Höcke zu nationaler Bekanntheit gelangt und sich offen als Extremist zeigt. Inzwischen weiß die Öffentlichkeit, dass er mit Thorsten Heise Kontakt hat, der im Eichsfelddorf Fretterode wohnt, nur wenige Kilometer von Höckes Haus entfernt42. Der vorbestrafte Neonazi hatte mehrfach für die NPD kandidiert, sitzt im Kreistag, betreibt einen rechtsradikalen Versandhandel. Im NSU-Prozess in München fällt sein Name des Öfteren.
Im Dezember 2014 reist Höcke mit seiner Landtagsfraktion ins benachbarte Sachsen-Anhalt. Dort, im Örtchen Schnellroda, hat Götz Kubitschek ein Institut gegründet, das als intellektuelle Zentrale der sogenannten Neuen Rechten gilt. Dort gibt der frühere Bundeswehr-Offizier auch die Zeitschrift „Sezession“ heraus.
Höcke und Kubitschek verfolgen offenbar den Plan, die AfD, die als Euro-kritische Professorenpartei gestartet war, zu einer völkischen Bewegung umzuformen43. Die Initialzündung erfolgt am 14. März 2015, einem Samstag. In der Halle der Arnstädter Brauerei veranstaltet die AfD ihren Landesparteitag. Gast ist André Poggenburg, Höckes Amtskollege aus Sachsen-Anhalt.
Die beiden präsentieren ein Papier, die „Erfurter Resolution“: Das Projekt AfD sei in „Gefahr“, heißt es darin, der bei Wahlen erzielte „Vertrauensvorschuss“ drohe „leichtfertig“ verspielt zu werden. Es sei ein „fatales Signal“, dass sich die Partei von „bürgerlichen Protestbewegungen“ wie Pegida ferngehalten oder sogar distanziert habe. Die AfD müsse eine „Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands werden“44.
Der Text stammt in großen Teilen von Kubitschek45. Er ist ein Angriff auf die „Technokraten“ unter Lucke – und spaltet die Partei. Unterschrieben ist die Resolution auch vom Brandenburger Landtagsfraktionschef Alexander Gauland und seinem Stellvertreter Andreas Kalbitz. Die Resolution wird zur Gründungsurkunde des „Flügel“, einem Netzwerk der Rechtsnationalisten in der Partei.
Während Höcke in den innerparteilichen Kampf zieht, behauptet der Soziologe Andreas Kemper öffentlich, dass der Thüringer Landeschef in den Jahren 2011 und 2012 unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ in den Neonazi-Blättern „Volk in Bewegung“ und der „Eichsfeld-Stimme“ publizierte. Beide Zeitungen werden von Neonazi Thorsten Heise herausgegeben. Der akribische Textvergleich Kempers zeigt viele auffällige Parallelen zwischen den Reden Höckes und den Aufsätzen von „Ladig“46, mit Begriffen wie „Pertubation“, „Behaviorismus“, „Entelechie“, „Vernutzung“, „Entropie“, „Homöostase“, „organische Marktwirtschaft“. An einer Stelle beschreibt „Ladig“ ausführlich das Wohnhaus Höckes und dessen Lage in Bornhagen. An einer anderen zitiert er ganze Passagen aus einem Leserbrief des damaligen Lehrers.
Trotz des Dementis von Höcke nutzt der AfD-Bundesvorsitzende Lucke die Gelegenheit zum Angriff. Die Mehrheit des Bundesvorstands verlangt vom Thüringer Landeschef eine Versicherung an Eides Statt, dass er nicht „Landolf Ladig“ sei. Nachdem dieser ablehnt, beantragt der Vorstand die Amtsenthebung. Die Entscheidung im Machtkampf fällt auf dem Bundesparteitag der AfD im Juli 2015 in Essen. Höcke verbündet sich kurzzeitig mit der sächsischen Landesund Fraktionschefin Frauke Petry, die Lucke erfolgreich aus der Spitze verdrängt – nur um fortan selbst vom „Flügel“ bekämpft zu werden. Das Lucke-Lager verlässt nahezu geschlossen die Partei, auch aus der Thüringer Landtagsfraktion treten drei Abgeordnete aus.
