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|3|1. Annäherungen an das Phänomen ›Segen‹
ОглавлениеIm Unterschied zu manch anderen theologischen (Spezial-)Termini, die heutzutage hierzulande oft allererst in breitere Diskurszusammenhänge eingeführt werden müssen, gehört der Begriff des Segens und ein damit verbundener common sense zum allgemeinen Sprachgebrauch: Segen weist bis in die Gegenwart eine im Vergleich äußerst breite und stabile Verankerung in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten auf und stößt entsprechend in zahlreichen Diskurshorizonten auf substanzielle Resonanzen. Das beginnt bei alten, ursprungsnahen Redewendungen wie »das Zeitliche segnen« (s. weiter etwa die Beispiele unter http://de.wikiquote.org/wiki/Segen) und führt bis zu nach wie vor beliebten Kombinationen von Segen mit bestimmten Gütern, Techniken, Errungenschaften usf. (»Geldsegen«, »Segen [und Fluch] des Computers, der Demokratie nsf.«). Der Begriff des Segens und seine Verwendung brauchen aus diesem Grund nicht eigens eingeführt oder in einer spezifischen Weise näher bestimmt zu werden. Vielmehr soll eine kurze begriffsgeschichtliche Erläuterung an die Herkunft des Begriffs erinnern (1), um dann mithilfe einigermaßen repräsentativ ausgewählter Beispiele für die Begriffsverwendung das Phänomen ›Segen‹ in seiner Breite annäherungsweise zu erschließen (2).
(1) Das deutsche Wort ›segnen‹/›Segen‹ geht etymologisch über das althochdeutsche ›seganōn‹/›segan‹ und das altnordische ›signa‹: »(mit dem Kreuz) bezeichnen, »(Kreuzes-)Zeichen« auf das gleichbedeutende lateinische ›sīgnāre‹/›sīgnum‹ zurück (s. Kluge 2012: s.v. Segen und Spehr, in diesem Band S. 135f.). In der lateinischen Sprachtradition (der Bibel) steht daneben ›benedicere‹: »gut sprechen, loben, preisen, segnen«/›benedictio‹: »guter Spruch, Lob, Preis, Segen«, welchen Bildungen in den romanischen Sprachen das französische ›bénir‹, das italienische ›benedire‹ und das spanische ›bendecir‹ sowie im Englischen ›to bless‹ entsprechen. Eben diese Begriffe werden für die Übersetzung der biblischen Lexeme ךרב brk II (in der Hebräischen Bibel [HB]/im Alten Testament [AT]): »segnen« bzw. εὐλογεῖν (in der Septuaginta [LXX] und dem Neuen Testament [NT]): »segnen« vorrangig benutzt, wogegen etymologische Äquivalente zu benedicere/benedictio im Deutschen |4|fehlen (während im Jiddischen »benschen«, v.a. für den Vollzug des Tischsegens, bekannt ist). Vielmehr haben in die deutsche (Bibel-)Sprache eben nur ›segnen‹ und ›Segen‹ Eingang gefunden (was jedoch im Unterschied zu den biblischen Begriffen üblicher- und meines Erachtens bedauerlicherweise nicht für Segensaussagen mit göttlichem Empfänger benutzt wird, wofür meist Ausdrücke wie ›loben‹ und ›preisen‹ verwendet werden).
Aufs Ganze ist sprachgeschichtlich auf jeden Fall die etymologische Herleitung von ›segnen‹ und ›Segen‹ aus dem Lateinischen zur Wiedergabe der biblischen Segensbegriffe evident; die biblische Traditionsprägung zeigt sich aber ebenfalls noch deutlich in den mit ›segnen‹ und ›Segen‹ ausgedrückten inhaltlichen Vorstellungen, auch wenn hier zunehmend auch abgeleitete, sich tendenziell emanzipierende Bedeutungs- und Verwendungsaspekte hinzugekommen sind, wie sich an dem als ›Segen‹ bezeichneten Phänomen sehen lässt.
