Читать книгу Das Buch der Tiere - Martin Thomas Pesl - Страница 9
Niedlichkeit vs Geschmack
ОглавлениеBeliebter in den letzten Jahrzehnten ist freilich die Betrachtung der eher untypischen Haustiere, immer mit einem kalkulierten Niedlichkeitsmoment verbunden: Wer schmunzelt nicht bei der Vorstellung einer Elefantenkuh im Wohnwagen der schönen Frau in Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand oder angesichts des im Herzen der Ukraine herrlich deplatzierten Pinguins Mischa in Picknick auf dem Eis?
Nicht zu vergessen sind die Tiere als Nahrung – in dieses Lexikon haben sie allerdings nur Eingang gefunden, wenn ihr Leben davor annähernd der Rede wert war; wie das von Federigos Falken im Dekameron – und jene, die als Metapher, als Symbol, als literarisches Mittel zum Einsatz kommen. Der Löwe in Blumenberg zum Beispiel repräsentiert den mangelnden christlichen Glauben des Philosophen, der Bandwurm in Drecksau die unterdrückten Schuldgefühle des Protagonisten.
Die Handlung von Pnin hingegen würde ohne das Grauhörnchen ebenfalls stattfinden, auch Der Idiot von Dostojewski wäre ohne die wenigen Seiten mit dem Igel problemlos vorstellbar, und García Márquez hätte seine Familie Buendía am Ende der Hundert Jahre Einsamkeit problemlos auch anders der Natur anheimfallen lassen können als mithilfe der bunten Ameisen. Doch sie alle weisen ihre Autoren als Künstler aus, die eine Welt jenseits der Beschreibungs- und Fabulierkunst aufzustoßen wissen.
Die guten Tiere, die bösen Tiere, die echten Tiere, die menschlichen Tiere, die absurden Tiere, die Kuscheltiere. Da diese Kategorien oft nicht so leicht voneinander abgrenzbar sind, haben wir uns bei der Präsentation der Sammlung für eine zoologische Anordnung der Figuren entschieden, beinahe so, als schrieben wir eine Ergänzung zu Brehms Tierleben. So sind die Leserinnen und Leser eingeladen, mit ihrer Lieblingstierart zu beginnen (in meinem Fall, habe ich das schon erwähnt?, sind es die Affen!), in der Hoffnung, dass sie danach auch noch in die anderen Abteilungen des literarischen Zoos vordringen.