Читать книгу Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat? - Martin H. Geyer - Страница 8
Demokratie, Kapitalismus und politische Moral
ОглавлениеIn der zeitgenössischen politischen Sprache wurde der Name Barmat binnen kurzer Zeit zu einer hochemotionalen Metonymie, mit der Kritiker gleichermaßen die wirtschaftliche, politische und moralische Korruption von konkreten Personen sowie die Weimarer Republik und das demokratische System im Allgemeinen thematisierten: »Barmatpartei«, »Barmatrepublik«, »Barmatsumpf« und »Barmatiden« waren bald gängige polemische Kampfbezeichnungen, die aus dem Vokabular der oppositionellen radikalen Linken in das der Konservativen und vor allem der Völkischen diffundierten, sich dort einnisteten und die in den meisten Fällen auf die SPD gemünzt waren.21 In Verbindung mit zahlreichen zirkulierenden Bildern provozierten solche Begriffe politische Emotionen, die von Verachtung bis hin zu Hass reichten und zugleich individuelle und kollektive Weltdeutungen lieferten.22 Julius Barmat verkörperte ein »System«, und das bezeichnenderweise nicht nur in Deutschland. Wie zu sehen sein wird, verweist der Fall Barmat auf eine europäische Dimension der Auseinandersetzungen, die sich allesamt auf dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkriegs, der Inflation und dann der großen Weltwirtschaftskrise auf einem dezidiert politisch-ökonomischen Feld abspielten.
Die polemische Verwendung des Namens wie der Biografie durch die Gegner ging in Deutschland wie dann später in Frankreich und Belgien mit einer Vermischung des Falles und des Namens Barmat mit anderen ähnlich gelagerten Fällen einher. Neben Julius und seinem Bruder Henry Barmat standen der schon erwähnte litauische Waffenhändler Iwan Kutisker, der ursprünglich aus Frankfurt stammende Berliner Unternehmer und Finanzier Jakob Michael sowie eine ganze Reihe anderer mehr oder minder zweifelhafter Unternehmer und Banker im Visier der Staatsanwaltschaft.23 All das hat bis heute viele Verwechslungen zur Folge, nicht nur was die Namen, sondern auch die den jeweiligen Personen zugeschriebenen Delikte betrifft. Denn Verdächtigungen und tatsächliches Fehlverhalten in dem einen Fall wurden vielfach auf andere Fälle projiziert. Darüber hinaus vermischten die Zeitgenossen unterschiedliche Sachverhalte und Zusammenhänge, in welche die Personen involviert waren und die sich im Einzelfall potenzieren konnten: Betrug, Bestechung, Konkursverschleppung, Korruption, Wucher, »Luftgeschäfte«, Spekulation sowie Kriegs-, Inflations- und Deflationsgewinnlerei. Das war ein ganzes Syndrom von realen und vermeintlichen Wirtschafts- und Finanzdelikten, die alle in einem grauen Feld zwischen öffentlicher Empörung und (Wirtschafts-)Kriminalität angesiedelt waren.24
Ausgehend von der Geschichte Julius Barmats werden diese verschiedenen Themen im vorliegenden Buch zusammengeführt. Anders formuliert: Es geht sowohl um konkrete Handlungspraxen als auch um Diskurse und vielfältige Zuschreibungen. Insofern handelt es sich um eine Geschichte aller nur möglichen »Gespenst[er] des Kapitals« (Joseph Vogl), die aber in unserem Zusammenhang an konkrete Situationen, Handlungen und Personen zurückgebunden werden.25 Und nicht nur das: Ob Spekulantentum oder Korruption, immer ging es, worauf Jens Ivo Engels in Bezug auf Korruption hingewiesen hat, neben Demokratie- auch um Kapitalismuskritik.26
Diese Kritik bezog sich auf die Überschreitung von rechtlichen Normen wie von sozialmoralischen und ethischen Grenzen, darunter an erster Stelle die Grenzen der politischen Moral. Die Geschichte Barmats ist die Geschichte der Skandalisierung von Verletzungen von Normen und Regeln, von Grenzüberschreitungen in Politik, Wirtschaft und Recht und damit eine Geschichte von Ein- und Ausgrenzungen. Anknüpfen kann die Darstellung an neuere Arbeiten zu Wirtschafts-, Politik-, Sex- oder Kolonialskandalen, die zeigen, wie zentrale Normen, Regeln und Grenzen einer Gesellschaft diskursiv verhandelt werden.27 Damit lassen sich Vorstellungen von Normalität und Ordnung identifizieren, aber auch die allgegenwärtige Unterscheidung des »Wir« von den »anderen« und damit auch von Freund(en) und Feind(en), Unterscheidungen, die insbesondere im deutschen Denken der Zwischenkriegszeit, einer Zeit realer Grenzkämpfe, so tief verankert waren.28