(2) Wenn dabei von Segens-Phänomenen die Rede ist, so steht ein alltagssprachlicher Gebrauch des Phänomen-Begriffs im Blick, der sich schlicht auf entsprechend verstandene und/oder bezeichnete Vorgänge bezieht. Es wird also keineswegs ein gemeinsamer ›Grund‹ der Religionen und Kulturen insinuiert, wie es forschungsgeschichtlich in der (Religions-)Phänomenologie im 20. Jahrhundert der Fall war. Vielmehr werden – von den oben genannten, terminologisch und sachlich in der (auch) biblisch geprägten Tradition stehenden Standorten aus – bestimmte Vorgänge als Segens-Phänomene bezeichnet, um sie in komparativer Perspektive als funktional vergleichbare Vollzüge in sehr unterschiedlichen religiösen Praxen (mit durchaus je eigenen Kommunikationszusammenhängen) erfassen zu können (s. dazu näher Feldtkeller, in diesem Band S. 27f.).
Unternimmt man es entsprechend, hierzulande die aktuell aufschlussreichsten Segens-Phänomene zu überblicken, kann man etwa folgende, pragmatisch und nicht programmatisch orientierte Zusammenstellung vornehmen:
Im christlichen Bereich weithin bekannt, aber gerade evangelischerseits in jüngerer Zeit wieder mehr geschätzt sind die zahlreichen gottesdienstlichen, seelsorgerlichen und schulischen Vollzüge, auf die an dieser Stelle nicht näher einzugehen ist (s. ausführlich u. |5|Wagner-Rau, in diesem Band S. 187–209; Wagner-Rau 2008; Kluger 2011).
Eine vergleichbare Breite lässt sich auch für die jüdische Religionspraxis konstatieren, wobei vorab die jüdischen Segenssprüche (Berachot) hervorgehoben seien, die – biblische Ursprünge fortführend – in mischnischer Tradition (s. bereits den Traktat ›Berachot‹ im babylonischen Talmud) den gesamten Lebensvollzug engmaschig durchweben (s. dazu Homolka 2004; s.u. Hamidović, in diesem Band S. 97f). Die so die Menschen in ihren – durchaus materiellen, sich etwa von der Nahrung bis zum Land erstreckenden – Lebensverhältnissen vor Gott dankbar würdigenden Berachot entfalten nicht nur eine nachhaltige, sondern auch die Wirklichkeit verändernde Perspektive, indem die Güter und Objekte als verdankte und nicht als bloß selbst hergestellte in einen neuen, theologisch reflektierten Gebrauch genommen werden.
Eine ähnliche, weit über den Gottesdienst hinaus in Religion und Gesellschaft ausstrahlende Segenskultur findet sich auch in der christlichen Tradition (s.u. Spehr, in diesem Band S. 143f., 146f., 158); sie bleibt jedoch ungleich weniger umfassend ausgeführt und systematisiert, sodass einige Beispiele mit knappen Erläuterungen angeführt seien:
Weit verbreitet ist das auch in profanen Kontexten gern für Geburtstagskinder gesungene Segenslied: »Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, Gesundheit und Frohsinn/Freude/Wohlstand sei auch mit dabei«. Es beginnt mit dem Wunsch nach – erfahrungsgemäß menschlicherseits unverfügbarem – Lebensglück für das Individuum und fährt dann mit bezeichnenden Variationsmöglichkeiten fort, die den Segen je nach Präferenz und (wohl auch biographischer) Situation stärker innerlich oder materiell spezifizieren. Dabei kann der religiöse Gehalt im engeren Sinn, der von den kommunikativen Akteuren mit dem anlassbezogenen Segen verbunden wird, überaus stark variieren. Diese Situationsverhaftetheit bei gleichzeitiger Deutungsoffenheit stellt ein Charakteristikum vieler Segensvollzüge dar, wie sich im Folgenden gleich mehrfach zeigt.
