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d) Verfassungsbewährung: Deutsche Wiedervereinigung als epochale Herausforderung

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Die deutsche Wiedervereinigung, ein ebenso unerwartetes wie epochales Ereignis, stellte das Grundgesetz vor seine bislang größte Herausforderung.[214] Nach vielen aufgeregten politischen Debatten und manchen wegen der sich überschlagenden Ereignisse nach kurzem schon wieder überholten verfassungsrechtlichen Vorschlägen[215] wurde die deutsche Wiedervereinigung auf dem Vertragswege bewerkstelligt – mit dem formellen Abschluss eines echten völkerrechtlichen Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.[216] Die auch in der Staatsrechtslehre verbreitete Rede davon, die DDR sei der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 Satz 2 a.F. GG „beigetreten“[217], trifft also nicht zu. Zwar hat die frei gewählte Volkskammer der DDR am 23.8.1990 den Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen;[218] eingetreten ist er dadurch jedoch nicht. Denn tatsächlich haben die beiden deutschen Staaten nach Durchspielen vieler Möglichkeiten die Wiedervereinigung letztlich durch den „in Berlin am 31. August 1990 unterzeichneten Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands einschließlich des Protokolls und der Anlagen I bis III sowie der in Bonn und Berlin am 18. September 1990 unterzeichneten Vereinbarung“[219] vollzogen. Ihm mussten sowohl Bundestag und Bundesrat wie auch die Volkskammer der DDR zustimmen. Zwar ist im Einigungsvertrag (EV) selbst vom „Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990“ die Rede.[220] Doch war an jenem Tag Art. 23 a.F. GG gar nicht mehr existent, da durch Art. 4 Nr. 2 des Einigungsvertrages, der am 29.9.1990 in Kraft getreten war, aufgehoben.[221] Von daher handelt es sich bei den Regelungen des völkerrechtlichen Vertrages auch nicht, wie gern gesagt wird, lediglich um Festlegungen der Voraussetzungen und Folgen des Beitritts.[222] Denn weder ist das Grundgesetz, wie Art. 23 a.F. GG das vorsah, in unveränderter Gestalt im „Beitrittsgebiet“ in Kraft gesetzt worden, sondern galt erst in seiner durch den Einigungsvertrag modifizierten Form; noch entfaltete es Gültigkeit in der DDR, sondern in den fünf neuen Bundesländern, die durch ihre Wiederbegründung, die an eben jenem 3. Oktober 1990 gemäß Art. 1 Abs. 1 EV juristisch wirksam wurde, in der gleichen juristischen Sekunde die alte DDR ablösten, von deren Beitritt man gemeinhin spricht. „In Wahrheit war es eben der völkerrechtliche Einigungsvertrag, der den Beitritt in einer umfassenden Weise selbst regelte.“[223]

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Die in jeder Hinsicht solitäre Konstellation brachte es im Übrigen mit sich, dass das Grundgesetz zum ersten und vermutlich auch zum letzten Male im Wege eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag geändert wurde[224] – auch dies ein wegen der Beschränkung parlamentarischer Gestaltungsmacht ungewöhnlicher Vorgang, der seine Rechtfertigung letztlich aus der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der historischen Vorgänge schöpft. Das Bundesverfassungsgericht hat das Verfahren mit sachlich durchaus fragwürdigem Hinweis auf Art. 23 Satz 2 a.F. GG in Verbindung mit dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel a.F. als Grundlage dieses Vorgehens und die Qualifizierung der Grundgesetz-Änderungen als „beitrittsbedingt“ bzw. „beitrittsbezogen“ gebilligt.[225] Der Bezug zur Wiedervereinigung ist zwar bei der Aufhebung von Art. 23 a.F. GG sowie der Änderung von Präambel und Art. 146 GG ersichtlich gegeben, lässt sich aber bei anderen der durch den EV vorgenommenen Verfassungsänderungen wie etwa bei Art. 51 Abs. 2 GG mit Fug und Recht bezweifeln.

