Читать книгу Von der Sprechübung zum freien Erzählen - Martin Ellrodt - Страница 2

Einführung in dieses Buch

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Das Werk, das jetzt vor Ihnen liegt, möchte Sie und die Kinder, mit denen Sie arbeiten, in die Welt des Erzählens und der Geschichten führen. Die Wege dorthin sind vielfältig und beginnen an verschiedenen Ausgangspunkten; deshalb haben wir uns entschieden, die Wegbeschreibung nicht als Buch mit einer linearen Abfolge zu veröffentlichen, sondern als Sammlung von Übungen, Spielen, Projekten und Hintergrundtexten. Damit haben Sie die Möglichkeit, eine Route festzulegen, die den Bedürfnissen der Klasse am besten entspricht, und die Ihnen und den Kindern die größte Freude bereitet.

Ein Reiseleiter muss immer ein bisschen mehr als seine Gruppe wissen; daher haben wir speziell für Sie im Kapitel „Hintergrundwissen“ einiges zusammengetragen, was im Zusammenhang mit mündlichen Erzählungen zu erfahren nützlich ist.

Lebendig Erzählen bedeutet:

...Selbst-Erfahrung

Menschen erzählen, um sich ihrer selbst und ihrer Umwelt zu versichern; Erfahrungen, Ängste, Wünsche werden mitgeteilt und damit mit anderen geteilt. Sprechen auf der einen, Zuhören auf der anderen Seite sind dabei Vorgänge, die sich an der Oberfläche höchst komplexer Prozesse ereignen. Darunter stellen sich dem Erzähler wie auch dem Zuhörer ganz andere, mit Worten oftmals schwer zu beschreibende Aufgaben: Komme ich in Kontakt mit meinen inneren Bildern? Kann ich der Geschichte folgen, ohne dass mich die damit verbundenen Gefühle überwältigen oder zum Verstummen / zum Abschalten bringen? Wie kann ich am Erzählen die größtmögliche Freude über das „Hier“ und „Jetzt“ empfinden?

Die Komplexität dieser Prozesse und die individuell höchst unter-schiedliche Erfahrung des Erzählens wie auch des Zuhörens macht es unmöglich, einheitliche und objektive Kriterien für „gutes“ Erzählen zu finden; Fragen nach Deutlichkeit der Aussprache, Wortwahl, Sprechgeschwindigkeit bewegen sich immer nur an der physikalisch wahrnehmbaren Oberfläche des Prozesses. Daher halten wir es nicht für sinnvoll, Fortschritte der Schüler anhand von Bewertungsbögen oder Checklisten messen zu wollen. Erzählen und Zuhören haben einen ähnlichen ästhetischen Selbstwert wie Malen, Tanzen oder Spazierengehen. Entscheidend ist eigentlich nur die Frage: Tue ich es gerne? Empfinde ich Freude dabei? Wenn nicht, was kann ich daran ändern?

... Mündlichkeit

Im Mittelpunkt steht die Freude an der freien, spontanen Benutzung der Sprache. Eine Geschichte wird nie gleich erzählt, der Moment des Erzählens ist einzigartig und nicht wiederholbar. Die Mündlichkeit gehorcht anderen Gesetzen als die Schriftlichkeit und hat auch ganz andere Möglichkeiten der Gestaltung.

Dieses Buch ist ein Produkt der Schriftkultur, möchte aber in den Anregungen zur Vermittlung dem Konzept der Mündlichkeit gerecht werden. Das hat zur Folge, dass es in diesem Falle keine Kopiervorlagen gibt, die an die Kinder weitergegeben werden. Je weniger sie in diesem Zusammenhang mit vorgegebenen Texten zu tun haben, desto leichter wird es ihnen fallen, zu der ihnen jeweils eigenen Erzählsprache zu finden.

