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Segen aus Sicht der Religionswissenschaft 1. Theoretische Vorüberlegungen

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Wenn aus der Sicht der Religionswissenschaft zu einem Begriff wie ›Segen‹ ein Überblick über verschiedene religionsgeschichtliche Zusammenhänge gegeben werden soll, dann stellt sich dabei die grundsätzliche Frage nach der Vergleichbarkeit von religiösen Vorstellungen und Praktiken in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten. Die Religionswissenschaft hat in ihrer Geschichte den Spielraum zu solcher Vergleichbarkeit sehr unterschiedlich groß eingeschätzt.

In den Anfängen der Religionswissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert gab es zunächst eine Tendenz dazu, über die Unterscheidung zwischen ›Magie‹ und ›Religion‹ einen großen Teil der damals in den Kolonialgebieten Afrikas, Südostasiens und Ozeaniens vorgefundenen Vorstellungen und Praktiken als ›Magie‹ einzustufen und sie damit aus dem Begriff der Religion auszugrenzen. Als ›Religion‹ wurde nur anerkannt, was in einem engeren Sinn mit dem Christentum und seiner schriftlich fixierten Reflexivität vergleichbar erschien. So wäre aus der Perspektive dieser Epoche äußerst fraglich gewesen, ob es sich bei ›Segen‹ überhaupt um eine religiöse Vorstellung im engeren Sinne handelte, oder nicht vielmehr um eine eigentlich ›magische‹ Auffassung, von der dann allerdings Relikte auch in den schriftlichen Überlieferungen und in den gottesdienstlichen Praktiken von Judentum, Christentum und Islam aufzufinden wären.

Dem gegenüber wurde in der Religionsphänomenologie, die in |26|den 1930er bis 1950er Jahren zur vorherrschenden Richtung der Religionswissenschaft wurde, der Begriff der Religion wesentlich weiter gefasst. Den Ausgangspunkt dazu bildete der von Rudolf Otto (1869–1937) geprägte Begriff des Heiligen bzw. des Numinosen. Darauf aufbauend ging man davon aus, dass es einen gemeinsamen Grund für alle religiösen Vorstellungen in der Menschheitsgeschichte gäbe, und man betrachtete es als eine Aufgabe der Religionsforschung, diesen Grund aus der Vielzahl der religiösen Überlieferungen und Praktiken herauszudestillieren. Die eigene religiöse Erfahrung der Forschenden wurde dabei als ein wichtiges Instrument verstanden, um ein Gespür für den gemeinsamen Grund aller Religion entwickeln zu können. Weiter ging man davon aus, dass die Wirksamkeit des gemeinsamen Grundes aller Religion sich zeigen würde in einer Vielzahl von religiösen ›Phänomenen‹. Von diesen nahm man an, dass sie zwar hinsichtlich ihrer Einzelheiten in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten von Religion verschiedene Gestalten annehmen konnten, dass sie aber dennoch über Wesensmerkmale verfügten, die unabhängig von kulturellen Prägungen immer dieselben seien und ihren Ursprung letztlich im ›Heiligen‹ als dem gemeinsamen Grund aller Religion hätten. Unter diesem wissenschaftlichen Paradigma rückte das Konzept von ›Segen‹ sehr weit in das Zentrum dessen, worum es in der Religionsforschung ging, denn wie kaum ein anderer religionsvergleichend angewandter Begriff ist ›Segen‹ dazu geeignet zu veranschaulichen, was man unter einem religiösen ›Phänomen‹ im beschriebenen Sinne verstand.

Ab 1960 begann die Religionswissenschaft sich als eine kulturwissenschaftliche Disziplin neu zu formieren, die Religionen als zwischen Menschen kommunizierte Systeme von Bedeutungen versteht. Damit verbunden ist einerseits eine scharfe Abgrenzung gegenüber der Art, wie die Religionsphänomenologie den Grund aller Religion zum Gegenstand der Religionsforschung gemacht hatte, andererseits eine große Skepsis, was die Möglichkeit des Vergleichs zwischen religiösen Traditionen anbelangt. Unter dem neuen Paradigma wurde und wird die Bedeutung von religiösen Überlieferungen nur in Bezug auf den jeweils spezifischen kommunikativen Zusammenhang für interpretierbar gehalten, zu dem |27|sie gehört, während es als äußert problematisch gilt, Zusammenhänge dort herzustellen, wo sie von den Trägern der religiösen Überlieferung selbst nicht gezogen werden.

Wenn im Folgenden einige religiöse Bedeutungszusammenhänge vorgestellt werden, die sich für einen Vergleich mit israelitischen, jüdischen und christlichen Verständnissen von Segen anbieten, dann versteht sich dabei vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte, dass dies nicht bedeuten kann, nach einem über die verschiedenen religiösen Überlieferungen hinweg sich zeigenden ›Phänomen‹ zu suchen, das religionswissenschaftlich als ›Segen‹ bezeichnet werden könnte. Nach dem gegenwärtigen Selbstverständnis der Religionswissenschaft kommt der Begriff Segen für sie nicht mehr als ein wissenschaftssprachlicher Begriff in Frage, sondern nur noch als ein Begriff, der zur religiösen Sprache einiger Religionsgemeinschaften gehört, insbesondere derjenigen Gemeinschaften, die mit der Religion des alten Israel in einem Überlieferungszusammenhang stehen: Judentum, Christentum und Islam sowie einige der aus diesen hervorgegangenen neueren Religionsgemeinschaften.

Nach dem in diesem Kapitel verwendeten Verständnis von Religionsvergleich ist es über solche überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge hinaus möglich, die Bedeutungen von religiösen Überlieferungen unter dem Gesichtspunkt miteinander zu vergleichen, welche Stellung und Funktion sie innerhalb der religiösen Interpretation von menschlicher Wirklichkeitserfahrung einnehmen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die menschlich kommunizierten Bedeutungszusammenhänge, die wir gemeinhin als ›Religionen‹ bezeichnen, zumindest dies miteinander gemeinsam haben, dass sie zwischenmenschliche Verständigungen sind über das, was von Menschen als Wirklichkeit erfahren wird, und zwar insbesondere im Hinblick auf solche Erfahrungen, die es für Menschen möglich machen, Wirklichkeit als eine Ganzheit zu deuten.

Als Bezugsrahmen für das jüdische und christliche Konzept von ›Segen‹ kann die Erfahrung betrachtet werden, dass Menschen nur teilweise dazu in der Lage sind, für ihr eigenes Wohlergehen und für die Sicherung der Grundlagen ihres Lebens selbst Vorkehrungen zu treffen. Zum anderen Teil erfahren Menschen ihr Leben als abhängig |28|von Bedingungen, über die sie nicht selbst verfügen. Die Grenze zwischen beidem hat sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte durch den technischen Fortschritt zwar verschoben, zugleich aber hat der technische Fortschritt neue Aspekte von Unverfügbarkeit erfahrbar werden lassen.

Segen

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