Julius Barmat wird in diesem Buch als ein Grenzgänger des Kapitalismus beschrieben. Das bedarf zunächst der Erläuterung. Unternehmer und Banker, weniger dagegen Kaufleute, wurden in den letzten Jahren zu einem beliebten Genre der Wirtschaftsgeschichte. Neben hagiografischen Darstellungen ist vieles davon sogenannte Auftragsforschung, also der Finanzkraft der familiären oder institutionellen Nachfahren zu verdanken; oft geht es dabei um die »Aufarbeitung« und Aufklärung von Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus. In der Regel stehen hier »große« Unternehmerpersönlichkeiten im Mittelpunkt – selbst wenn sie scheiterten.29 Erstaunlich wenig wissen wir dagegen über die vielen »Pleitiers und Bankrotteure«, geschweige denn über das breite Spektrum von Gaunern, halbseidenen Geschäftsleuten und Angestellten, einschließlich jener ehrbaren Kaufleute und Manager, von denen manche heute noch gefeiert werden und morgen schon durch ein Fenster aus dem Justizpalast fliehen.30 Und nur schwer sind die Grenzüberschreitungen zu fassen, die feinen Linien, die Seriosität und Legalität von Anrüchigkeit und Betrug trennen – und das gelegentlich in einer einzigen Person.31 Viel ist geschrieben worden über die besonders in deutschen Studierstuben populäre »protestantische Ethik« und den »bürgerlichen Wertehimmel«, wenig dagegen über die in diesem Buch in den Blick genommenen Personen und ihre sich oft in Grenzbereichen bewegende Moral, für die Schriftsteller wie Theodor Dreyser und Émile Zola oder neuerdings Filmemacher vielleicht einen besseren Blick als Wissenschaftler haben.32 Mit Sicherheit gab es sie häufiger, als die unternehmensgeschichtliche Literatur Glauben macht. Das zeigen vor allem neuere Arbeiten zu den USA.33
Wenn Julius Barmat also vor diesem Hintergrund als Grenzgänger des Kapitalismus bezeichnet wird, appelliert das nur vordergründig an die Tatsache seiner – vielfach skandalisierten – Überschreitung von Staatsgrenzen im geschäftlichen wie privaten Verkehr. Vielmehr geht es um jene Aspekte, die seit jeher mit der Zerstörungskraft kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in Verbindung gebracht wurden, wie etwa das Überschreiten moralischer Standards bzw. das Senken der »wirtschaftlichen Grenzmoral« (Götz Briefs). Kriegs- und Inflationsgewinnler waren andere zeitgenössische pejorative Begriffe für solche Grenzgänger.
In diesem Zusammenhang wird hier auf das spezifische Konzept des »politischen Kapitalismus« zurückgegriffen, ein idealtypischer Begriff, den Max Weber schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Diskussion einführte und den er von einem »rationalen Kapitalismus« abgrenzte. Dabei ging es ihm, und das ist wichtig im Auge zu behalten, um eine Systematisierung der »kapitalistische[n] Orientierung des Erwerbs«, mithin um Formen von Handlungs- und Erwerbsorientierungen von Individuen.34
Mit dem Begriff politischer Kapitalismus zielte der Polyhistor Weber zuallererst darauf ab, Phänomene vormoderner Gesellschaften, einerseits der vormodernen Vergangenheit der okzidentalen Welt und andererseits der Gegenwart auch der vormodernen, nicht okzidentalen Welt, zu beschreiben.35 Fündig wurde er vor allem in der Geschichte der Antike, der Frühen Neuzeit sowie außerhalb Europas, wo er einen engen Nexus zwischen Politik und wirtschaftlichen Interessen und andere Formen des Erwerbsgeistes jenseits der Moderne entdeckte. Es ist ein Kapitalismus, der auf der spezifischen Ausbeutung politischer Macht durch wirtschaftliche Akteure basierte. In seinen Worten hieß das: »Orientierung an Chancen des kontinuierlichen Erwerbs kraft gewaltsamer, durch die politische Gewalt garantierter Herrschaft«; dazu zählte er das koloniale Wirtschaftssystem ebenso wie die Sklaverei und die Verleihung fiskalischer Privilegien, wie etwa die frühneuzeitliche Steuer- und Amtspacht. In diese Rubrik fällt auch der sogenannte »Beutekapitalismus«, sei es in Form staatlich sanktionierter Piraterie, sei es in Form gewaltsamer kolonialer Landnahme.36 Kennzeichnend für diesen »politischen Kapitalismus« war für ihn überdies die »Orientierung an Chancen des aktuellen Beuteerwerbs von politischen oder politisch orientierten Verbänden oder Personen: Kriegsund Revolutionsfinanzierung oder Finanzierung von Parteiführern durch Darlehen und Lieferungen« sowie eine »Orientierung an Chancen des Erwerbs durch außeralltägliche Lieferungen [an oder von] politische[n] Verbände[n]«.