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Als verfassungsrechtlich wie außenpolitisch bedeutsamstes Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung bleibt festzuhalten, dass die deutsche Frage nun nicht mehr offen ist.[226] Mit der mehrfachen Änderung der Präambel[227] im Zusammenhang mit der Streichung von Art. 23 a.F. GG ist klargestellt, dass sich das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in dem der aufgezählten 16 Bundesländer erschöpft. Die Herstellung der deutschen Einheit ist also nicht in den Grenzen von 1937 erfolgt, und Deutschland stellt keine weitergehenden Gebietsansprüche unter Berufung auf das Wiedervereinigungsgebot. Andere Teile Deutschlands i.S.d. Art. 23 a.F. GG gibt es nicht mehr.[228] Diese vor allem für die anderen europäischen Staaten und auch die USA wichtige Feststellung wurde durch die flankierende völkerrechtliche Regelung im „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ abgesichert.[229]

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Gleichwohl ist das Grundgesetz noch immer das von 1949. Einen neuen Akt der Verfassunggebung hat es im Zuge der deutschen Wiedervereinigung nicht gegeben. Das zu betonen besteht Veranlassung, weil die Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag[230] sowie manche Äußerungen in der Literatur ein solches Verständnis befördern könnten.[231] Auch in den besonderen Formen und Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung kann kein formaler Akt der Verfassunggebung gesehen werden. Die Menschen in der ehemaligen DDR haben das Grundgesetz angenommen, nicht geschaffen. Das Grundgesetz ist also durch die Wiedervereinigung nicht neu kreiert, sondern in seinem räumlichen Geltungsbereich erweitert und zugleich durch den Einigungsvertrag verändert worden.[232] Es ist aber nach wie vor das Grundgesetz vom 23. Mai 1949.

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Andererseits bleibt ebenso unzweideutig festzuhalten, dass Art. 146 GG das Tor zu einer neuen, vom gesamten deutschen Volk beschlossenen Verfassung weiterhin offenhält. Das Grundgesetz hat legitime und gesamtdeutsche Geltung, ohne aber als definitive, endgültige und auf legalem Wege nicht mehr zu beseitigende Verfassung gelten zu können. Vielfältige Versuche, die Schlussbestimmung des Grundgesetzes zu marginalisieren oder für gänzlich unbeachtlich zu erklären,[233] finden im Normtext ebenso wenig eine tragfähige Grundlage wie in systematischer oder teleologischer Interpretation oder den Beratungen zur Veränderung der Norm, die im Übrigen nur in der Einfügung eines Relativsatzes bestand.[234] Nach richtigem Verständnis perpetuiert Art. 146 n.F. GG den Ablösungsvorbehalt und eröffnet somit weiterhin die zeitlich nicht begrenzte Möglichkeit, das Grundgesetz durch eine in freier Entscheidung des deutschen Volkes beschlossene Verfassung zu ersetzen.[235]

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In Art. 5 des Einigungsvertrages war im Übrigen empfohlen worden, die Notwendigkeit künftiger Verfassungsänderungen zu prüfen. Die daraufhin Ende 1991 eingesetzte 32köpfige Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) bestand je zur Hälfte aus Vertretern von Bundestag und Bundesrat,[236] womit die Aufgabe in die Hände aktiver Parteipolitiker gelegt war. Außerdem bedurfte es für die Vorschläge einer Zweidrittelmehrheit. Entsprechend „mager“[237] und ganz überwiegend auf das Bund-Länder-Verhältnis konzentriert fielen die Ergebnisse aus, wie sie sich in der folgenden formellen Verfassungsänderung niederschlugen.[238] Da von machten lediglich Art. 3 Abs. 2 Satz 2 (Verfassungsauftrag zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau), 3 Abs. 3 Satz 2 (Benachteiligungsverbot für Behinderte) und 20a GG (Staatsziel Umweltschutz) eine Ausnahme.

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