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a) Was ist Ethik?

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Ethik ist eine philosophische Disziplin und reflektiert – ganz allgemein formuliert – das Handeln des Menschen unter moralischer Perspektive. Im Unterschied beispielsweise zur Verhaltensbiologie, die versucht, die evolutionsgeschichtliche Entwicklung bestimmter Verhaltensweisen und deren evolutionären Nutzen zu verstehen, ist die Ethik keine rein deskriptive, sondern in erster Linie eine normative Wissenschaft, d. h. dass sie nicht nur den Ist-Zustand zu beschreiben und zu erklären versucht, sondern danach fragt, was sein soll. Sie ist das systematische Nachdenken über die Handlungen, das Verhalten und die Grundhaltungen des Menschen unter der spezifischen Rücksicht der sittlichen Beurteilung als gut bzw. böse auf der subjektiven sowie richtig bzw. falsch auf der objektiven Ebene. Die subjektive Ebene (gut bzw. böse) meint, dass der Mensch als das handelnde Subjekt mit seinen Motivationen, Intentionen, Interessen, Präferenzen … in den Blick genommen wird. Auf der objektiven Ebene hingegen (richtig bzw. falsch) wird danach gefragt, ob eine Handlung oder Grundhaltung „an sich“ sittlich richtig ist, d. h. ob sie mit allgemein gültigen sittlichen Prinzipien und Werten in Einklang gebracht werden kann, die in Normen verbindlich formuliert werden. Die Einsicht in das, was objektiv gesehen sittlich richtig ist, verdankt sich der vernünftigen Reflexion über die konkreten Erfahrungen einerseits sowie über abstrakte sittliche Werte andererseits, die man sich persönlich aneignet, und schließlich dem kritischen, vernunft- und wertegeleiteten Diskurs zwischen den moralischen Subjekten. Die Differenzierung zwischen der subjektiven und objektiven Dimension ist natürlich dahingehend eine abstrakte, als dass in einer konkreten Handlung die beiden Ebenen miteinander verflochten sind. Alle diese unterschiedlichen Aspekte machen die Moralität, d. h. die sittliche Güte einer Handlung aus. Dabei geht es darum, dass das, was auf der Ebene des handelnden Subjekts sittlich gut ist, mit dem in Einklang steht, was auch objektiv gesehen sittlich richtig ist, dass in diesem Sinne also das sittlich Gute dem sittlich Richtigen entspricht und umgekehrt. Das sittlich Richtige soll also auch mit einer sittlich guten Absicht getan werden. Umgekehrt reicht die gute Absicht allein nicht aus, um sittlich richtig zu handeln, sondern es bedarf der Sach- sowie ethischen Kompetenz und des Bemühens zu erkennen, wie in einer konkreten Situation das verwirklicht werden kann, was sittlich geboten ist. Der Volksmund bringt dies pointiert zum Ausdruck, wenn es heißt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

Die vorliegende Publikation will nicht eine Begründung des moralischen Anspruchs leisten, warum der Mensch überhaupt moralisch gut und richtig handeln soll, sondern es wird vorausgesetzt, dass die Erfahrung des Sollensanspruchs ein wesentliches Element menschlicher Selbsterfahrung und -beobachtung ist. Der theologische Ethiker Dietmar Mieth beschreibt die Grundstruktur der sittlichen Erfahrung in drei Elementen: in der Kontrast-, der Sinn- und der Motivationserfahrung.14 Kontrasterfahrung meint die erlebte Diskrepanz zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Sie kann entstehen, weil unterschiedliche Normen miteinander in Konflikt geraten; weil die vorgefundene Situation einer wichtigen Norm und damit einem sittlichen Wert widerspricht; oder schlichtweg, weil jemand dank einer Art von moralischem Sinn intuitiv spürt, dass eine Situation nicht so ist, wie sie sein sollte, d. h. dass sie mit einem normativen Anspruch nicht in Einklang zu bringen ist. Für viele Menschen stellt in diesem Sinne das Wissen um artwidrige Haltungsbedingungen von Tieren und/oder von Schlachtungsvorgängen, die für das Tier physisch und psychisch mit Schmerzen und Belastungen wie Angst und Stress verbunden sind, eine Art von Kontrasterfahrung dar. Sie spüren, dass dies nicht richtig ist, und zwar unabhängig davon, ob sie das auch ethisch begründen können oder darüber ethisch reflektiert haben. In diesem Gespür, dass etwas nicht so sein soll, wie es ist, ist ein ebenso intuitives, d. h. zunächst noch nicht thematisiertes Wissen enthalten, wie die Situation sein könnte bzw. sollte. In unserem Fall bedeutet dies z. B., dass jemand angesichts malträtierter Tiere darum weiß, dass es nicht richtig ist, einem Lebewesen Schmerzen zuzufügen – wenigstens nicht grundlos. In der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit oder mit Werten und Normen, die es zu verwirklichen bzw. zu befolgen gilt, wird schließlich so etwas wie eine „Rationalität der Wirklichkeit“ erkennbar. Damit sind Sinnpotentiale gemeint, die der Wirklichkeit eingestiftet sind und die vom Menschen dank seiner Deutungsmöglichkeit des Vorgegebenen eingesehen und in Folge verwirklicht werden können. Vorausgesetzt wird dabei allerdings eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit, die jeder Mensch lebensweltlich, d. h. im Sinne einer vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit vornimmt. Den Glaubensvorstellungen kommt hier beispielsweise eine wichtige Funktion zu. Solche Sinnpotentiale können normativ formuliert werden, beispielsweise im Gebot, keinem Lebewesen zu schaden, bzw. dass es gute und vernünftige Gründe geben muss, die eine Schmerzzufügung rechtfertigen können. Diese Gründe deuten ihrerseits auf einen höheren Wert hin bzw. ein weiteres Sinnpotential, das ohne die Verletzung des ersten nicht verwirklicht werden kann. So wird z. B. in Bezug auf die Tierexperimente argumentiert, dass diese dann – und nur dann – ethisch vertretbar sind, wenn sie die einzige Möglichkeit darstellen, humanmedizinisch und veterinär wichtige Erkenntnisse zu erlangen, und dieser Erkenntnisgewinn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit erzielt werden kann.15

