Читать книгу Edvard Munch – Alpha und Omega - Martina Nommsen - Страница 11
1.6 «Durch meine Kunst habe ich probiert, mir das Leben und seine Bedeutung zu erklären»27 – Munch in Dr. Jacobsons Klinik
ОглавлениеMunchs intensive, ausschweifende und daher höchst problematische Alkoholsucht findet ihren Höhepunkt in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, nach dem dramatischen Ende seiner Beziehung zu Mathilde, genannt Tulla, Larsen (1869–1942). Mit ihr verbringt er zahlreiche Sommer in seinem Haus in Åsgårdstrand. Er fühlt sich durch Larsens Annäherungsversuche allerdings bedrängt und lehnt eine eheliche Verbindung ab. Während eines eskalierenden Streits löst sich ein Pistolenschuß, wodurch Munch ein Fingerglied der linken Hand verliert. Es sind Gunnar Heiberg und der Theaterkritiker Sigurd Bødtker (1866–1928), die Larsen zu einem Beziehungsende raten. Munch selbst fühlt sich hintergangen. In einem Brief an seinen engen Freund, den norwegischen Schriftsteller und Kunstkritiker Jappe Nilssen (1870–1931), der ebenfalls zeitweise in den Kreisen der Bohème verkehrte, schreibt der zutiefst verletzte Künstler: «Aber mich hat ja ihre Niederträchtigkeit fürs Leben ruiniert – meinen Körper und meine Seele beschmutzt, mich aus dem Land und aus dem Reich gejagt – und mich zum Geächteten in der ganzen Welt gemacht – Schuld daran war die Geilheit einer Frühlingsnacht. – Nur noch eine Frage. Kannst Du Dir vorstellen, was eine mißgestaltete Hand bedeutet – Ständiger Schmerz von morgens bis abends – eine Hand, ein Wunderwerk Gottes – ist durch gemeine Rohheit zerstört … Das kann man nicht vergessen – Liebesschmerz kann man vergessen, aber nicht körperliche Gebrechen.»28 Nach der Trennung ist Munch psychisch erschöpft und erlebt einen Höhepunkt seines paranoiden Verfolgungswahns. Nicht nur sieht er Larsen als Verräterin, auch in seinen ehemaligen Freunden aus der Bohème vermutet er Feinde, darunter allen voran Gunnar Heiberg, Sigurd Bødtker sowie seinen ehemaliger Mentor Christian Krohg.
Munchs ohnehin schon ausgeprägte Angststörung und die wiederkehrenden Halluzinationen werden durch den übermäßigen Alkoholkonsum gesteigert, so dass er unter einem erheblichen Verfolgungswahn leidet: «Sitze und trinke einen Whisky nach dem anderen – der Alkohol reizt nun nicht mehr – … Die feinsten Nerven sind betroffen … und der allerfeinste ist angegriffen – ich fühle es, es ist der Lebensnerv – er verbrennt – ich lasse ihn verbrennen – aus damit! der Schmerz soll enden – die Angst soll enden – Whisky auf Whisky verbrennen den Schmerz, die Angst – alles – und dann ist es aus.»29 Der Alkohol ermöglicht Munch jedoch nur eine kurze Flucht von seinen Problemen und den Erinnerungen an die Vergangenheit – die familiären Todesfälle, die Intrigen innerhalb der Kristiania-Bohème sowie seine gescheiterten Liebesbeziehungen. Seelisch und körperlich wird er durch die Sucht in eine lebensgefährliche Situation getrieben, so dass er schließlich seinen Freund, den dänischen Autor Emanuel Goldstein (1862–1921) bittet, ihn in die Kopenhagener Nervenklinik von Dr. Daniel Jacobson (1863–1939) zu bringen, wo er sieben bis acht Monate bleiben wird.30 Es ist nicht das erste Mal, dass Munch sich zu einer Behandlung entschließt – einige Monate vor diesem Aufenthalt schreibt er einem Freund, er wolle nach Dänemark reisen, um «vielleicht ein Gefängnis für die gehobene Klasse krimineller Aristokraten auszuprobieren, oder wie man eine Nervenheilanstalt nennen mag».31 Er kontaktiert Dr. Einar Brünniche (1866–1932), einen dänischen Arzt in Hornbæk, erscheint jedoch nicht zu dem vereinbarten Termin.32 Dr. Jacobson verordnet strikte Bettruhe, Abstinenz von Alkohol wie Zigaretten und eine Diät. Die Therapie umfasst Massagen, Lichtbäder und elektrische Verfahren, von denen Munch seiner Tante in einem Brief berichtet: «Liebe Tante, ich werde dir ein wenig über mein Leben hier erzählen – das doch sehr anders als mein Gewöhnliches ist – zuerst war ich lange Zeit im … Bett – und kurz darauf begannen die Kuren – Herz-Massage – Elektrisierung – Bäder – Tannennadelbad und {…} elektrisches Lichtbad – es wirkt hervorragend […] Eine Veränderung ist mir widerfahren – ich muss {…} ein Lorgnon benutzen – das macht mich traurig. […] Ich habe angefangen zu malen – […] Glücklicherweise habe ich die Erlaubnis bekommen meinen Geschäften nachzugehen {…} wie etwa Ausstellungen zu ordnen und dergleichen […] Habe die Ausstellung hier organisiert und gleichzeitig mehrere in Deutschland –[…].»33 Der Klinikaufenthalt ermöglicht Munch eine intensive fokussierte Auseinandersetzung mit der Kunst; es entstehen zahlreiche Porträts des Personals, Landschaftsbilder und Graphiken. Die Krankenschwestern begleiten ihn in den nahegelegenen Zoo – Munch führt Tierstudien aus, von denen er einige später in Lithographien umsetzt. Die Monate in der Nervenklinik und Bemerkungen über seinen Gesundheitszustand werden von ihm in Briefen an Familie, Freunde und Bekannte thematisiert, wie auch an den deutschen Kunstsammler Albert Kollmann (1837–1915), dem er von einer «sehr starke Nervenkrise» berichtet und anführt, er wäre dem «Tode sehr nah».34
Munch zeichnet eine Giftblume: Anstelle der Blüte spriessen aus dem Blumenstengel drei Frauenköpfe – Frauen als Ursache seines Leidens. Dieses Blatt bildet den Auftakt zu einem Lithographie-Zyklus, die Fabel Alpha und Omega entsteht. «Ich kann immer noch nicht sagen – wann ich wegreise […] Ich bleibe hier sicher noch diesen Monat deswegen habe ich an einen kleinen {…} Ort auf dem Land gedacht – ich muss ja auch eine Nachkur haben […] Vielleicht finde ich ja im Frühjahr {…} einen Ort in der südlichen Nähe von Kristiansand.»35 Am 30. April 1909 darf Munch die Klinik verlassen und begibt sich nach Norwegen.