... Eigenständigkeit im Schulalltag

So verstandenes Erzählen führt in der Grundschule ein Schattendasein. Denn überwiegend findet mündliches Erzählen seinen Platz als Vorbereitung auf die schriftliche Erlebniserzählung, die den Schwerpunkt im Teilbereich Sprachgebrauch darstellt. Für andere Formen bleibt bei der Umsetzung der Fülle an verbindlichen Lernstoffen des Lehrplans oft keine Zeit mehr. Sehr verbreitet ist außerdem der Montagmorgen-Erzählkreis, bei dem die Kinder vom Wochenende erzählen dürfen. Hier findet aber eher eine Aufzählung der Freizeitaktivitäten oder schlimmstenfalls die Nacherzählung der gesehenen Fernseh- oder Kinofilme statt, und die Gelegenheit wird möglicherweise auch nur von den Kindern genutzt, die ohnehin gerne erzählen – glücklicherweise, denn sonst würde dieser Erzählkreis ohnehin viel zu lange dauern.

Auch unsere gesellschaftliche Situation, die immer mehr von audiovisuellen Medien und Virtualität geprägt wird, trägt nicht dazu bei, das mündliche Erzählen, wie auch die zwischenmenschliche Kommunikation allgemein zu fördern.

Um so mehr sollte in der Schule versucht werden, dem entgegen zu steuern und die Erzählressourcen aller Kinder, so versteckt sie auch sein mögen, herauszulocken, aufzugreifen, zu unterstützen und zu fördern.

Dazu sind einige Voraussetzungen nötig: gedankliche, räumliche, pädagogische und organisatorische. Hier soll versucht werden, diese ganz kurz in einigen Thesen zu formulieren.

Um die Kinder zum Erzählen zu motivieren und ihre diesbezüglichen Fähigkeiten zu fördern brauchen wir vor allem....

... Zeit und Geduld

Es ist besonders wichtig, dass im knapp bemessenen Stundenpool genügend Zeit für das Erzählen abgezwackt wird. Das heißt, dass Erzählrunden und Erzählspiele, möglicherweise wie Rituale, ihren festen Platz in der Planung einer Unterrichtswoche bekommen, aber gleichzeitig der zeitliche Rahmen offen bleiben kann. Es gibt Erzählrunden, die sich zäh hinziehen und schnell beendet sind, weil niemand eigentlich etwas erzählen will, aber auch solche, die vergnüglich sind und in der vorgesehen Zeit nicht beendet werden können.

Zu berücksichtigen ist hierbei auch das Konzentrations- und Durchhaltevermögen der Kinder als Zuhörer. Dieses kann durchaus erheblich von denen Erwachsener abweichen: Was uns eher langweilt, finden Kinder oft interessant. Sie können zum Beispiel einer – in den unseren Augen eher spannungslosen – Aufzählung von Ereignissen lange lauschen, wenn sie den Erzähler mögen, und er ab und zu eine lustige Szene einbaut und selbst darüber lachen muss. Sprachlich schwächere Schüler haben dadurch eine Chance, bei den anderen Kindern gerne gehört zu werden. Versuchen Sie, sich mit Geduld zu wappnen – wenn Sie ein wenig Gespür dafür entwickeln, was die Klasse „aushält“ – ist die erste Voraussetzung für erfolgreiches Erzählen schon geschaffen.

... Vorbilder

Haben Sie schon einmal einem professionellen Geschichtenerzähler oder Geschichtenerzählerin einen Abend lang gelauscht? Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit. Es muss auch gar kein Profi sein. Wenn man darauf achtet, wird man in seiner privaten Umgebung Leute ausfindig machen, die gerne und unterhaltsam erzählen. Und dann vielleicht entdecken, dass es einem selbst Freude bereiten kann. Für manche Eltern sind die eigenen Kinder – und damit verbunden die Erinnerungen an die eigene Kindheit – Anlass, sich auf das Erzählen zu besinnen. In der Familie gibt es keine große Hemmschwelle und Kinder sind besonders dankbare Zuhörer. Von einer spannend erzählten Geschichte sind sie noch mehr fasziniert als von einer vorgelesenen.

