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KAPITEL 1 THÜRINGER VERHÄLTNISSE

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Gut vier Monate vor dem Tag, an dem Thomas Kemmerich im Landtag als Ministerpräsident vereidigt wird, sitzt der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring auf einer großen Dachterrasse in Erfurt. Dunkelheit hat sich über die Stadt gelegt, hinter ihm beleuchten Scheinwerfer die spitzen Türme des Doms und der Kirche St. Severi. Es ist sehr spät geworden an diesem 27. Oktober 2019.

Mohring ist blass, beinahe grau im Gesicht. Einige Freunde aus seiner Landespartei stehen neben ihm, reden leise auf ihn ein. In der Nähe haben sich Mitglieder der Band aufgebaut, die für den Abend bestellt wurde. Sie tragen a cappella die Verse von Paul McCartney vor: „Blackbird fly, blackbird fly, into the light of a dark black night.“ Amsel flieg, in das Licht einer dunklen, schwarzen Nacht. „All your life, you were only waiting for this moment to be free.“ Schon dein ganzes Leben wartest du auf diesen Moment, um frei zu sein.

Der Mann, dem sie Trost singen, hat tatsächlich sein halbes Leben auf diesen einen Abend hingearbeitet, auf dieses eine Ziel, auf das Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen. Hier, in einem schicken Neubau, der stolz „Dompalais“ genannt wird, wollte Mohring die Rückkehr seiner CDU an die Macht feiern, die sie fünf Jahre zuvor an die erste und einzige linksgeführte Regierung Deutschlands verloren hatte.

Doch nun ist er nicht frei, sondern in einer extrem komplizierten Situation gefangen. Und er muss den Medien die größte Niederlage seiner Partei in der Geschichte Thüringens erklären. Denn die Thüringer CDU, die seit 1990 immer die meisten Stimmen erhielt, ist bei der Landtagswahl an diesem Sonntag um fast 12 Prozentpunkte auf 21,7 Prozent abgestürzt. Nachdem sie schon 2014 die Regierungsmacht verlor, hat sie nun die vollständige Demütigung erlitten.

Hingegen konnte die Linke, die mit Bodo Ramelow seit fünf Jahren den Ministerpräsidenten stellt, nochmals leicht zulegen. Mit 31 Prozent ist sie erstmals stärkste Partei in einem deutschen Parlament. Gleichzeitig hat die AfD unter Björn Höcke ihre Stimmenanteile mehr als verdoppelt. Sie ist jetzt mit 23,4 Prozent die zweitstärkste Partei im Parlament – vor der CDU.

In der Summe kommen Linke und AfD auf 54,4 Prozent der Stimmen und 51 der 90 Mandate im Landtag. Gegen diese beiden Parteien kann also keine Mehrheit gebildet werden: Auch dies ist eine bislang nie dagewesene Situation in der Bundesrepublik.

Dennoch birgt die Situation für die CDU noch eine Restchance auf die Macht. Denn die Linke hat auf Kosten ihrer beiden Partner SPD und Grüne hinzugewonnen. Die Sozialdemokraten büßten ein Drittel ihrer Stimmen ein und erreichen nur noch 8,2 Prozent. Die Grünen schafften es mit 5,2 Prozent gerade so in den Landtag. Damit fehlen der Koalition, die zuvor mit knapper Mehrheit regieren konnte, plötzlich vier Stimmen im Landtag.

Allerdings ist eine bürgerliche Allianz noch weiter als das Linksbündnis von einer Mehrheit entfernt. Zwar hat es die FDP unter ihrem Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich zurück in den Landtag geschafft. Doch jede ohne Linke oder AfD ausdenkbare Koalition, ob nun Jamaika (Schwarz-Rot-Gelb), Kenia (Schwarz-Rot-Grün) oder Simbabwe (Schwarz-Rot-Gelb-Grün), befände sich in der Minderheit.

Für Mohring persönlich gibt es nur zwei Wege, diesem Dilemma zu entkommen. Der erste wäre sein Rücktritt. Der zweite: Er muss die überkommenen Regeln neu interpretieren oder gar brechen, um eine Neuwahl des Landtags zu vermeiden. So könnte er, vielleicht, politisch überleben.

Dass er abtritt, schließt Mohring kategorisch aus. Er, der Sohn eines Maurers und einer Verkäuferin, ist nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Er, der Mann, der erst Monate zuvor eine Krebserkrankung durchstand, wird sich nicht einfach in diese Niederlage fügen.

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