Diese Phänomene des Erwerbsstrebens seien in der modernen okzidentalen Welt nicht ganz verschwunden, wie Weber meinte. Aber seiner Ansicht nach waren sie ökonomisch »irrational« und dysfunktional, und ihre Marginalisierung verlief dementsprechend parallel zur Durchsetzung des »rationalen Kapitalismus« wie des modernen Staates. Für den Ökonomen Weber war dieser »rationale Kapitalismus« historisch gesehen vergleichsweise neu und mit Blick auf seine Entstehungszeit seit der Frühen Neuzeit auch »modern«.37 Er umschrieb damit ziemlich genau das, was heute als Marktwirtschaft mit funktionierenden, freien und arbeitsteiligen Faktorenmärkten für Boden, Kapital und Arbeit bezeichnet wird. Hier herrschen idealerweise die Regeln eines kompetitiven Marktes, vermittelt nicht zuletzt durch eine stabile Geldwirtschaft und über rationale, nämlich marktkonforme »Spekulationen« an den Börsen, die das Verhalten von Marktteilnehmern steuern. Für den Staatswissenschaftler und Historiker Weber waren dabei die Funktions- und Integrationsfähigkeit des modernen Steuerstaates von Bedeutung.38
Wenn im Folgenden vom politischen Kapitalismus gesprochen wird, geht es nicht darum, diese Erklärungen Webers, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Modernisierungsprämissen, zu bestätigen oder zu widerlegen.39 Es soll vielmehr gezeigt werden, welche Ausformung der Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit erlebte, was daran »politisch« war und welche Kritik sich hieran entzündete. Das führt ins Zentrum nicht nur zeitgenössischer Kapitalismusdiagnosen und der Kapitalismuskritik,40 sondern auch staatsrechtlicher Fragen etwa im Sinne eines Carl Schmitts.
Die Frage, wer Julius Barmat war, handelt von modernen Varianten dieses politischen Kapitalismus. Interessant und in unserem Zusammenhang nicht nebensächlich ist, dass der kritische Zeitbeobachter Weber offenbar schon während des Krieges nicht mehr so sicher war, ob der »rationale Kapitalismus« nicht schon bald eine »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) sein würde. Die Kriegswirtschaft und vor allem die bald aus dem Boden schießenden Nachkriegsneuordnungspläne versprachen seiner Meinung nach nichts Gutes, wobei Weber zunächst vor allem den Einfluss großwirtschaftlicher Interessen im Auge hatte. Blühte im Krieg nicht eine »rein politisch[e] Konjunktur: von Staatslieferungen, Kriegsfinanzierungen, Schleichhandelsgewinnsten und all solchen durch den Krieg wieder gigantisch gesteigerten Gelegenheits- und Raubchancen lebenden Kapitalismus und seiner Abenteurer-Gewinnste und -Risiken [auf], der gegenüber dem der Rentabilitätskalkulation des bürgerlichen rationalen Betriebs der Friedenszeit nicht die geringste Ahnung hat«? Und nicht nur das: Vor Webers Augen stand »ein wilder Tanz um das goldene Kalb, ein hasardierendes Haschen nach jenen Zufallschancen, welche durch alle Poren dieses büreaukratischen Systems quellen«, was das Aufblühen von »Schmarotzern«, »Tagedieben« und »Ladentischexistenzen« zur Folge hatte. Das war eine Anspielung auf die »hosenverkaufenden jüdischen Jünglinge«, von denen der einflussreiche Historiker Heinrich Treitschke gesprochen hatte; Weber sprach verklausuliert von der »›Verösterreicherung‹ Deutschlands«.41
Das sind alles Themen, mit denen sich dieses Buch auseinandersetzen wird. Dabei ist es keine Nebensächlichkeit, dass solche Positionierungen mit eklatanten religiösen, ethnischen wie rassischen Stereotypisierungen überformt waren. Denn wie die letztgenannten Zitate Webers illustrieren, schien der ältere »politische Kapitalismus« wenig mit jener »protestantischen Ethik« zu tun zu haben, in der für den Religionssoziologen der moderne »rationale Kapitalismus« wurzelte.42 Aber was war er dann? Just an diesem Punkt setzt die deutsche Selbstverständigungsdebatte über den Kapitalismus ein, die in der Auseinandersetzung Webers mit seinem Fachkollegen Werner Sombart schon vor dem Krieg begonnen hatte und die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.