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|30|3. Vorstellungen von Interdependenz
ОглавлениеAuf festerem Grund befindet sich die Interpretation von religiösen Vorstellungen überall dort, wo sie sich auf eigene Aussagen der betreffenden Religionsgemeinschaft stützen kann, d.h. wo schriftliche Traditionen vorhanden sind oder wo noch lebendige mündliche Überlieferungen erfragt werden können. Unter den religiösen Überlieferungen, für die dies der Fall ist, bieten sich besonders die für das neuzeitliche Afrika südlich der Sahara beschriebenen dafür an, das Grundgefühl menschlicher Angewiesenheit und Interdependenz zu verstehen, das in den Segensvorstellungen und ihren näheren oder weiteren Analogien in der menschlichen Religionsgeschichte variiert wird.
In der Tradition der Herero in Namibia – und analog bei zahlreichen anderen Ethnien in Afrika – steht menschliches Leben in enger Verbindung mit der Rinderzucht. Die Milch der Rinder ist eine wichtige Nahrungsgrundlage. Aus ihrem Fell bzw. ihrer Haut werden wichtige Gegenstände des täglichen Gebrauchs und Kleidungsstücke gemacht. Der Dung der Rinder wird in den Lehm gemischt, der zum Hausbau verwendet wird. Geschlachtet werden Rinder nur zu ganz besonderen Anlässen – nicht zur alltäglichen Nahrungsversorgung. Zu diesen besonderen Anlässen wird das Fleisch des geschlachteten Rindes so verteilt, dass es zur ›Landkarte‹ der sozialen Beziehungen in der menschlichen Gemeinschaft wird. Jeder Körperteil des Rindes ist einer bestimmten Person oder Personengruppe in der Gemeinschaft zugeordnet und bildet deren Stellung im Ganzen ab. Die enge Beziehung zwischen Mensch und Rind kommt auch in Handlungen zum Ausdruck, in denen Menschen sich mit Rindern identifizieren. Den Herero-Jungen werden in einem gewissen Alter die Zähne so geschliffen, dass sie einem Rinder-Gebiss nachempfunden erscheinen. Frauen werden bei den Herero so sozialisiert, dass ihr Gang den ruhigen und wiegenden Gang der Kuh imitieren soll (Sundermeier 1988: 129f.).
Die Symbiose von Mensch und Rind hat zur Folge, dass das Wohlergehen der menschlichen Gemeinschaft unmittelbar an ihrem Bestand an Rindern abgelesen werden kann. Nur ein Kraal mit |31|Rindern ist eine wirkliche menschliche Siedlung, und nur dort kann die Beziehung zu den Ahnen gepflegt werden.
Die Ahnen sind die dritte wichtige Größe neben Menschen und Rindern im Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit nach den Vorstellungen der Herero. Den Ahnen wird es zugeschrieben, dass sie für das Wohl der Rinderherde sorgen, so dass von ihrem Wohlwollen auch das Wohlergehen der menschlichen Gemeinschaft unmittelbar abhängt. Gleichzeitig repräsentiert ein bestimmter Teil der Rinderherde die Gegenwart der Ahnen und wird deshalb dafür gebraucht, dass die Ahnen die ihnen zustehende Zuwendung der Menschen empfangen können. Ohne die Rinderherde würde auch die Verbindung zu den Ahnen abreißen. Das Ahnenfeuer, das die Verbindung zu den Ahnen symbolisiert, wird zwischen dem Kälberkraal und dem Haupthaus unterhalten. In Gestalt der Rinder kommen die Ahnen in die menschliche Siedlung und nehmen die Zuwendung der Menschen an. Wer zu den Ahnen sprechen will, tut dies in der Nähe der Kühe, von denen die Gegenwart der Ahnen repräsentiert wird (Sundermeier 1988: 156).
Wenn man von hier aus eine Analogie zur Vorstellung von ›Segen‹ ziehen will, so wird man sagen können, dass es in den Überlieferungen der Herero in erster Linie die Ahnen sind, die Segen spenden und von deren Wohlwollen die Lebenden abhängig sind. In der Rinderherde zeigt sich unmittelbar das Vorhanden-Sein oder das Fehlen von Segen. Gleichzeitig führt die wechselseitige Identifikation von Menschen und Rindern sowie von Ahnen und Rindern dazu, dass Subjekte und Objekte in diesem Geflecht von Interdependenzen nicht streng verteilt sind, sondern alle Positionen sich gegenseitig zum Ausdruck bringen können. Mit dieser Konfiguration gegenseitiger Abhängigkeit von Spenden und Empfangen steht die Überlieferung der Herero exemplarisch für viele andere, die ähnliche Konfigurationen beschreiben.