Im Schulalltag sind Sie als Vorbild gefordert. Wenn Sie ab und zu selbst Geschichten erzählen, hat das eine stark motivierende Wirkung auf Ihre Schüler. Durch die Verbreitung elektronischer Unterrichtsmedien hat die Lehrererzählung als methodische Variante der Stoffvermittlung vor allem im Sachunterricht zwar nicht mehr die Bedeutung wie früher, ist aber noch durchaus üblich. Wenn man gut vorbereitet ist und frei über einen Unterrichtsstoff erzählen kann, sind die Schüler sehr fasziniert; dies gilt um so mehr für literarischere Erzählungen. Am Anfang braucht es gründliche Vorbereitung und ein bisschen Übung, dann findet man Spaß daran, es fällt immer leichter und geht dann natürlich – wenn man ein gewisses Repertoire hat – auch spontan. Für‘s Repertoire empfiehlt es sich eine Sammlung von guten Kurzgeschichten anzulegen, die man gehört oder gelesen hat, evtl. in Form einer Kartei. Es werden von professionellen Geschichtenerzähler*innen auch Workshops angeboten.

... Beobachtung statt Beurteilung

Damit bei den Schüler*innen Hemmschwellen abgebaut werden, ist die Zurückhaltung der Zuhörer*innen ein sehr wichtiges Element. Es muss unbedingt auf Einhaltung der Erzählregeln (siehe Anhang) geachtet werden. Immer wird es Kinder geben, die von Anfang an sehr gut erzählen können. Davon lernen die anderen. Die sprachlich schwächeren Schüler werden anfangs ruhiger sein und mehr zuhören, manche vielleicht monatelang. Das sollten Sie zulassen und erste Versuche dieser eher schüchternen Kinder dann nicht beurteilen, sondern nur positiv verstärken als Ermunterung zum Weitermachen. Durch genaues Beobachten wird man die richtigen Hilfestellungen für die gehemmten Kinder finden. Hilfen für solche Kinder finden sich auch im Kapitel Erzählübungen. Auch diese Beobachterrolle wird ihre Vorbildwirkung bei den anderen Kindern haben, die dann verschiedene Erzählstile und –qualitäten als Ausdruck der Persönlichkeit der Kinder sehen und tolerieren können.

... Stimme

Die Wirkung einer Erzählung ist an den Klang und die Verständlichkeit der Stimme gebunden. Dabei spielen Lautstärke und deutliche Artikulation eine wichtige Rolle. Das ist zwar auch eine Sache der Persönlichkeit, aber es kann beides auch trainiert werden. Hierzu kann verwiesen werden auf Methoden des Musikunterrichts wie Stimmbildungsübungen oder Sprechgesang- oder Sprachspiele. Einige Beispiele finden sich im Abschnitt Sprechübungen. Eine Rückkoppelung für den Erzählenden kann durch eine Reflexionsrunde nach einer Erzählzeit ermöglicht werden.

... Zuhören

Erzählen ist nur möglich, wenn ein Publikum da ist, das zuhört. Das heißt, wenn wir Erzählen fördern wollen, müssen wir gleichzeitig die Hör- und Zuhörfähigkeiten der Kinder schulen – auch das setzen wir oft voraus und machen es nicht bewusst zum Unterrichtsziel. Auch wenn bei den Erzählübungen immer gleichzeitig eine Hörübung stattfindet, sollten immer wieder reine Hörübungen durchgeführt werden, bei denen die Aufmerksamkeit der Kinder auf das Hören an sich gelenkt wird, und die ihnen interessante Erfahrungen ermöglichen. Hier gibt es wieder viele Querverbindungen zum Musikunterricht. Zur Förderung von bewusstem Hören und Zuhören gibt es fast unbegrenzte Möglichkeiten, von der Wahrnehmung von Geräuschen und Klängen, Stilleübungen über Hörspaziergänge mit verbundenen Augen bis zu Musik und Hörspielen. Einige Beispiele finden Sie im Abschnitt Hörübungen, weitere Anregungen in den Literaturhinweisen.