Deutlich gilt dies beispielsweise für den Reisesegen, wie er namentlich aus der irischen Tradition bekannt ist und sich heute in zahlreichen Variationen wieder großer Beliebtheit erfreut:
|6|May the road rise up to meet you.
May the wind always be at your back.
May the sun shine warm upon your face,
And rains fall soft upon your fields.
And until we meet again,
May God hold you in the palm of His hand.
Gerade in höchst mobilen Gesellschaften brechen aus Anlass kleinerer oder größerer (in der Regel freilich gut durchgeplanter und abgesicherter) Reisen grundsätzlichere Unwägbarkeiten jeden Lebens hervor, aber die Grundmetapher des Lebens als eines Weges ermöglicht auch breitere (und grundsätzlichere) Rezeptionsmöglichkeiten.
Mit Bezug auf den Segensgehalt zielt der Heilungssegen auf das basale leibliche Wohlergehen für den einzelnen (verletzlichen) Menschen: »Heile, heile Segen …«. Der gern magisch (miss)verstandene, meist für Kinder gesprochene bzw. gesungene Vers ›funktioniert‹ aufgrund seiner einfachsten Ritualstruktur sehr effizient, wie wohl jeder aus eigener Erfahrung weiß. So gelingt die Rückkehr aus einer prekären Notlage zurück in einen geordneten und intakten Lebensvollzug, lässt sich die exzeptionelle Leidsituation lebensgünstig meistern. Auch wenn es dabei in der Regel um sehr banale Vorfälle geht, verdichtet der Vers doch sehr prägnant die Erfahrung, dass Krankheit/Unfall/Not oft eine Ausnahmeerfahrung darstellt, die in eine Lebensordnung einbricht, aber von begrenztem Umfang bleibt und über kurz oder lang (man denke an die variierenden Bestimmungen von ›böser‹ und ›guter‹ Zeit, etwa ›drei Tage‹ oder ›hundert Jahre‹) wieder in ein intaktes Leben mündet. Hier wird ein typischer Sitz im Leben von Segen mit Händen greifbar: Wo das Leben angesichts von Mangel, Leiden und Not fragil wird, zielt der Segen auf (erneute) Lebenssteigerung.
Eine erste Ausweitung über das meist im Zentrum stehende Individuum hinaus auf die Kernfamilie belegt der Haussegen, wie er etwa von katholischen Sternsingern jährlich gespendet und mit Kreide angebracht wird (CMB: Christus mansionem benedicat: »Christus segne das Haus«) oder wie er an manchen Walliser Gebäuden bis heute permanent als Inschrift zu lesen ist: »Segne, Gott, dieses Haus / und die gehen ein und aus«. Wiederum werden die |7|Menschen bzw. die familiäre Gemeinschaft in ihren elementaren häuslichen Lebensverhältnissen wahrgenommen. Dabei mag man an die gerade hier sichtbar werdenden Herausforderungen des menschlichen Zusammenlebens in aller Breite denken; unübersehbar präsent ist jedoch auch die materielle Dimension prosperierenden Lebens.
Wenn dabei auch ökonomisches Gedeihen als konstitutiver Bestandteil von Segen wahrgenommen wird, so beruht dies auf einer (altorientalischen und) biblischen Grundoption, der in der Neuzeit etwa in der reformiert-calvinistischen Tradition – man denke an den sogenannten syllogismus practicus, der in populären Vereinfachungen die göttliche Erwählung am materiellen Wohlstand ablesen zu können glaubt(e) – besondere Bedeutung zugemessen wurde (s. dazu Spehr, in diesem Band S. 156f.). Diese grundsätzliche Dimension des materiellen Segens gilt es auch heute in einer globalisierten und ökonomisch geprägten Welt festzuhalten, ohne damit deren Einseitigkeiten und Auswüchse in irgend einer Weise legitimieren zu wollen. Allerdings stellen sich hier hochkomplexe wirtschaftsethische Fragen, die im vorliegenden Rahmen nicht einmal ansatzweise angesprochen werden können. An dieser Stelle kann es nur darum gehen zu notieren, dass mit dem Thema Segen der Mensch in seinem ganzheitlichen, leibseelischen Wohlergehen wahrgenommen wird, das alle seine Lebensverhältnisse einschließt.
