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Wie das Jesuskind zu seinem Mantel kam

Drei Tage vor Heiligabend ging der Pfarrer in die Kirche, um nachzuschauen, ob für die Christmette alles in Ordnung war.

Die Kerzen standen auf dem Altar. Der festlich geschmückte Tannenbaum strahlte im Lichterglanz. Die Weihnachtskrippe mit Maria, Josef, Engeln, Hirten, Schafen, Ochs, Esel und dem Jesuskind in der Futterkrippe ... Der Pfarrer sah ungläubig, soweit man das von einem Pfarrer sagen konnte, in die leere Krippe. Irgendjemand hatte das Jesuskind gestohlen. Mit seinem Smartphone simste und twitterte er seinen Gemeindemitgliedern den ungeheuerlichen Vorfall. Außerdem druckte der Pfarrer Handzettel mit einem Bild des gestohlenen Jesuskindes, mit der Aufforderung, der Sünder möge Reue zeigen und das Jesuskind umgehend zurückbringen. Die Zettel verteilte er auf der Straße und klebte sie an jeden Baum und jede Laterne in der Umgebung.

Vor ein paar Tagen kam Saba mit einer Puppe in die Flüchtlingsunterkunft und zeigte sie voller Freude ihrer Mutter Afeni: „Sieh mal Mami, was ich gefunden habe. Diese Puppe wohnt jetzt bei mir, und ich gebe sie nie wieder her.“

„Oh!“, sagte Afeni. „Das ist aber eine schöne Puppe.“ Sie hatte sich schon oft gewundert, dass die Menschen in diesem Land gut erhaltene Sachen einfach fortwarfen. „Wie heißt sie denn?“, fragte sie ihre Tochter.

„Mir ist noch kein passender Name eingefallen. Sie heißt vorläufig Püppchen“, erklärte Saba.

Am Morgen des 24. Dezembers fuhr Afeni mit dem Fahrrad in die Stadt, um einige Einkäufe zu erledigen. Ihr fielen die zahlreichen Plakate auf, die an Bäumen und Laternen hingen. Als sie sich einen dieser Zettel näher ansah, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie riss ihn ab und radelte im Eiltempo zurück zum Asylbewerberwohnheim, stürmte in ihr Zimmer und riss ihrer Tochter die geliebte Puppe aus den Armen.

„Du Diebin!“, schalt sie Saba. „Du hast die Puppe gar nicht gefunden. Du hast sie gestohlen. Willst du, dass man uns nach Afrika zurückschickt?“

Saba heulte los: „Aber Mami, ich habe die Puppe nicht gestohlen, sondern gerettet. Sie lag in einem großen und kalten Haus in einer Futterkrippe, aus der bei uns zu Hause die Esel und Ziegen fressen. Alle Puppenkinder schlafen doch hier in warmen, weichen Betten. Die Puppe sollte nicht frieren, also habe ich sie mitgenommen.“

„Es hilft alles nichts. Die Puppe wird zurückgebracht, und zwar heute noch! Basta!“, sagte Afeni in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ.

Saba hielt ihr einziges Spielzeug, das sie je besessen hatte, im Arm und schluchzte vor sich hin.

Zur späten Stunde am Heiligen Abend machte sich Afeni mit ihrem Kind Saba und dem Puppenkind ihrer Tochter auf den Weg in die Sankt-Lambertus-Kirche.

Der Pfarrer hatte soeben die Kirche betreten, um die Christmette zu zelebrieren. Er und alle Menschen, die sich in Sankt Lambertus zum Gottesdienst versammelt hatten, starrten traurig in die leere Krippe.

Für einen Moment herrschte Stille in dem großen, kalten Haus.

Plötzlich wurde sie durch kleine trippelnde Schritte unterbrochen, die den breiten Mittelgang entlangliefen, bis sie vor dem Pfarrer am Altar zum Stehen kamen.

Saba hielt mit gesenktem Kopf und heftig klopfendem Herzen dem schwarz gekleideten Mann die Puppe entgegen: „Ich bin Saba und bringe die Puppe zurück, die ich aus der Krippe fortgenommen habe. Das Puppenkind tat mir so leid, weil es so arm gekleidet war und fror. Hier schlafen doch sonst alle Puppen mit ihren Müttern in warmen, weichen Betten. Ich habe ihr meinen Mantel umgelegt, damit sie nicht friert, wenn sie wieder in die Futterkrippe zurückgelegt wird.“

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Unverschämt, unser Jesuskind zu stehlen“, schimpften die einen.