... Freiwilligkeit

Kinder können nicht zum Erzählen gezwungen werden. Besser ist es, möglichst viele Erzählsituationen zu schaffen, auch nur für kurze Statements, dadurch wird das Erzählen alltäglich. Spielformen können motivieren. Partner- oder Gruppenarbeiten helfen schüchternen Kinder, Hemmschwellen abzubauen. Wenn man ihm viel Zeit lässt, dann wird sich auch das schüchterne Kind irgendwann freiwillig melden zum Erzählen – und mehr Beifall dafür bekommen, als die, die sowieso immer erzählen.

... entspannte Atmosphäre

Einige der bisher genannten Voraussetzungen tragen schon viel bei zur Schaffung einer entspannten Atmosphäre, die eine wesentliche Grundlage für das freie Erzählen darstellt. Nur in einer entspannten Umgebung entstehen gute Ideen, Lust am Geschichten ausdenken und wenn einer anfängt, steckt es die anderen an. Wenn Sie selbst öfter mal einen Witz oder eine Geschichte erzählen, fällt den Kindern sofort auch etwas ein. Wenn sich zufällige Gelegenheiten dafür bieten, sollte ihnen Raum gelassen werden. Viel Beifall und positive Verstärkung sind ebenso wichtig wie eine aufmerksame Zuhörerschaft. Das alles trägt dazu bei, dass Kinder gerne erzählen und auch weniger Erzählfreudige ihre Hemmschwellen überwinden.

... Lachen

Lachen ist natürlich erlaubt, ja sogar sehr wichtig: es entspannt und macht gute Stimmung. Lustige Geschichten kommen immer gut an.

Aber: Auslachen ist das Schlimmste! Es muss streng sanktioniert werden, denn es kann den größten Schaden anrichten und einen einmal erzielten Lernerfolg mit einem Schlag zunichte machen. Es muss darüber gesprochen werden, wie man sich fühlt, wenn man ausgelacht wird.

Wenn es öfter vorkommt, muss ein unverbesserlicher „Auslacher“ möglicherweise sogar zeitweise aus der Erzählrunde ausgeschlossen werden.

... Rituale

Manche Erzählanlässe oder –spiele könnten den Charakter von Ritualen im Unterrichtsalltag bekommen, das heißt ihren täglichen oder wöchentlichen festen Platz im Stundenplan finden. Zum Beispiel: jeden Montagmorgen wird vom Wochenende erzählt; immer wenn ein Gast in die Klasse kommt, gibt es eine Vorstellungsrunde; jeden Morgen legen wir im Morgenkreis ein Stimmungsbarometer oder stellen den Erzählhocker auf, falls jemand etwas erzählen will.

Eine regelmäßige Struktur gibt den Kindern Sicherheit. Das Erzählen wird etwas alltägliches, ganz normales, jeder erzählt mal etwas und es muss nicht etwas ganz Besonderes sein. Dadurch werden wiederum Hemmschwellen abgebaut.

... Übung

Für das Erzählen gelten wie für das Lernen überhaupt allgemeine Grundsätze:

- mit einfachen Übungen beginnen

- Schwierigkeitsgrad langsam steigern

- Überforderung vermeiden

- lieber öfter und kürzer üben

- für Abwechslung sorgen

- spielerisch vorgehen

- Freude erleben

Wir haben versucht, die einzelnen Beispiele für Erzählübungen und Projekt nach aufsteigendem Schwierigkeitsgrad anzuordnen. Auch sind in einzelnen Beispielen konkrete Hinweise auf den Schwierigkeitsgrad und besondere Voraussetzungen gegeben.

... Aufbewahrung

Eingangs haben wir auf die Mündlichkeit als besonderen Aspekt des Erzählens hingewiesen. Im Medienzeitalter gibt es nun aber gerade für die Mündlichkeit hervorragende Möglichkeiten der Konservierung - auch wenn diese nie die Spontaneität und Lebendigkeit der Live-Erzählung ersetzen sollten. Nutzen Sie Ton- und Filmaufnahmen zur Aufzeichnung von Erzählungen – die Kinder werden begeistert sein, noch motivierter erzählen, viel daraus lernen für die Verbesserung ihrer Erzähltechniken und bleibende Erinnerungen an ihre Kinderstimmen erhalten.

Von der Sprechübung zum freien Erzählen

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