Freilich muss der Mensch auch anerkennen, dass seiner Beziehung zum Tier mehr an Sinnpotentialen eingeschrieben ist als die Nutzung von Tieren zu seinen eigenen Zwecken. So kann er z. B. beobachten und wissenschaftlich untersuchen, wie positiv sich die Beziehung zwischen Mensch und Tier auf beide Seiten auswirken kann, und er kann den Eigenwert eines Tieres erkennen, der dessen Totalverzweckung verbietet, sowie Sinnwerte, die der Wirklichkeit von Tieren eingeschrieben sind. Die Kontrasterfahrung sowie die Auseinandersetzung mit einer Konfliktsituation – wie z. B. jener von Tierexperimenten, dass eine wichtige medizinische Erkenntnis nicht gewonnen werden kann, ohne einem Versuchstier Schaden zuzufügen – machen bestimmte Werte sichtbar bzw. rufen sie ins Bewusstsein. So wird eine Kontrasterfahrung zur Sinn- und schließlich zur Motivationserfahrung, weil sie einen Menschen drängt, etwas zu tun, um eine Situation so zu verändern, dass sie dadurch zum Besseren gewendet wird und etwas Sinnvolles für alle Beteiligten bzw. Betroffenen entsteht. Die Sinnerfahrung motiviert also einen Menschen, das ihm Mögliche zu tun, um sinnvoll zu wirken und eine negative Situation zu überwinden bzw. in einem Konfliktfall die richtige bzw. die je bessere oder – unter Umständen – die weniger schlechte Lösung zu finden. Der ethisch motivierte Vegetarismus und Veganismus sind z. B. Ausdruck dafür, dass jemand zur Überzeugung kommt: Es liegt auch an mir, die Haltungs- und Schlachtungsbedingungen von Nutztieren zu verbessern, indem ich durch meine Konsumverweigerung letztlich Druck ausübe auf jene, die Tiere halten und vermarkten. Auch der bewusste Konsum von Fleisch und tierischen Produkten ausschließlich von Betrieben, deren Haltungs- und/oder Schlachtungsbedingungen ethisch vertretbaren Kriterien entsprechen, zielt in diese Richtung.

Entsprechend dieser Beschreibung der Grundstruktur der sittlichen Erfahrung sind konkrete, moralisch reflektierte Erfahrungen ebenso wie kognitive und affektiv-emotionale Aspekte entscheidend für ein sittliches Urteil. Unter Kognition meint man die aus Erfahrungen und Nachdenken gewonnenen sittlich relevanten Einsichten wie z. B. das Prinzip der Schmerzvermeidung bei empfindungsfähigen Lebewesen oder den Eigenwert eines jeden Tieres. Moralische Gefühle und Motivationen hingegen bergen ein oft intuitives, weil vorreflexives Wissen um das, was sittlich richtig und geboten ist. So können beispielsweise Mitleid und Empathie dazu drängen, der Notsituation eines Tieres Abhilfe zu verschaffen, oder Empörung angesichts einer Unrechts- oder Leidsituation kann verhindern, dass man sich mit einem erlittenen oder beobachteten Unrecht einfach abfindet, wenn z. B. ein Tier durch nicht artgemäße und individuengerechte Haltungsbedingungen Schmerzen, Angst, Stress … erleidet. Moralische Gefühle sensibilisieren für das Leid und Unrecht, sie motivieren, dem entgegenzuwirken, und setzen entsprechende Kräfte frei. Nach dem Tierethiker Jean-Claude Wolf teilt der Mensch mit vielen Tieren die Empfindungsfähigkeit. In der natürlichen Fähigkeit des Mitfühlens sieht er eine der wichtigsten Motivationsquellen dafür, dass sich Menschen gegen jede Form von Tierleid oder Tierquälerei zur Wehr setzen.16

Der Mensch und das liebe Vieh

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