„Hauptsache, das Jesuskind ist wieder da“, beschwichtigten die anderen.

„Das Kind hat es doch nur gut gemeint!“, predigte der Pfarrer.

Er nahm Saba an die Hand und ging mit ihr zur Krippe. Gemeinsam legten sie das Jesuskind zurück an seinen angestammten Platz.

„Auf Wiedersehen“, verabschiedete sich Saba traurig.

„Du hast doch bestimmt noch andere Puppen und wirst diese nicht allzu sehr vermissen?“, horchte der Pfarrer nach.

„Das Jesuskind war die einzige Puppe, die ich je besessen habe“, erzählte Saba.

Dann lief sie zu ihrer Mutter, die sich hinter ihrer Tochter in die Kirche geschlichen hatte.

Der Pfarrer bat die beiden, in der vordersten Kirchenbank Platz zu nehmen und aufmerksam zuzuhören, warum Maria und Josef nur in einem zugigen Stall Unterkunft fanden und ihren gerade geborenen Sohn in eine Futterkrippe legen mussten.

Gespannt hörten sich Saba und Afeni die Weihnachtsgeschichte an. Das Kind flüsterte ihrer Mutter zu: „Maria, Josef und das Jesuskind sind ja noch ärmer als wir.“

Afeni und ihre Tochter waren tief beeindruckt von den Worten des Pfarrers, den Orgelklängen und dem Gesang der Kirchenbesucher.

Nachdem die Christmette vorüber war und sich die Kirche geleert hatte, trat der Pfarrer auf Sabas Mutter zu und stellte sich vor: „Ich bin Pfarrer Hubert Selig. Es ist schon spät. Ich bringe Sie und Ihre Tochter mit meinem Auto nach Hause. Jetzt fahren keine Busse mehr.“

„Ich bin Afeni Rahua“, stellte sich Sabas Mutter vor. „Meine Tochter kennen Sie ja bereits. Wir nehmen Ihr Angebot dankend an. Sonst müssten wir wohl bei Maria, Josef und dem Jesuskind im Stall übernachten.“

„Frau Rahua, wann immer Sie Hilfe brauchen, bin ich für Sie und Ihre Tochter da“, versprach der Pfarrer.

„Wir sind aber keine Christen“, gab Afeni zu bedenken.

„Gottes Haus steht jedem offen und ganz besonders Kindern wie Saba, die ein großes, mitfühlendes Herz haben“, räumte der Pfarrer Afenis Bedenken aus.

Es war bereits nach Mitternacht, als Mutter und Tochter aus dem Auto des Pfarrers vor ihrer Unterkunft ausstiegen. Kurze Zeit später fielen sie todmüde in ihre Betten. Afeni schlief sofort ein, Saba nicht. Sie vermisste ihre Puppe so sehr.

Als Saba am nächsten Morgen die Wohnungstüre öffnete, saßen drei wunderschöne Puppen davor. In einer Einkaufstüte befand sich ein nagelneuer Wintermantel in ihrer Größe.

„Sieh mal Mutti!“, rief sie aufgeregt. „Das Jesuskind hat ein Wunder vollbracht! Der Pfarrer hat doch gesagt, dass das Jesuskind das kann!“

„Ja, so etwas in der Art hat der Pfarrer gesagt“, beruhigte sie ihr Kind.

Saba behielt die Puppe, die dem Jesuskind am ähnlichsten sah, und nannte sie Tulu, nach ihrem kleinen Bruder, der auf der Flucht erfroren war. Die beiden anderen Puppen schenkte sie ihren Freundinnen.

Seit diesem Weihnachtsfest wurde das Jesuskind in der Sankt-Lambertus-Kirche nie wieder ohne Sabas wärmenden Mantel in die Krippe gelegt.

Renate Handge wurde 1952 in Wuppertal geboren. Nach vierzigjähriger Berufstätigkeit in verschiedenen Bereichen der Justiz findet sie im Ruhestand endlich die nötige Zeit, um sich als Hobbyautorin zu betätigen. Ihre Kurzgeschichten und Gedichte wurden bereits in diversen Anthologien verschiedener Verlage veröffentlicht, u. a. im Papierfresserchens MTM-Verlag und in der ToMa-Edtion. Renate Handge gewann den Meerbuscher Literaturpreis 2015 in der Kategorie Prosa. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Velbert.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 8

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