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Fressen, Saufen, Schleimen

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»Rumstehen, gescheit dreinschauen und während der Ansprachen nicht einschlafen. So eine Vernissage gibt journalistisch rein gar nichts her«, versuchte Roger Wüthrich, Chef der Lokalredaktion des Kreuzlinger Anzeigers, Schlimmeres abzuwenden. »Ich schlage vor, wir schicken einen Fotografen hin und gut ist.«

»Hast du dir die Gästeliste angeschaut?« Chefredaktor Gustav Fromm ließ nicht locker. »So eine Promi-Dichte gibt es selten: der Stadtpräsident mit Gattin, natürlich die Thurgauer Apfelkönigin, der Präsident des FCK mit Entourage, der Chef von ›Stottler-Train‹, dem größten Arbeitgeber weit und breit, der Verwaltungsratspräsident des Anzeigers …«

»Ach so!« Wüthrich versuchte, nicht herablassend zu tönen. »Der auch!«

»Unseren Aktionären dürfen wir auf diesem Weg mal was zurückgeben«, unternahm Fromm einen neuen Anlauf.

»Reicht denen die Dividende nicht mehr?«, warf Oliver Tschanz, einer der Redaktoren, bissig ein.

Zeit für Wüthrich, seinen freien Abend zu retten. »Du erwartest aber trotzdem nicht, dass ich deswegen die Party zum zehnten Geburtstag meiner Tochter verpasse?« Der und seine Familie, dachten die anderen am Redaktionstisch neidisch, denen keine ähnlich gute Ausrede einfiel.

»Na, Tschanz? Wäre das nicht was für dich? Schließlich sind die Kuratorin und du gut befreundet, sagt man.« Fromm versuchte, einen neuen Sündenbock zu finden.

»Mindestens sooo gut befreundet«, schob Wüthrich unnötigerweise nach, zeichnete mit den Händen ein großes Herz in die Luft und erntete damit einige kümmerliche Lacher in der Runde, die froh war, dass die Chefs anscheinend ein neues Opfer erkoren hatten.

»Die Vernissage im Kunstmuseum: Charakterköpfe. Das klingt wie für dich gemacht, mein lieber Tschanz. Ein Abend unter guten Freunden sozusagen. Und mit dem Stottler und dem Winterberg sind immerhin zwei Schwergewichte aus deiner Welt zugegen.«

»Pahh, Kultur. Damit könnt ihr mich jagen.« Tschanz schien den Ernst der Lage erkannt zu haben. »Fressen, Saufen, Schleimen. Ist nicht meine Welt.«

Oliver Tschanz war zweifellos einer der begabtesten Schreiberlinge bei diesem Provinzblatt. Nach der Ausbildung zum Sozialarbeiter und einigen Jahren in der Drogenarbeit hatte er vor acht Jahren ein Volontariat beim Anzeiger absolviert und daraufhin pragmatisch beschlossen, dass dies der angenehmere Weg war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Damals ahnte er noch nichts von den unzähligen, von sinkenden Werbeerträgen getriebenen Sparrunden in den Printmedien, die nur schlecht getarnt als Umstrukturierungen daherkamen. Tschanz war das soziale Gewissen der Redaktion und spezialisierte sich auf Berichte aus Wirtschaft und Finanzen. Mit »Stottler-Train«, die Tram und Züge für den Weltmarkt herstellten, und der Brauerei Winterberg, die die Gastronomie im Umkreis von 50 Kilometern am Schweizer Bodensee-Ufer beherrschte, waren tatsächlich zwei wirtschaftliche Hochkaräter für die Vernissage angekündigt. »Ich glaube kaum, dass sich die Herren Stottler und Winterberg im Rahmen eines gepflegten Small Talks anlässlich einer Vernissage zu ihren überrissenen Honoraren oder bescheidenen Arbeitsbedingungen befragen lassen. Und mit dem Gekleckse an den Wänden habe ich wirklich überhaupt nix am Hut.«

Was für eine schlappe Gegenwehr. Die Chefs und der Rest der Redaktion staunten. An jedem anderen Tag hätte der für seine aufbrausenden Auftritte bekannte Tschanz ein Affentheater aufgeführt, hätte von »Glaubwürdigkeit« und »Berufsethos« geschwafelt und unter Protest den Raum verlassen. Nicht ohne hinter seinem Abgang mit dem schwungvollen Zuknallen der Tür einen Punkt zu setzen. Aber heute …

»Ist Ihnen nicht gut, Tschanz?«, fragte Wüthrich besorgt. »Etwas bleich um die Nase …«

»Hmm?« Der Angesprochene schien nicht so richtig bei der Sache zu sein.

»Tja, dann sind wir uns einig!«, nahm Chefredaktor Fromm elegant den rhetorischen Faden auf und faltete dabei die Hände. Ein sicheres Zeichen, dass er ein baldiges Ende der Veranstaltung wünschte.

Wüthrich sah seine Chance gekommen: »Gut so! Dann also der Fotograf. Eine Seite für Montag. Die Liste mit den Personen auf den Bildern bekommt er bis vier Uhr von mir.« Die Versammlung erhob sich zögerlich. »Und du, Tschanz, du bleibst noch kurz hier.«

Tatort Bodensee: Der Fall Winterbergs

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