Und dazu zählt auch – was gleichfalls eine biblische Grundoption darstellt – der Weltbezug des Menschen. Biblisch-theologisch hat dies seinen berühmtesten und berüchtigtsten Ausdruck im von Gott gespendeten Schöpfungssegen gefunden (s.u. Leuenberger, in diesem Band S. 55f.), der in den letzten Jahrzehnten unter dem (verkürzenden) Schlagwort der »Bewahrung der Schöpfung« ein vielfältiges Echo gefunden hat (s. nur Schmid 2012: 1–3). Ein relativ harmloses, aber dennoch interessantes Beispiel findet sich in einem als »freundlicher Hinweis« überschriebenen Verhaltensappell an Wanderer im Teutoburger Wald bei Riesenbeck, der seine Aufforderungen zu sorgsamem Umgang abschließend wie folgt begründet bzw. motiviert:
Alles was im Wald zu sehen ist,
ist vom großen Gott gesegnet!
|8|Und auch Du seist gottgesegnet,
wenn Du folgsam umweltfreundlich bist!
Angesichts des gesellschaftlichen Kontextes ist es doch bemerkenswert, wie unvermittelt affirmativ hier ein Schöpfungs- bzw. Waldsegen – in Begründungsfunktion eines klar spezifizierten Verhaltens – auftritt und formuliert wird, wobei bezeichnenderweise der »große Gott« trotz christlichen Untertons durchaus auch interreligiös anschlussfähig sein kann. Und während das überdeutliche, explizite ›gottgesegnet‹ wohl metrisch bedingt ist, präsentiert sich der konditionierte Segenswunsch außerordentlich auffällig, stellt er doch gleichsam eine deuteronomistische Aktualisierung dar (s.u. Leuenberger, in diesem Band S. 60–62).
Zusammenfassend ergeben die genannten Beispiele, die sich unschwer vervielfachen ließen, folgende erste Einsichten: Segen ereignet sich in aller Regel als Segnung bzw. Segensvollzug in vielfältigsten alltäglichen bis feierlichen Begegnungssituationen, sodass ein klassisches Übergangsritual (rite de passage) vorliegt, das alle Bereiche religiöser (oder gar kultureller) Praxis betreffen kann. Noch vor weiteren hermeneutischen und theologischen Überlegungen wird so das weite Spektrum von Segens-Konstellationen deutlich, das als bislang interessanteste Achsen jene zwischen materiellem und geistigem Segensgehalt (mit oft deutlich materieller Komponente), zwischen individuellem und kollektivem Empfänger (mit klarem Schwerpunkt auf dem Einzelnen), zwischen den Bereichen des gesamten Individuallebens und des ganzen Kosmos (mit starkem Fokus auf dem Individuum) sowie zwischen religiöser und profaner Geisteswelt (mit häufig implizit bleibendem göttlichem Segensspender) erkennen lässt.
Angesichts dieser aktuellen lebensweltlichen Bestandesaufnahme ist es meines Erachtens durchaus angemessen, wenn Magdalene L. Frettlöh bereits vor einiger Zeit eine »wachsende[.] Segensbedürftigkeit menschlicher Lebenssituationen« diagnostiziert hat (Frettlöh 2005: 13; s.a. 15), die es auch theologisch zu bearbeiten gilt. Diesbezüglich ist das Interesse der theologischen Disziplinen, wie auch die folgenden Fachbeiträge belegen, seit rund zwei Dutzend Jahren gestiegen, und es sind in verschiedenen Fächern eine Reihe von teilweise grundlegenden Arbeiten vorgelegt worden, |9|sodass inzwischen eine erfreuliche wissenschaftliche Sensibilität und Intensität erreicht ist.