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Blutige Spur im Museum
ОглавлениеDrei Wochen zuvor: 11. Januar
»Ruhe, ihr Rabauken!« Die Stimme von Clemens Hofer hallte durch das hohe Foyer des Museums. Die 5a hatte heute die Lektion »Bildnerisches Gestalten« aus der Schulstube ins Kunstmuseum verlegt, wo am Abend die Vernissage der Ausstellung »Charakterköpfe im Wandel der Zeit« stattfinden sollte. Museum statt Klassenzimmer – eine Idee, von der alle zu profitieren schienen: die Schüler, weil alles, was außerhalb der Schulmauern stattfand, an und für sich ein Gewinn war. Das Museum, das 20 junge Menschen in die Besucherstatistik aufnehmen konnte, eine Zielgruppe, die freiwillig kaum einen Fuß über die Schwelle des Hauses setzen würde, und Hofer freute sich in erster Linie auf einen kurzen Flirt mit der attraktiven Dame hinter der Kasse. »Silvia Kündig«, stand auf ihrem Namensschild.
»Hört mir gut zu, ja, auch du, Noah!« Nach dem zweiten Anlauf kehrte endlich Ruhe ein. »Ihr benehmt euch wie bei Oma an Weihnachten. Seid ruhig und fasst vor allem nichts an.« – »Vor allem nicht die Oma …« – »Wer war das?« Nur leises Gekicher war zu hören. Hofer machte eine kurze Pause, damit sich die Botschaft in den Kinderhirnen setzen konnte. »Eure Aufgabe ist es, eines der Gesichter, die in der Ausstellung gezeigt werden, abzuzeichnen. Dazu fünf Sätze, warum ihr euch genau für dieses Bild entschieden habt. Ihr habt zwei Stunden Zeit. Ich komme vorbei, sobald ich hier den Papierkram erledigt hab. Gibt’s noch Fragen?«
Merima streckte den Finger in die Höhe. »Wo ist Toilette?«
Hilflos schaute Hofer zu Silvia. »Komm, ich zeig’s dir«, offerierte sie.
»Ey, du Opfer!«, tönte es abfällig von den Jungs, die sich in einer Ecke zusammenrotteten. Die Hälfte der Mädchen schloss sich spontan dem Unternehmen »Biopause« an.
Hofer wunderte sich und wandte sich an die Verbliebenen. »Gut, dann: Los geht’s! Ab in den ersten Stock. Und wie gesagt: nichts berühren. Das gilt auch für dich, Noah!«
Halbwegs gesittet machte sich die 5a auf zu den Ausstellungssälen im Obergeschoss, während der Lehrer auf die Rückkehr der WC-Karawane wartete und sich Silvia zuwandte.
Die Ausstellung umfasste über 50 Exponate – Bilder, Büsten, Skulpturen – und zeigte in chronologischer Reihenfolge Kunstwerke vom antiken Marien-Gemälde aus dem Mittelalter bis zu Warhols berühmten Pop-Art-Bildern von Marilyn Monroe. Die Kunst im Wandel der Zeit. Die Ausstellungseröffnung am Abend versprach, der erste gesellschaftliche Höhepunkt des noch jungen Jahres zu werden: Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Sport und natürlich Kultur versammelten sich zu einer Art verspätetem Neujahrsempfang, und der zog, der feinen Häppchen und des Gratis-Alkohols wegen, nicht nur die kunstaffine Minderheit der vermeintlich vornehmen Gesellschaft an. Das war zumindest der Plan, bis zu dem Moment, als Noah Lehrer Hofers Geplänkel mit Silvia hinter der Kasse unterbrach.
»Herr Hofer, hallo?«
Unwirsch drehte sich der Angesprochene um. »Du wieder, Noah! Du siehst doch, ich bin beschäftigt. Ich komme zu euch hoch, wenn es so weit ist. Bis dahin …«
Noah blieb stehen und stammelte: »Da liegt was rum …«
Hofer stutzte und versuchte den Umfang der Katastrophe zu ermessen. »Wie, da liegt was rum? Hast du was umgestoßen, du Tollpatsch?«
»Also ich war’s nicht. Jorin meint, das muss vielleicht so sein, weil moderne Kunst und so. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Sie entschuldigen mich bitte kurz.« Widerwillig folgte Lehrer Hofer seinem Schüler. Auf der Treppe sah er mit jedem Tritt aufwärts einen deutlicheren, blutroten Schuhabdruck auf dem strahlend weißen Boden. Etwa Größe 37.