Читать книгу Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat? - Martin H. Geyer - Страница 20

Ankunft in einer Hungergesellschaft

Оглавление

Seit dem Frühjahr 1919 pendelte Julius Barmat zwischen Amsterdam und Berlin. Die Grenzübertritte in Bentheim waren mühsam. Die Passagiere wurden genauestens unter die Lupe genommen. Der Schmuggel von Devisen und Waren aller Art blühte. Ob sogenannte Grenzempfehlungen Barmat in irgendeiner Weise den Übergang erleichtert haben, war 1925 ein großes Thema. Die auf Papier des Reichspräsidentenamtes geschriebenen Empfehlungen, die, wie später aufgeklärt wurde, Friedrich Eberts Privatsekretär Franz Krüger (SPD) ausgestellt hatte, zeigten auf jeden Fall ihre Wirkung.49

Bei seinen Besuchen in Berlin wohnte der Kaufmann standesgemäß im Central Hotel, später dann im Hotel Bristol, die zu den besten der Reichshauptstadt gehörten. Zunächst reiste er mit befristeten Visen nach Deutschland ein; erst 1922 beantragte er in Berlin für sich, seine Frau und seinen Sohn erfolgreich eine Aufenthaltsbewilligung, wobei er auf seine Firmen und ein Empfehlungsschreiben des damaligen Reichsschatzministers Gustav Bauer (SPD) verwies.50 Als sich Barmat Anfang 1923 dann dauerhaft in Berlin niederließ, wählte er als Domizil ein Landhaus auf der Havelhalbinsel Schwanenwerder. Wenngleich es sich dabei keineswegs um ein »Schloss« handelte, wie später vielfach behauptet wurde, wohnten auf dieser »Insel der Seligen«, einem Villenviertel im Südwesten Berlins mit Bootsanlegestellen für die Seegrundbesitzer, all diejenigen, die von sich sagen konnten, finanziell wohlauf zu sein. Das waren kaum mehr als zehn Familien, deren Haushaltsvorstände zumeist im Finanzwesen tätig waren.51

Barmats Ex- und Importgeschäfte mit Lebensmitteln, Textilien und Lumpen liefen prächtig. Nicht nur Deutschland, sondern auch die Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Habsburgermonarchie waren, wie man damals norddeutsch zu sagen pflegte, ausgepowert. Die Stimmung war schlecht. In der Nachkriegsgesellschaft mangelte es an allem, an Nahrungsmitteln nicht weniger als an Kleidung, Kohle und Papier. Zudem waren Geschäftskontakte unterbrochen, es herrschte eine extreme Devisenknappheit und es gab, wie im Falle der Niederlande, zum Schutz der einheimischen Bevölkerung Exportverbote.

Der Waffenstillstand hatte für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zunächst nicht die erhoffte große Wende gebracht. Großbritannien hielt die Seeblockade aufrecht. Zugleich war seit der Novemberrevolution 1918 das ohnehin prekäre System der öffentlichen Versorgung mit Nahrungsmitteln ins Wanken geraten. Landwirte unterliefen aus eigennützigen, viele meinten auch aus politischen Gründen die öffentliche Lebensmittelzwangswirtschaft mit ihren Preisregulierungen zugunsten der Konsumenten; der Handel hortete Waren, um sie später teurer zu verkaufen. So lautete jedenfalls der nicht ganz unbegründete öffentliche Generalverdacht gegen Produzenten und Handeltreibende. Zugleich blühte der von Produzenten wie Konsumenten gleichermaßen in Gang gehaltene Schwarzmarkt, auf dem Preise gefordert wurden, die weit über die festgesetzten Höchstpreise hinausgingen. Viele halfen sich selbst. Männer, Frauen und Kinder zogen aufs Land und beschafften sich, wenn nicht legal, dann vielfach durch Diebstahl, darunter Feldplünderungen, was sie sich vor allem in den Großstädten für Papier- und blechernes Notgeld nicht mehr oder nur im Tausch gegen andere Sachwerte beschaffen konnten. Der Fotograf Felix Römer hat diese Berliner Hungergesellschaft in eindringlichen Bildern dokumentiert.52

Ernährungsfragen waren das Tagesgespräch. Hunger, exzessive, »unangemessene Preise« und die realen wie vermeintlichen Ausschweifungen von »Schlemmern« empörten, so wie das Schlangestehen und die Jagd nach Fett, Zucker und anderen knappen Waren entnervten. War das der Boden für die politische Radikalisierung, ja für die Anfälligkeit der Städter für den Bolschewismus? Die fatalen revolutionären Ereignisse in Russland standen als Menetekel im Raum. So sahen es jedenfalls viele Mitglieder der sozialdemokratischen Regierungen der jungen Republik, die mit spartakistischen Aktionen und Aufständen im Winter 1918/19 zunächst in Berlin und seit dem Frühjahr auch in anderen Teilen des Reiches konfrontiert waren. Die Devise hieß: Sicherstellung der Volksversorgung – egal was es koste.53 Schon aus diesem Grund war der offenkundig finanzkräftige Amsterdamer Kaufmann Julius Barmat ein gefragter Mann.

Barmat nutzte die Gunst der Stunde. Zupass kam ihm dabei die von seinen Brüdern, Freunden und auch von seinen Feinden vielfach bekundete soziale Gabe, auf Menschen zuzugehen, sie zu bereden, auch zu überreden und an sich zu binden. Einige waren davon abgestoßen, zumal sie hinter der menschlichen Geste blankes Kalkül witterten. Andere waren dagegen von ihm angezogen, wobei schwer zu entscheiden ist, was ihn so attraktiv machte: seine weltoffene Persönlichkeit, die großzügig aus Holland mit der Post verschickten »Liebesgabenpakete« oder andere kleine Geschenke, Zuwendungen und kleine »Privatkredite«, die er Freunden und Bekannten geradezu aufdrängte. Wann kam es schon vor, dass ein »Guldenmillionär«54 auch mit einfachen Leuten sprach? Barmat wirkte aber auch deshalb anziehend, weil er ganz offensichtlich etwas bewegte und über Verbindungen verfügte, von denen auch andere profitierten. Zweifellos war er ein Genie wirtschaftlicher und finanzieller Betriebsorganisation, in den durchaus pejorativ gemeinten Worten der niederländischen Polizei: »buitensporig handig« und »an geheel juist«, was soviel heißt wie »ungeheuer clever« und »geölter Jude«.55

Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?

Подняться наверх