Читать книгу Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat? - Martin H. Geyer - Страница 7
Grenzen einer biografischen Annäherung
ОглавлениеJournalisten, Schriftsteller, Staatsanwälte, Parlamentarier und Ministeriale haben Tausende von Blättern beschrieben und sich mit dem Fall von Julius Barmat befasst. War der frühere Kaufmann ein Unternehmer, der sich wie so viele andere seiner Zunft überschätzte und verhob? Oder ein gerissener Finanzier und Spekulant, der sich – wie schon zuvor in Holland und später in Belgien – der neuen politischen Klasse der Republik angedient und diese in seine Machenschaften verstrickt hatte? War Barmat ein opportunistischer Sozialist, in dessen Haus in Amsterdam 1919 Vertreter der Sozialistischen (Zweiten) Internationale verkehrt hatten, oder gar ein verkappter »jüdischer Bolschewist«? Solche Gerüchte kursierten in der oppositionellen linken wie rechten Presse. Dass er jüdischer Konfession war, ein Ostjude, wie man damals sagte, war dabei keine Nebensächlichkeit.
Die Antwort auf die Frage, wer Julius Barmat war, scheint auf den ersten Blick einfach, bedenkt man die dichte Überlieferung von Quellen, die sich mit ihm befassen, und die fast überbordende, mit Skandalen verbundene Ereignisgeschichte. Aber das täuscht. Die Unsicherheit beginnt mit der Frage, welchen Vornamen er sich selbst in einer Darstellung gegeben hätte: Julius, wie er seinen Namen bei deutschen Behörden angab, oder Judko, wie er sich in den Niederlanden nannte und wie ihn auch einige seiner deutschen Freunde ansprachen, was im Munde seiner Feinde aber einen pejorativen Klang hatte? Judko ist eine im Jiddischen verbreitete, nicht nur auf die Kindersprache beschränkte Koseform von Yehuda, ein Name, den Barmat selbst aber offenbar nie benutzte.14 Zahlreiche weitere Fragen, die seine Biografie betreffen, lassen sich nicht beantworten. Das vorliegende Buch macht sich aber auf eine Spurensuche, die uns auf viele Wege, darunter manche Umwege bringt, aber auch zu neuen Erkenntnissen führt.15
Nach Jahrzehnten geringen Interesses haben zwar einige neuere wissenschaftliche Arbeiten Licht auf den Fall Barmat geworfen. Einen breiten Raum nehmen dabei der Verlauf des Medienskandals sowie Fragen von Antisemitismus und Korruptionsdebatten ein. Der Skandal wurde in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus eingeordnet, der selbst das korrupteste Regime der deutschen Geschichte war, aber mit dem Slogan des Kampfes gegen »jüdische« und »republikanische Korruption« antrat.16 Aber in all diesen neueren Darstellungen ist der Name Barmat meist als Chiffre präsent. Seine Person bleibt eigentümlich vage, fast ein Phantom. Diese Distanz ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass im babylonischen Sprachengewirr der Skandale eine Stimme fehlt: nämlich die von Julius Barmat selbst. Und nicht nur das: Barmats wirtschaftliche Aktivitäten, der Verdacht des Betrugs, ja mehr noch, alle Spekulationen über seine Person bleiben im Dunst der Vermutungen und vielfach unbewiesenen Tatsachen.
Das biografische Genre lebt in der Regel von der Verfügbarkeit von Ego-Dokumenten. Sie machen den Kern einer Biografie aus, stellen Selbstzeugnisse doch eine Nähe und »Unmittelbarkeit zu ihrem Helden« (Hans Erich Bödeker) her.17 Das gilt selbst dann, wenn der Name des Protagonisten negativ konnotiert ist.18 Das Fehlen eines Nachlasses sowie die Tatsache, dass persönliche Briefe und andere Ego-Dokumente nur spärlich überliefert sind und die meisten Quellen zu seiner Verteidigung nicht von Julius Barmat selber, sondern von juristisch argumentierenden Rechtsanwälten stammen, verweisen auf die spezifischen Voraussetzungen und Grenzen der vorliegenden biografischen Annäherung. Hinsichtlich der wenigen Ego-Dokumente ist die Geschichte Julius Barmats vergleichbar mit der des französischen »Unbekannten« aus der Provinz, dessen Lebensgeschichte der Historiker Alain Corbin in einer anregenden historischen Darstellung rekonstruiert hat.19 Aber im Gegensatz zu diesem Unbekannten führte Barmat kein »ganz gewöhnliches Leben«. Barmats Geschichte handelt vielmehr vom ungewöhnlichen Leben eines bekannten Unbekannten. Denn seit den aufwühlenden Tagen des deutschen Barmat-Skandals 1925, den sich hinziehenden rechtlichen Untersuchungen und dann den neuen Skandalisierungen in Belgien, Holland und Frankreich gingen sein Name und seine Biografie in öffentlich-medialen Besitz über.
Die Biografie Barmats schrieben andere, indem sie seinen Namen als Metonymie, Stigma und als Projektionsfläche benutzten:20 für Demokratie und ihre mögliche Dekadenz, für Korruption, Abwege von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, unlauteres wirtschaftliches Gebaren sowie einen »jüdischen Kapitalismus« seit dem Krieg. Diese eng miteinander verschränkten Leitthemen, die in zentrale Felder der politischen, sozialen und kulturellen Konfliktgeschichte der Zwischenkriegszeit führen, stehen im Mittelpunkt dieses Buches.