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b) „Konstitutionalisierung“ der Gesamtrechtsordnung?

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Die letztlich immer etwas spektakuläre Nichtigerklärung eines parlamentarischen Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht bildet nicht den Regelfall. Für die alltägliche Praxis des Rechtslebens ist von erheblich größerer Bedeutung, dass die Bestimmungen der Verfassung – namentlich die Grundrechte – in einer so früher sicher nicht für möglich gehaltenen Weise die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Gerichte (mit)prägen. Hier sind drei Gesichtspunkte von Relevanz: die verfassungskonforme und die verfassungsorientierte Auslegung sowie die konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG.

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Der methodologische und vom Bundesverfassungsgericht wiederholt eingeschärfte Grundsatz verfassungskonformer Auslegung[322] besagt im Kern, dass bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten einer Norm diejenige Variante zu wählen ist, die das Verdikt der Verfassungswidrigkeit vermeidet und die Norm auf diese Weise „erhält“. Er beruht substantiell auf einer Vermutung zugunsten der Verfassungsgemäßheit des Gesetzes (favor legis). Dem Gesetzgeber wird gleichsam unterstellt, er habe diejenige Auslegungsvariante gewollt, die mit der Verfassung vereinbar ist. Man bewirkt also mit Blick auf den Aussagegehalt des Grundgesetzes letztlich eine „verfassungsbedingte teleologische Reduktion der Gesetzesnorm“[323].

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Bei der verfassungsorientierten Auslegung[324] geht es nicht um den Ausschluss bestimmter Interpretationsvarianten, sondern eher umgekehrt um die gleichsam „verfassungsfreundliche“ Auslegung von Rechtsnormen. Plastisch hat das Bundesverfassungsgericht von einer interpretationsleitenden Bedeutung der Verfassung gesprochen.[325] Dem Stellenwert und dem Gewicht der Verfassungsrechtssätze im Allgemeinen und der Grundrechte im Besonderen soll auf diese Weise Rechnung getragen, ihr Wirkungsgrad erhöht werden. Die verfassungsorientierte Auslegung indiziert die umfassende Relevanzsteigerung des Grundgesetzes für die gesamte Rechtsordnung, auf die es ausstrahlt und deren Verständnis es beeinflusst. In der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte (dazu unten, Rn. 141) auf die Gesamtrechtsordnung, die von ihnen „Richtlinien und Impulse“[326] erfährt, findet die verfassungsorientierte Auslegung ihre intensivste Realisierung, ohne darauf beschränkt zu sein. Auch von den Rechtsgebieten her ist dieser Prozess nicht auf das Verwaltungsrecht beschränkt, obwohl gerade für dieses die grundrechtliche Durchdringung zu Recht als wesentlichster Zug der Nachkriegsentwicklung bezeichnet worden ist.[327] Für diese dirigierende, stimulierende und orientierende Funktion lassen sich viele Beispiele benennen.[328]

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Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG muss ein Gericht, das ein für seine Entscheidung relevantes (nachkonstitutionelles, förmliches) Gesetz für verfassungswidrig hält, dieses dem Bundesverfassungsgericht vorlegen (so genannte konkrete Normenkontrolle). Ob diese Norm zwingend aus dem Vorrang der Verfassung abgeleitet werden kann, mag durchaus zweifelhaft sein,[329] nicht aber, dass sie diesen Vorrang stärkt. Denn hierdurch wird jedes Gericht zur Prüfung der Gesetze anhand des Grundgesetzes verpflichtet, wenn auch aus guten Gründen die Verwerfungsentscheidung beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert ist, um so die Höherrangigkeit der Verfassung nicht um den Preis zu erkaufen, dass jedes einzelne Gericht sich über den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers hinwegsetzt und dessen Autorität so letztlich untergräbt.[330] Art. 100 Abs. 1 GG bezweckt also, paradox gesprochen, die Sicherung des Vorrangs der Verfassung durch die Gerichte, aber zugleich auch gegen sie.

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Der geschilderte umfassende Vorrang der Verfassung nebst ihrer Tiefenwirkung in die Rechtsordnung wird gerade in jüngerer Zeit oft als „Konstitutionalisierung“ bezeichnet.[331] Doch führt diese Terminologie, bezogen auf die staatliche Verfassungsordnung, eher in die Irre, weil sie sich insofern inhaltlich mit dem deckt, was man gemeinhin als objektivrechtliche Gehalte der Grundrechte, insbesondere ihre Ausstrahlungswirkung im Sinne ihrer Einwirkung auf die gesamte Rechtsordnung bezeichnet (dazu unten, Rn. 140ff.). Es erscheint daher „nicht zweckmäßig, diese Neuschöpfung zu favorisieren, weil andere Kennzeichnungen schon zur Verfügung stehen und der Begriff Konstitutionalisierung seinen Schwerpunkt außerhalb des staatlichen Bereichs hat“[332].

§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 2. Verfassungsprinzipien

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