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b) Volkssouveränität, Wahlen, Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 GG)

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Der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) bringt das tradierte Prinzip der Volkssouveränität zum Ausdruck.[366] Deren höchste Ausdrucksform, die verfassunggebende Gewalt, ist freilich nicht hier, sondern in der Präambel und in Art. 146 GG verortet. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG thematisiert das Volk als Verfassungsorgan, nicht als Schöpfer der Verfassung. Doch wird neben dem Akt der Verfassunggebung auch die Ausübung der Staatsgewalt an den Willen des Volkes rückgebunden und so dem Gedanken der Volkssouveränität in doppelter Weise Rechnung getragen.[367]

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Bei dieser Rückbindung handelt es sich nicht um eine Zuständigkeitsregelung, sondern um ein Legitimations- und Verantwortungsprinzip. Der Satz will also nicht der Illusion Vorschub leisten, das Volk müsste und könnte selbst alle verbindlichen staatlichen Entscheidungen treffen. Gefordert ist vielmehr deren prinzipielle Rückführbarkeit auf den Willen des Volkes. Ausgeschlossen sind damit alle gewissermaßen selbsttragenden Legitimationsvorstellungen transzendentaler, traditionaler, elitärer oder charismatischer Provenienz. Demokratie anerkennt „keine nicht auf das Volk rückführbare und von ihm zumindest mittelbar legitimierte staatliche Macht als gerechtfertigte Autorität“[368].

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Unter der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG angesprochenen Staatsgewalt sind alle Arten ihrer Ausübung zu verstehen: die Summe der legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen der Staatsorgane und Amtswalter auf allen Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden unter Einschluss der verselbständigten juristischen Personen des öffentlichen Rechts.[369] Auch das privatrechtsförmige Handeln des Staates bildet keine Generalausnahme.

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Mit „Volk“ ist in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das deutsche Staatsvolk als Summe der Staatsangehörigen gemeint,[370] nicht die wechselhafte Summe der von der Staatsgewalt irgendwie „Betroffenen“[371] oder aller im Staatsgebiet sich aufhaltenden Personen. Für diese Deutung spricht neben verfassungshistorischen wie -vergleichenden Betrachtungen vor allem der systematische Zusammenhang mit Präambel, Art. 146 GG sowie anderen Vorschriften des Grundgesetzes, in denen ausdrücklich vom deutschen Volk die Rede ist. Wie Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG (vgl. oben, Rn. 64) zeigt, schließt das ein Kommunalwahlrecht für EU-Ausländer nicht aus.

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Nähere Ausgestaltung erfährt die Volkssouveränitätsdoktrin durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, indem dort die beiden unmittelbaren Ausübungsformen staatlicher Gewalt durch das Volk (Wahlen und Abstimmungen) unterschieden sowie besondere Organe für die mittelbare Ausübung der Staatsgewalt genannt werden.

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Mit Wahlen sind staatsrechtlich Entscheidungen über Personen, mit Abstimmungen solche über Sachfragen gemeint. In der strikt repräsentativ ausgestalteten Ordnung des Grundgesetzes stellen die Parlamentswahlen den zentralen Akt dar, in dem sich der Bürger als „Glied des Staatsorgans Volk im status activus“ betätigt.[372] Der Wahlvorgang (allein) knüpft das Band zwischen dem Volk und seiner Vertretungskörperschaft, die dadurch als einziges „besonderes Organ“ unmittelbar von diesem legitimiert ist. Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes realisiert sich also im Wesentlichen im Wahlakt, dessen Ausgestaltung daher von zentraler Bedeutung ist und der im Grundgesetz selbst mit den Wahlgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG[373] eine nähere Regelung erfahren hat. Das Parlament rückt in rechtshistorischer Perspektive (auch) aufgrund dieser Konstellation in das Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses.[374] Sowohl für die Vorbereitung wie für die Durchführung der Wahlen als auch für die Besetzung der Staatsämter und des Weiteren für die demokratische Rückkopplung zwischen Volk und Staatsorganen erweisen sich die durch Art. 21 GG in gewisser Weise institutionalisierten politischen Parteien als schlechthin ausschlaggebende Faktoren,[375] was die Kennzeichnung als „parteienstaatliche Demokratie“ durchaus rechtfertigt.[376] Dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien[377] kommt politisch zentrale Bedeutung nicht nur, aber auch für die Wahlen zu.

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Unter „Abstimmungen“ versteht man Sachentscheidungen durch die Aktivbürgerschaft selbst ohne repräsentative Vermittlung.[378] Plastisch bringt etwa die Verfassung des Freistaates Bayern die Alternativität von parlamentarischer und volksunmittelbarer Gesetzgebung zum Ausdruck.[379] Das Grundgesetz benennt die Möglichkeit von Abstimmungen in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, ohne sie ansonsten näher auszuformen oder zu konkretisieren. Zwar werden als Beispielsfälle zumeist Art. 29, 118 und 118a GG genannt; doch handelt es sich hierbei um Bevölkerungsentscheide, nicht um Volksentscheide. Derartige Territorialplebiszite bringen nicht das Staatsvolk als alternativen Gesetzgeber ins Spiel, sondern rekurrieren auf den von der Neugliederung betroffenen Bevölkerungsteil.[380] De constitutione lata gibt es daher keinen konkreten grundgesetzlichen Anwendungsfall für „Abstimmungen“ i.S.d. Art. 20 Abs. 2 GG im Grundgesetz, während in deutlichem Kontrast hierzu alle 16 deutschen Bundesländer Formen direkter Demokratie wie Volksbegehren und Volksentscheid kennen.[381] Das indiziert zugleich, dass de constitutione ferenda die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene im Wege der Verfassungsänderung keineswegs ausgeschlossen ist.

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