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7. Gegenentwurf: Das indische Konzept des Karma
ОглавлениеEine interessante Gegenposition zur Vorstellung von ›Segen‹ in den Religionen westasiatischer Herkunft bildet das indische Konzept des ›Karma‹: diesem zufolge ist die Unverfügbarkeit des menschlichen Wohlergehens nur eine scheinbare, die dadurch zustande kommt, dass der größere zeitliche Zusammenhang verkannt wird, in dem das einzelne menschliche Leben steht (und auch das Leben jedes anderen Lebewesens). Jedes gegenwärtige Leben gilt als ein Glied in einer schier endlos langen Kette von aufeinanderfolgenden Wiedergeburten (saṃsāra). In Verbindung mit saṃsāra beschreibt Karma (Sanskrit: karman) das Gesetz, nach dem sich die Qualität der einzelnen Wiedergeburten richtet: für jedes Lebewesen gibt es eine Bestimmung, die es in dieser Welt zu erfüllen hat. Bei Menschen richtet sich diese Bestimmung nach der Zugehörigkeit zu einer Kaste und nach dem Geschlecht. Jede Handlung, die in Übereinstimmung mit der jeweils eigenen Bestimmung vollzogen wird, bewirkt gutes Karma; jede Handlung, die der Bestimmung eines Lebewesens zuwiderläuft, bewirkt schlechtes Karma. Es geht also beim Gesetz des Karma nicht darum, dass Handlungen als solche ›gut‹ oder ›schlecht‹ sind, sondern solche Bewertungen können nur im Verhältnis dazu getroffen werden, wer die Handlung vollführt. Von den männlichen Angehörigen der Kriegerkaste wird erwartet, dass sie im Krieg Tapferkeit zeigen und bereit sind, zu töten. Für |40|einen Mann aus der Priesterkaste dagegen würde es schlechtes Karma bewirken, Gewalt gegen Lebewesen auszuüben. Sowohl gutes als auch schlechtes Karma wird über die Kette der Wiedergeburten hinweg angesammelt. Je mehr gutes Karma angesammelt wurde, desto besser und angenehmer ist die Existenz, in die ein Wesen wiedergeboren wird. Je mehr schlechtes Karma angesammelt wurde, desto schlechter und unangenehmer wird die Existenz, in die das Wesen wiedergeboren wird. Demnach ist Wohlergehen also weder ›Zufall‹ noch die Wirkung eines ›Segens‹, der von Gottheiten, Geistern oder Ahnen ausgeht, sondern jedes Lebewesen hat es sich letztlich selbst zuzuschreiben, ob es ihm wohl ergeht oder ob es leidet. Bei einem streng angewandten und als ausschließliche Erklärung für den Gang der Welt genutzten Karma-Prinzip bleibt für Vorstellungen von ›Segen‹ oder für Entsprechungen dazu kein Platz.
Allerdings wird der Gedanke des Karmas nicht überall, wo er eine Rolle spielt, in dieser Konsequenz zur Geltung gebracht. Im Rahmen der Vielfalt von indischen religiösen Vorstellungen und Praktiken, die in der westlichen Terminologie als ›Hinduismus‹ zusammengefasst werden, ist es insbesondere die südindische Tradition des bhakti, die durchaus wieder mit ›Segen‹ vergleichbare Vorstellungen mit dem Karma-Gedanken verbindet. Bhakti bedeutet die ganzheitliche Hingabe des Menschen an eine Gottheit. Dies kann sich beispielsweise im liebevollen Gedenken, in der Anrufung des Namens, im tätigen Dienst oder in der Rezitation bzw. dem ›Chanten‹ von Mantras äußern. Bhakti versteht sich als ein Weg der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) in die immerwährende Gemeinschaft mit Gott. Dabei hängt es dann letztlich nicht mehr von selbst erworbenem gutem Karma ab, ob Erlösung sich realisiert und der Zustand ewiger Glückseligkeit erreicht wird, sondern dies ist das Geschenk der Gottheit an ihre liebevollen Verehrerinnen und Verehrer. Auch das innerweltliche Wohlergehen der Bhakti-Anhänger wird in vieler Hinsicht als Geschenk der Gottheit verstanden, wenngleich die Traditionen von saṃsāra und Karma dabei nicht völlig verleugnet werden. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste spielt jedoch längst nicht eine so große Rolle wie in anderen Richtungen des Hinduismus. Es gilt nicht in demselben Maße als ausgrenzend, einer niedrigen Kaste anzugehören, |41|und es ist viel eher möglich, dass hochkastige und niedrigkastige Männer und Frauen gemeinsam die Traditionen des bhakti praktizieren. Im modernen Hinduismus ist ›bhakti‹ nicht mehr nur die Praxis gesonderter Gruppierungen, sondern wird teilweise als ein notwendiger Bestandteil von hinduistischer Praxis überhaupt beschrieben. Dies hat dazu beigetragen, dass die in den Traditionen des bhakti enthaltene Abmilderung der Kastengrenzen sich auch auf breitere Kreise der Gesellschaft auswirken konnte.