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2.Von der Selbsterkenntnis des Menschen durch das Tier
ОглавлениеIm Juni 2016 kam der US-amerikanische Computeranimationsfilm Pets in die Kinos. Er erzählt vom geheimen Leben der Haustiere (so der englische Filmtitel The Secret Life of Pets) in Manhattan in New York. Über acht Millionen Einwohner zählt die Metropole. Durchschnittlich jeder vierte Einwohner – darunter besonders viele Singles – soll einen Hund halten, was die beeindruckende Summe von ca. zwei Millionen Vierbeinern ausmacht. Dazu kommen noch viele andere Haus- und Heimtiere: Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Ziervögel, Fische … Die Tierliebe besonders von Menschen in Metropolen und Städten wird oft als stille Sehnsucht nach Wildnis und Ursprünglichkeit interpretiert. Manche deuten sie als Degenerationserscheinung des modernen Großstädters, der den Kontakt zur Natur verloren hat und durch die Haltung eines Heimtieres ein Stück Wildnis in seine Stadtwohnung holen möchte, obwohl manche noch nie in ihrem Leben einen Bauernhof besucht und eine Kuh, ein Pferd oder Schwein in echt gesehen oder Rehe, Hirsche usw. in freier Wildbahn beobachtet haben. Es werden auch Tiere gehalten, zu denen – etwa im Unterschied zu einem Hund oder einer Katze – keine wechselseitige emotionale Beziehung aufgebaut werden kann, z. B. Chamäleons, Geckos, Schlangen, Alligatoren, Käfer, Schildkröten usw. Zählt man die Wildtiere dazu, unter ihnen Nagetiere, Sing-, Greif- und Nachtvögel, Füchse, Kojoten, Alligatoren, Robben, ja sogar Bären, die sich bis in die Gärten der Vororte von New York vorwagen, und viele andere mehr, zeigt sich eine interessante Symbiose von Mensch und Tier, eine Durchmischung von Zivilisation und Wildnis, die nicht nur für die US-amerikanische Großstadt typisch ist.
Doch zurück zum Film über das heimliche Leben der Haustiere. Er ist eigentlich kein Film über Tiere, sondern über Menschen, denn – so der in tierethischen Fragen bewanderte Journalist und Jäger Eckhard Fuhr – „Tiere sind ein Spiegel. Das waren Tiere für Menschen schon immer.“7 Deshalb erzähle der Film „von der Selbsterkenntnis des Menschen durch das Tier“8. Die sprechenden Pets sind vermenschlichte Tiere, die mehr den menschlichen Protagonisten entsprechen als ihren wirklichen Artgenossen und die mehr über das Verhalten und Innenleben des Menschen aussagen als über jenes von Tieren – über die Einsamkeit, das Bedürfnis nach Nähe bis hin zur menschlichen Verantwortungslosigkeit, verkörpert in einem Alligator und einer Schlange, die ausgesetzt worden sind und nun in der Kanalisation ihre neue Heimat gefunden haben. Auch der Tierethiker Herwig Grimm betont: „Wer über Tiere spricht, macht den Menschen zum Thema“9, und zwar deshalb, weil wir immer nur die Position des Menschen einnehmen bzw. von uns selbst als Erkenntnissubjekt ausgehen können. In ein Tier können wir letztlich nie hineinschauen. Trotz der Empathiefähigkeit, uns in die Lage eines Tieres einzufühlen bzw. sein körperliches Verhalten und Anzeichen seines emotionalen Empfindens wahrzunehmen, bleibt es letztlich eine Form von Deutung und Interpretation, was wir glauben, wie es einem Tier geht bzw. wie es das, was es empfindet, subjektiv wahrnimmt.
Seit jeher leben Tiere und Menschen in einer engen Beziehung und Symbiose – und seit jeher ist unser Umgang mit den Tieren ambivalent und widersprüchlich. Die einen lieben wir, die anderen töten wir; die einen schützen wir, die anderen jagen wir; für die einen schaffen wir Tierfriedhöfe, die anderen enden in unseren Mägen. Selbst vegan lebende Menschen halten Hunde oder Katzen und nehmen in Kauf, dass andere Tiere getötet und zu Futter für ihre Lieblinge verarbeitet werden. Die meisten Menschen stimmen der Einschätzung zu, dass die Haltungs- und Schlachtungsbedingungen in der Massentierhaltung ethisch kaum zu rechtfertigen sind – und essen dennoch bedenkenlos tierische Nahrungsmittel, die aus solchen Betrieben stammen. Wir wissen um die tierquälerischen Umstände in den allermeisten Pelztierfarmen. Das Tragen von Pelzmänteln ist deshalb mittlerweile vielerorts verpönt – und dennoch erzielt die Pelzindustrie in Europa seit einem Einbruch in den 1990er-Jahren wieder jährliche Umsatzrekorde, weil Pelzteile in vielfacher Form als Krägen oder Futter von Winterjacken, als Modeaccessoires und anderes mehr verarbeitet werden. Tierversuche werden gemeinhin abgelehnt und viele Menschen haben abschreckende Bilder malträtierter Versuchstiere im Kopf – und doch nimmt seit Beginn der 2000er-Jahre die Anzahl der Tiere kontinuierlich zu, die in diversen Experimenten verwendet werden und zu Schaden kommen. Die Tierethiker Herwig Grimm und Markus Wild führen Studien an, denen zufolge „im Jahr 2014 über 23 Milliarden Nutztiere (Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Geflügel) gehalten […], rund 64 Milliarden Tiere geschlachtet (Fische nicht eingerechnet) und rund 118 Millionen Labortiere verbraucht“10 worden sind.
Bei immer mehr Menschen führen diese Spannungen und Diskrepanzen zu einem Nach- und Umdenken. Sie werden besonders für das millionenfache Leid sensibel, das wir in unserer modernen Industriegesellschaft Tieren zufügen. Aus tierethischen Gründen beschließen sie einen tiefgreifenden Wandel ihres Ernährungs- und Lebensstils, werden entweder zu Vegetariern, verzichten also auf das Essen von Fleisch, oder zu Veganern, indem sie jeglichen Konsum von tierischen Produkten vermeiden, ja sogar die Nutztierhaltung als solche ablehnen. Dennoch, die meisten Menschen essen weiterhin Fleisch und konsumieren tierische Produkte, obwohl auch sie die Haltungs- und/oder Schlachtungsbedingungen der Tiere, die sie essen bzw. deren Produkte sie konsumieren, ablehnen oder ihnen zumindest kritisch gegenüberstehen. Man mag von einem paradoxen Zustand sprechen oder es schlichtweg als einen inkohärenten Lebens- und Konsumstil bezeichnen, dieser Umstand stellt uns jedenfalls vor große ethische Herausforderungen. Wir müssen uns kritisch fragen, warum wir so erstaunlich wenig Konsequenzen daraus ziehen, dass wir um das vielfache Tierleid wissen, das durch unseren Konsum- und Lebensstil verursacht wird.11 Grimm und Wild ist zuzustimmen: „Obwohl die Tierethik als Thema mitten in der Gesellschaft angekommen ist, hat sich damit die zentrale Fragestellung der Tierethik keineswegs erledigt, im Gegenteil.“12 Für sie lautet diese Grundfrage: „Was dürfen wir mit Tieren tun und was nicht?“13 In der vorliegenden Publikation soll sie wie folgt präzisiert werden: „Wie sollen wir Tiere behandeln, um ihnen gerecht zu werden?“