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KOLJAS IGEL
ОглавлениеAUTOR: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
TITEL: Der Idiot (aus dem Russischen von Arthur Luther)
ORIGINALFASSUNG: 1869
Haben Sie meinen Igel erhalten?«, fragte sie mit fester und beinahe zorniger Stimme.
»Ja«, antwortete der Fürst errötend und starr vor Angst.
»Erklären Sie mir sofort, was Sie darüber denken! Das ist notwendig, um meiner Mutter und unserer ganzen Familie Ruhe zu verschaffen.«
Es sind doch immer die Igel, die leiden. Die kleinen, unglaublich süßen Wesen, von denen man dachte, sie werden unweigerlich die Beziehung retten. Sie meinen es gut, sie lassen einem das Herz aufgehen, aber dann wollen sie sich doch nicht immer streicheln und abbusseln lassen und erweisen sich als ein bisschen stachelig. Und dann, in null Komma nichts, ist alles kompliziert.
Wie Dostojewski auf die Idee kam, im vierten Teil seines monumentalen Romans Der Idiot ausgerechnet einen Vertreter der Gattung Erinaceidae – vermutlich den Nördlichen Weißbrustigel – als Dreh- und Angelpunkt für die aufgeladene Stimmung zwischen Fürst Myschkin und der liebreizenden Aglaia einzubauen? Es ist jedenfalls eine bestechend originelle Idee – dafür, dass der Igel nur als Symbol dient.
Und dann ist auch noch alles irgendwie Zufall, ein impulsiver Annäherungsversuch, mit dem der kindlich naive Fürst Myschkin, der natürlich in Aglaia verliebt ist, nicht umgehen kann: Die Gymnasiasten Kolja und Kostja haben von ihrem Kollegen Geld erhalten, um die Weltgeschichte von Schlosser zu kaufen. Stattdessen haben sie einem Bauern den Igel und ein Beil abgekauft, was ihnen sehr peinlich ist (das Beil peinlicher als der Igel). Aglaia überredet sie, ihr den Igel (nicht das Beil) zu verkaufen, setzt ihn in ein Körbchen, deckt ihn liebevoll zu und schickt ihn mit Kolja dem Fürsten Myschkin, jenem fragilen Freund der Familie, als Geschenk.
Und wir wissen ja alle, was ein Igelgeschenk bedeutet!
Nein, wissen wir nicht. Auch russische Adelige im 19. Jahrhundert hatten nicht die Tradition, pieksende Säugetiere per Botendienst zur Evozierung von Heiratsanträgen durch Petersburg zu jagen.
Nach Aglaias Logik entspricht der Igel aber praktisch einem Verlobungsring: rund, kostbar – na ja, das war es auch schon mit der Vergleichbarkeit. Der Fürst, unerfahren in Liebesdingen, versteht nicht. Es ist ein Igel. Er freut sich, er besucht sie am nächsten Tag. Sie stellt ihm ein Ultimatum: Hält er jetzt also um ihre Hand an oder nicht? Er ist überwältigt und sagt ja. Aber Aglaias Mutter ist über den potenziellen Schwiegersohn entsetzt, und ihre Schwestern brechen in hemmungsloses Gelächter aus. Sie behaupten glaubhaft, der Antrag sei nie ernst gemeint gewesen und begründen das mit dem Igel: »›Ich habe es ja gewußt, daß sie nur ihren Spott trieb und nichts weiter!‹ rief Adelaida. ›Von Anfang an, schon von dem Igel an!‹«
Myschkins ästhetische, zoologische oder auch kulturgeschichtliche Bewertung des Igels wird danach nie wieder abgefragt. Auch ob den armen Kerl in der Zwischenzeit irgendjemand gefüttert hat, steht nicht im Roman. Ein Jammer, diese symbolhafte Nachlässigkeit.
GATTUNG: Erinaceidae
LEBENSRAUM: ein Körbchen in Russland
KUNDEN, DIE SICH DAFÜR INTERESSIERTEN, KAUFTEN AUCH: ein Beil
SOZIALVERHALTEN: abweisend
WWF-FAKTOR: