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c) Bundesstaat

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Die föderale Gliederung Deutschlands blickt auf eine lange Tradition zurück (vgl. oben, Rn. 22). Ihre Bedeutung für das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutschland kann kaum überschätzt werden.[341] Das Charakteristische des Bundesstaates besteht darin, dass die im Grundgesetz als „Länder“ bezeichneten Gliedstaaten nach ganz herrschender Doktrin ihrerseits Staatsqualität aufweisen.[342] Daraus leitet sich etwa ihre Verfassungsautonomie ab.[343] Von der Möglichkeit zu eigener Verfassunggebung sowie der Etablierung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit können die Länder allerdings nur im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG („Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“) Gebrauch machen.[344] Diese als Homogenitätsklausel bezeichnete Vorschrift zeigt die Grenzen der Eigenstaatlichkeit der Länder auf, die zudem weder Völkerrechtssubjekte sind noch über ein Sezessionsrecht verfügen; auch gibt es für sie, wie Art. 29 GG (Zulässigkeit der Neugliederung des Bundesgebietes) demonstriert, keine Bestandsgarantie.[345]

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Neben der Anerkennung landsmannschaftlicher Verschiedenartigkeiten und gewachsener Bindungen besteht der wesentliche verfassungsrechtliche Effekt föderaler Gliederung in der Vervielfältigung von Entscheidungs- und Machtzentren und der damit verbundenen Dezentralisation. Plastisch spricht man insofern von „vertikaler Gewaltenteilung“[346]. Die Vielfalt bewirkt wechselseitige Kontrolle, aber auch Konkurrenz und Wettbewerb und bietet so eine gewisse Grundlage für die Vorstellung eines „kompetitiven“ Föderalismus, wenngleich die entsprechende Programmatik noch recht unscharf zu sein und ein elaboriertes Konzept noch nicht vorzuliegen scheint.[347]

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Entscheidend für das politische Gewicht der Länder sind die ihnen zustehenden Kompetenzen. Unentziehbar steht ihnen gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zunächst einmal die „grundsätzliche Mitwirkung“ bei der Gesetzgebung des Bundes zu. Wichtiger noch dürfte sein, dass den Ländern ein „Kern eigener Aufgaben als ‚Hausgut‘ unentziehbar“ verbleiben muss.[348] Nach derzeitiger verfassungsrechtlicher Normlage gilt ein alle staatlichen Aufgaben erfassendes Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach eine Vermutung für die Länderzuständigkeit streitet, die Bundeszuständigkeit hingegen jeweils einer besonderen Regelung im Grundgesetz bedarf (vgl. Art. 30, 70, 83 GG). In der Verfassungswirklichkeit nehmen sich die Dinge freilich anders aus: der Bund dominiert aufgrund beständiger Erweiterung und extensiver Nutzung der Gesetzgebungskompetenzen auf der legislativen Ebene, während die Ausführung der Bundesgesetze ganz überwiegend den Ländern anvertraut ist. Deren Dominanz auf der Verwaltungsebene führt zur verbreiteten Charakterisierung des bundesrepublikanischen Modells als eines „Exekutivföderalismus“[349].

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Als Erscheinungsform dieses Exekutivföderalismus kann auch der seit den 1960er Jahren forcierte „kooperative Föderalismus“ (vgl. oben, Rn. 56) gelten. Die damit umschriebenen, weit über Art. 91a, b GG hinausreichenden intensiven Formen der Zusammenarbeit im Bund-Länder- sowie im Zwischenländerbereich[350] sind in aller Regel Domäne der Verwaltung, vor allem der Ministerialbürokratien, weniger der parlamentarischen Vertretungen. Auch nach der Entflechtung im Bund-Länder-Verhältnis durch die Förderalismus-Reform vom Sommer 2006 (vgl. oben, Rn. 83) werden auf weiten Gebieten staatlichen Wirkens Kooperationsformen der genannten Art anzutreffen sein.

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Der Exekutivföderalismus findet schließlich eine weitere Realisierung in Gestalt des Bundesrates, in dem weder volksgewählte Abgeordnete der Länder wie nach dem amerikanischen Senatsmodell (vgl. oben, Rn. 38) noch von den Landesparlamenten entsandte Vertreter sitzen. Art. 51 GG bestimmt vielmehr, dass der Bundesrat aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht, wobei in Abhängigkeit von der Einwohnerzahl ein Land über mindestens drei und höchstens sechs Stimmen verfügt.

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Eine besondere Prägung erfährt der bundesdeutsche Föderalismus (und stärker wohl noch die bundesdeutsche Bundesstaatstheorie) durch die „Bundestreue“[351]. Nach überwiegender, wenn auch nicht unumstrittener Meinung auf den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben gegründet, verpflichtet die Bundestreue den Bund und die Länder wechselseitig sowie die Länder untereinander, bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen „die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen“[352]. Angesichts des vergleichsweise hohen Detaillierungsgrades der den Bundesstaat betreffenden Normierungen kommt der Grundsatz der Bundestreue nur subsidiär zur Geltung. Ihn hat das Bundesverfassungsgericht durchaus des Öfteren herangezogen, doch wurde wegen der gebotenen Zurückhaltung bei der Anwendung bislang nur in ganz wenigen Fällen eine Verletzung der Bundestreue konstatiert.[353]

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 3. Demokratieprinzip

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