Im so genannten Flüchtlingsherbst 2015 enttarnt sich Höcke endgültig selbst. Im September steht er vor 7000 Menschen vor dem Erfurter Landtag, zieht unter „Lügenpresse“- und „Volksverräter“-Rufen über die Regionalzeitungen her, bezeichnet Gegendemonstranten als „Linksfaschisten“ und ruft: „Weil Millionen aus Afrika und Asien durch Fehlanreize in unser Land gelockt werden, […] brennt unser Land bald lichterloh.“47 Er, der im Alltag eher höflich auftritt, mutiert auf den Veranstaltungen zum schäumenden Demagogen, der „Merkel muss weg!“ ins Mikrofon schreit. Parallelen zur Rhetorik des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels sind offensichtlich.48
Inzwischen tritt Höcke überall in Deutschland auf. Er warnt vor „Invasoren“ oder spricht vom „afrikanischen Ausbreitungstyp“. Gemeinsam mit seiner Partei surft er auf dem Schaum der Protestwelle gegen die Einwanderung. Die Partei, die nach dem Parteitag in Essen in den Umfragen bei 2 Prozent dümpelte, hat nun zweistellige Prognosen.
Im März 2016 wird die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt unter der Führung Poggenburgs mit 23,4 Prozent der Stimmen zweitstärkste Partei. Sie und die Linke kommen gemeinsam auf 41 der 87 Sitze im Magdeburger Parlament. Die bisherige schwarz-rote Koalition hat keine Mehrheit mehr. CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff muss die Grünen hinzubitten, um die erste so genannte Kenia-Koalition zu bilden.
Höcke, der in Magdeburg mit Poggenburg den Sieg feiert, konzentriert sich auf Ostdeutschland. Er kandidiert nicht für den Bundesvorstand, wie er bei der Veröffentlichung der „Erfurter Resolution“ ankündigte, weil er auf dem Bundesparteitag nicht mit einer sicheren Mehrheit rechnen kann. Und er bewirbt sich auch nach einigem Zögern nicht für den Bundestag. Er will die Partei von hinten führen, aus der östlichen Provinz, mit Hilfe seines wachsenden Netzwerks. Auf den jährlichen Kyffhäuser-Treffen des „Flügel“ demonstriert er seine Macht, derweil selbst im Westen immer mehr Landesverbände nach Rechtsaußen kippen.
Im Januar 2017 bezeichnet Höcke kurz vor dem Holocaust-Gedenktag die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus als „dämliche Bewältigungskultur“ und fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“49. Rechtsextremisten wie Andreas Kalbitz sind inzwischen seine engsten Verbündeten.
Parallel lässt Höcke eine Art Personenkult um sich herum organisieren. Der „Flügel“ verkauft Sammeltassen und bedruckte Beutel mit seinem Konterfei, Treffen des Netzwerks werden zu Huldigungsveranstaltungen, die zusätzlich bizarr wirken, da Höcke ständig wiederholt, wie zurückhaltend und bescheiden er sei – und überhaupt ein Mensch, der nicht nach Macht strebe.
Bundeschefin Petry glaubt ihm das genauso wenig wie alle anderen. Sie nutzt die Rede von Dresden für ein Parteiausschlussverfahren gegen Höcke. In dem Antrag des Bundesvorstandes wird die These Kempers zur Tatsache erhoben: „Der AG [Antragsgegner Höcke] hat unter dem Namen ‚Landolf Ladig‘ in den NPD-Veröffentlichungen ‚Volk in Bewegung‘ und ‚Eichsfeld-Stimme‘ Artikel verfasst.“50 Das Papier attestiert dem Landeschef anhand seiner Rede und Schriften eine „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“, zudem bekenne er sich zum Führerprinzip.
Doch auch Petry verliert den Kampf gegen Höcke und ihre zahlreichen anderen Gegner. Nach der Bundestagswahl im September 2017, bei der die AfD mit 12,6 Prozent erstmals ins Bundesparlament einzieht, verlässt sie die Partei, um – so wie vor ihr Lucke – eine Konkurrenzorganisation aufzubauen. Ihr Nachfolger an der Spitze wird neben Jörg Meuthen der neue Bundestagsfraktionschef Gauland, beide besuchen die „Flügel“-Treffen. Andreas Kalbitz, Höckes wichtigster Verbündeter, übernimmt die Führung der Landespartei und der Fraktion in Brandenburg. Inzwischen wirken große Teile der AfD wie jene „Widerstandsbewegung“ aus der „Erfurter Resolution“. Die ostdeutsche AfD ist nahezu deckungsgleich mit dem „Flügel“.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird später urteilen, dass die Identität von „Ladig“ und Höcke „nahezu unbestreitbar“ und „angesichts der plausibilisierten Faktendichte nahezu mit Gewissheit anzunehmen“ sei51. Und: Höcke geht gegen niemanden rechtlich vor, der ihn als „Ladig“ bezeichnet.
Spätestens jetzt kann niemand behaupten, nicht zu wissen, wofür er steht.