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b) Verfassungsnachholung: Wehr- und Notstandsverfassung

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Die sukzessive Rückgewinnung voller staatlicher Souveränität durch den Abbau der Besatzungsrechte hatte ihre Kehrseite im entsprechenden Aufbau eigener Handlungsvollmachten, zu denen traditionsgemäß eigene Streitkräfte ebenso zählten wie Regelungen zur Bewältigung staatlicher Notstandslagen. Die Einfügung von Wehrverfassung (aa) und Notstandsverfassung (bb) wird demgemäß als „nachgeholte Verfassunggebung“[188] eingeordnet.

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aa) Die Aufstellung eigener Streitkräfte mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht für Männer war ein wesentlicher Akt der Westintegration der frühen Bundesrepublik.[189] Auf verfassungsrechtlicher Ebene erfolgte sie in zwei Schritten: einem gewissermaßen ersten Versuch, bei dem man noch die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Auge hatte, mit der Wehrnovelle von 1954;[190] sodann dem entscheidenden zweiten Schritt einer umfassender ausgearbeiteten Wehrverfassung 1956.[191] Bei dem sich über Jahre hinziehenden Gesamtprozess ging der Abbau des Besatzungsrechts Hand in Hand mit dem völkerrechtlichen Beitritt zu militärischen Allianzen (NATO, WEU) und der Veränderung des Verfassungsrechts. Eine zentrale Rolle spielten die Pariser Verträge von 1954, darunter als wichtigster der Deutschland-Vertrag (eine Neufassung des nicht in Kraft getretenen Generalvertrages von 1952). Er hob, von einigen alliierten Vorbehalten abgesehen, das Besatzungsstatut auf und gab Deutschland somit die Souveränität zurück.[192] Funktional erfüllte er zumindest partiell die Rolle eines Friedensvertrages. Am 5. Mai 1955 traten die Verträge in Kraft, vier Tage danach war die Bundesrepublik Mitglied der NATO. Am 12. November 1955 erhielten die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr ihre Ernennungsurkunden. Ein gutes halbes Jahr später waren Wehrverfassung und Wehrpflichtgesetz verabschiedet – das Land hatte wieder eine Wehrpflichtarmee. Am 1. April 1957 rückten die ersten 10 000 wehrpflichtigen Rekruten in die Kasernen ein.

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Die neuen grundgesetzlichen Regelungen[193] betrafen zum einen den Grundrechtsabschnitt (Ersetzung der „Verwaltung“ durch „vollziehende Gewalt“ in Art. 1 Abs. 3 GG, Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer gem. Art. 12 Abs. 2 GG, Grundrechtseinschränkungen gem. Art. 17a GG), vor allem aber die Staatsorganisation, wobei als hervorstechendes Kennzeichen die „Reduzierung und Teilung des traditionell umfassenden militärischen Oberbefehls [...] und die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle“[194] zutage tritt. Die Verankerung des Amtes eines Wehrbeauftragten (Art. 45b GG) und des Verteidigungsausschusses, der zugleich die Rechte eines Untersuchungsausschusses hat (Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG), weisen in diese Richtung.

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bb) Auch die nach weit zurückreichenden Vorarbeiten im Jahre 1968 verabschiedete Notstandsverfassung[195] war letztlich noch besatzungsrechtlich induziert, weil an ihre Verabschiedung der Verzicht auf vorbehaltene Rechte der Alliierten aus dem Deutschland-Vertrag von 1955 geknüpft wurde.[196] Die den inneren wie den äußeren Notstand betreffenden Regelungen gerieten außerordentlich detailliert[197] und erstreckten sich ungeachtet der Einfügung eines eigenen neuen Abschnittes Xa (Art. 115a–115l GG) über das gesamte Grundgesetz.[198] Betroffen waren zunächst die Grundrechte durch Ergänzung des Art. 9 Abs. 3 GG um einen Satz 3 sowie Einschränkungen bei Art. 10, 11 GG und die Einfügung von Art. 12a GG; betroffen waren sodann das Verhältnis von Bund und Ländern (Art. 35 GG), die Kompetenzkataloge sowie Struktur und Aufgaben der Bundesorgane (u.a. Einfügung eines Abschnittes IVa). Letztlich stand hinter dieser Detaillierung und der mehrfachen Stufung des äußeren Notstandsfalles das Bestreben, „die Mängel der Regelung des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung zu vermeiden und den Gefahren einer allgemeinen Notstandsklausel zu wehren“[199]. Stattdessen wird ganz im Sinne konsequenter rechtlicher Durchformung des Notstands die unabhängige Gerichtsbarkeit weitgehend ungeschmälert erhalten und die Kontrollfunktion des Parlaments nach Möglichkeit bewahrt.[200] Die Stunde des Notstands sollte nicht mehr allein die Stunde der Exekutive sein. Auch gab es Kompensationsgeschäfte wie die Einfügung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 GG oder der (bis dato nur einfachgesetzlich geregelten) Verfassungsbeschwerde in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.[201] Einer wirklichen Probe auf ihre Operationalisierbarkeit musste die Notstandsverfassung bislang glücklicherweise nicht unterzogen werden; ob sie sie bestehen würde, lässt sich wegen ihrer hohen, aber vielleicht wenig praktikablen Regulierungsdichte bezweifeln.

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Ein Bestandteil der Novelle, der sich nicht nur auf den Notstandsfall bezog, sondern auch für die Normallage galt, wurde von gewichtigen Stimmen in seiner Verfassungsmäßigkeit angezweifelt: Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG. Die bis dato von den Alliierten durchgeführte Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs zu nachrichtendienstlichen Zwecken[202] sollte damit in eigene deutsche Regie übernommen und zugleich rechtsstaatlich diszipliniert werden. Die hiernach erlaubten Maßnahmen konnten auch ohne spätere Benachrichtigung des Betroffenen erfolgen, nahmen ihm also die bis dato vorbehaltlos garantierte Möglichkeit, gemäß Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsweg zu beschreiten; dessen Ergänzung um einen Satz 3 diente insofern als prozessual flankierende Absicherung. Hierin sahen viele, unter ihnen kein Geringerer als Günter Dürig,[203] einen mehrfachen Verstoß gegen die (bei Verfassungsänderungen den einzigen materiellen Prüfungsmaßstab bildende) Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer seiner wichtigsten (und mit der knappen Mehrheit von 5:3 Stimmen ergangenen) Entscheidungen eine Verletzung der Ewigkeitsklausel verneint, die neue Verfassungsbestimmung aber zugleich restriktiv ausgelegt.[204] Heute wird dem seinerzeit scharf gescholtenen Urteil[205] sogar attestiert, es habe letztlich befriedend und klärend gewirkt und nehme sich im Vergleich mit jüngeren Rechtsprechungstendenzen in diesem Bereich eher liberal aus.[206] Ohnehin ist die Norm mittlerweile weit in den Schatten der Diskussion um den so genannten Großen Lauschangriff getreten (dazu unten, Rn. 69).

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