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|32|4. Das Wohlwollen der Ahnen im Konfuzianismus

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Unter den religiösen Überlieferungen von alten Schriftkulturen ist der chinesische Konfuzianismus diejenige, bei der die Rolle der Ahnen am meisten dem eben beschriebenen Beispiel ähnelt in dem Sinne, dass sie es sind, von deren Wohlwollen das Wohlergehen der lebenden Menschen abhängt.

Im Konfuzianismus ist die weltweit verbreitete Vorstellung einer Interdependenz zwischen lebenden Menschen und Ahnen eingefangen in eine Lehre von sozialen Beziehungen, aus denen sich die Verpflichtungen von Menschen gegenüber anderen Menschen ergeben. Das Grundgerüst bildet dabei die Systematik der fünf (aus männlicher Sicht beschriebenen) menschlichen Elementarbeziehungen zwischen Vater und Sohn, zwischen Herrscher und Untertan, zwischen Ehemann und Ehefrau, zwischen älterem Bruder und jüngerem Bruder sowie zwischen Freund und Freund. All diese Beziehungen bis auf die letzte sind Beziehungen der Unter- und Überordnung, aus denen sich jeweils verschiedene Verpflichtungen sowohl für die höher stehende Person als auch vor allem für die niedriger stehende Person ergeben.

Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist dabei so etwas wie das Urbild jeder anderen Beziehung von ungleichartiger wechselseitiger Abhängigkeit und Verpflichtung. Der Sohn – vor allem der älteste Sohn – ist dem Vater zeitlebens zu ›kindlicher Pietät‹ verpflichtet. Dies beinhaltet unter anderem die Verpflichtung, dass der erwachsene Sohn sich soweit dies irgendwie möglich ist in der Nähe des Vaters aufhalten und für dessen Wohl sorgen soll. Der Sohn soll den Vater davon unterrichten, wenn er das Haus verlässt, und sich bei ihm zurückmelden, wenn er zurückkehrt. Reisen sind nach Möglichkeit ganz zu unterlassen, während der Vater noch lebt, und wenn sie doch erforderlich sind, sollen sie nur mit der ausdrücklichen Erlaubnis des Vaters durchgeführt werden.

Die Verpflichtung der kindlichen Pietät endet mit dem Tod des Vaters nicht, sondern sie geht dann über in die Verpflichtungen des Ahnendienstes, deren Umfang mit dem Abstand zum Todeszeitpunkt stufenweise abnimmt. Während der ersten drei Jahre nach dem Tod soll der älteste Sohn weiße Trauerkleidung tragen und |33|sich im Alltag annähernd so verhalten, als würde der Vater noch leben. Er soll das Haus möglichst wenig verlassen und keinesfalls Reisen unternehmen. Tägliche Totenrituale verlangen u.a., dass der Sohn dem Vater ein Essen zubereitet und dieses Essen für eine Weile unbeobachtet im Zimmer des Vaters stehen lässt, bevor er es wieder abträgt. Nach Ablauf der drei Jahre darf die Trauerkleidung abgelegt werden und das Leben des Sohnes wird erstmals freier – doch noch für mehrere Generationen haben die Ahnen weiter Anspruch auf einen täglichen Erweis der ›kindlichen Pietät‹ vor dem Ahnenschrein und auf die symbolische Zuwendung von Nahrung.

Von der Erfüllung dieser Verpflichtungen den Ahnen gegenüber wird in der konfuzianischen Kultur das Wohlergehen der Lebenden als unmittelbar abhängig verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass die Ahnen ihr Wohlwollen von den Lebenden abwenden, wenn der Ahnendienst nachlässig verrichtet wird, und dass sie sich rächen, wenn er ganz unterbleibt. So bildet in der traditionellen chinesischen Kultur eine gewisse Entsprechung zur Vorstellung von ›Segen‹ die Rolle, die den Ahnen zugeschrieben wird, solange die Lebenden ihnen gegenüber die Verpflichtungen der kindlichen Pietät erfüllen: sie sorgen dafür, dass all das nicht versiegt, worauf menschliches Leben unverfügbar angewiesen ist.

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