Читать книгу Tatort Bodensee: Der Fall Winterbergs - Martin Oesch - Страница 12
Der König sitzt ein
ОглавлениеSechs Tage nach dem Mord
Ich staune: Wie klein meine Welt geworden ist. Ein Schritt geradeaus, eine Drehung um 90 Grad nach links, vier Schritte geradeaus, wieder im rechten Winkel nach links, ein Schritt, die Drehung und nochmals vier Schritte. Zurück zum Ausgangspunkt. Willkommen in meiner neuen Welt. Ja, lachen Sie ruhig. Der große Winterberg so klein. Spüren Sie sogar etwas Schadenfreude? Kein Problem, ich kann Sie verstehen.
Das ist mein neues Zuhause. Für 23 Stunden am Tag. Eine Zelle, wenige Quadratmeter groß. Eine Pritsche mit einer harten Matratze in der einen, eine Kloschüssel und ein kleines Lavabo in der anderen Ecke. Der Spiegel aus Blech, damit man sich nicht verletzen kann. Ein kleiner, an die Wand geschraubter Tisch und ein Stuhl, der ebenfalls fixiert ist. Mehr ist da nicht. Platz für: einen Schritt, vier Schritte, einen Schritt, vier Schritte.
Man hat mir alles genommen. Alles, was mir lieb und teuer war: mein Ansehen, meinen Reichtum, meine Familie und vor allem meine Freiheit. Sagen Sie ruhig: Recht geschieht ihm. Aber ich sage Ihnen: Ich war’s nicht! Mein Anwalt meint, es sehe ernst aus. Die Polizei behauptet, die Beweislast sei erdrückend. Was die Medien berichten, weiß ich nicht, und was meine Freunde denken, ebenso wenig. Vielleicht ist das ein Vorteil in meiner Situation. Wenn es auch der einzige ist.
Darf ich mich Ihnen kurz vorstellen? Gestatten: Mein Name ist Winterberg. Bei den männlichen Lesern dürfte der Name sofort einen Reflex auslösen: »Noch ein Winterberger!« Genau. Das bin ich. Der Bierkönig. Die Brauerei kaufte mein Vater, Conrad Winterberg, vor 82 Jahren. Aber zur wahren Blüte kam das Geschäft erst, als ich es nach dem Tod von Vater übernahm. 30 Jahre ist das her.
Ein Schritt, vier Schritte, ein Schritt, vier Schritte. Das ist manchmal auch Glück, so eine Zelle. Da staunen Sie. Denn ein solches Leben bedeutet viel Zeit zum Nachdenken. Eigentlich ein Luxus. Einen, den ich trotz allem Reichtum nie hatte. Ich, ein Mann der Tat. Sie fragen sich sicher, wie ich in diese missliche Situation geraten bin. Nun, man verdächtigt mich, eine Frau erschlagen zu haben. Ein Vorwurf, der ernst zu nehmen ist, sagt mein Anwalt. Er muss es wissen, denn immer, wenn er mir gegenübersitzt, macht er ein besorgtes Gesicht. An seinem Honorar kann es nicht liegen.
Ich gestehe: Ich kannte diese Frau. Alle Welt weiß das, darum gibt es keinen Grund, es zu leugnen, sagt auch mein Anwalt. Sebastian Hess heißt er übrigens. Und teuer ist er. Aber das Beste, was man sich in meinem Fall leisten kann, leisten sollte, meint er.
Amélie Cohen ist der Name der Toten. Der Vorname wie aus dem französischen Film, den meine Frau so gerne sieht. Und der Nachname wie der kanadische Musiker, den ich sehr verehre. Übrigens: Ist der nicht auch gestorben? Schlechte Zeiten für Cohens.
Amélie und ich waren Geschäftspartner. Geschäftsfreunde sogar. Kein Wunder kannten wir uns, die Tote und ich. Sie war häufig zu Gast bei uns auf dem Conradsberg, dem Anwesen, das nach meinem Vater benannt wurde. Ich soll sie erschlagen haben, behauptet die Polizei. Deshalb sitze ich hier, liege viel und denke nach. Und manchmal gehe ich: einen Schritt zur Seite, vier Schritte nach vorn, einen Schritt nach links, vier Schritte zurück.