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Kapitel 4

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Philadelphia

Roger Thorn war verdreckt und lag, nahe der Interstate - in diesem Teil der Stadt Lincoln Highway genannt -, unter einer Brücke. Mitten im Straßengewirr hatte die Stadt freundlicherweise jede Menge Bäume gepflanzt, die in all dem Beton eine grüne Insel bildeten. Diese Grünzone, fast ein kleiner Park, wurde von der Vine Street, der Interstate 676 und weiteren Straßen begrenzt. Dies war ein beliebter Platz für Obdachlose, Tramps und Leuten, die eine Weile von der Bildfläche verschwinden wollten. Genau das beabsichtigte auch Roger. Seine Verfolger mussten seine Spur längst verloren haben, und er hoffte, dass dem Hippiepärchen nichts zugestoßen war. Nie hätte er geglaubt, diesen Tag zu überleben. Doch umso besser. Auf seinem W;g aus den Wäldern hinaus nach Philadelphia hatte er Rache geschworen. Er würde diese Schweinehunde zur Strecke bringen, denen ein Menschenleben weniger bedeutete als der Dreck unter ihren Fingernägeln. Er wollte sie erwischen, sie alle, bis hinauf zu den Bossen, den Leuten, die das Ganze inszenierten, um Geld und Macht an sich zu raffen. Roger war nach Philadelphia gekommen, weil er hier auf Unterstützung hoffen konnte. Vor einiger Zeit hatte ihn ein Auftrag in diese Stadt geführt, und im Zuge der Ermittlungen hatte er sich die Gunst einiger Leute sichern können, indem er sie vor dem Gang ins Gefängnis bewahrte. Das war zwar nicht ganz legal gewesen, aber es wusste ja niemand von seinen Kontakten. Zudem hoffte er, dass seine geheimen Depots - einige Waffen und Bargeld - unentdeckt geblieben waren.

Es war kurz vor Sonnenaufgang, und selbst die hartgesottensten Säufer waren unter alten Kartons und Zeitungen eingeschlafen. Vorsichtig erhob sich Roger und verließ auf leisen Sohlen das Lager. Auf seinem Weg in die Stadt benutzte er Nebenstraßen und achtete peinlichst darauf, nicht von einem übereifrigen Cop aufgegriffen zu werden. Zuerst führte sein Weg durch Chinatown, wo schon zu dieser frühen Stunde emsige Händler ihre Obst- und Gemüsestände aufbauten. Danach durchquerte er eiligst Downtown, wo er schließlich in der Sansom Street ein öffentliches Telefon fand. Aus dem Gedächtnis wählte er eine Nummer und wartete geduldig, bis am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer abnahm. Eine missmutige, knurrige Stimme meldete sich mit einem »Was ist? Wer ruft denn da schon in aller Herrgottsfrühe an? Eine Unverschämtheit, das!«

Roger grinste, denn es war völlig egal, zu welcher Zeit man Henry Rolin anrief: Es war immer die falsche Zeit. Dass Henry am Apparat war, hatte Roger schon nach dem ersten Wort erkannt.

»Guten Morgen, Henry. Hier ist Roger. Du erinnerst dich bestimmt noch an mich. Oder? Wehe, wenn nicht, dann kannst du deine schlechte Laune bald an einem liebenswürdigen Gefängniswärter auslassen. Hast du mich verstanden?«

»O je, der Staatsbulle«, entfuhr es Henry. »Du hast mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt.«

»Wusste ich doch«, antwortete Roger schon fast amüsiert, gleichzeitig aber auch sehr froh darüber, dass er Henry erwischt hatte.

»Was willst du denn?«, knurrte der schon wieder.

»Als Erstes, Henry, will ich, dass du deinen Hintern in dein Auto schwingst und mich Sansom Street Ecke zwanzigste Straße abholst. Alles Weitere erkläre ich dir dann. Erschreck dich aber nicht, ich sehe heute etwas heruntergekommen aus.«

»Heute?«, antwortet Henry, hängte aber sofort auf, ohne auf eine Antwort zu warten.

***

Der Saal

Um kurz vor halb zehn rumpelte ein alter, verbeulter Lieferwagen auf den Hof des Fabrikgeländes. Auf dem zerkratzten Kastenaufbau stand in kaum noch leserlicher Schrift Schrotthandel Mac Mullen. Doch der Lieferwagen war keineswegs in so schlechtem Zustand, wie es schien. Der Wagen war nur aus Gründen der Tarnung so hergerichtet worden. Keinem zufälligen Beobachter würde es eigenartig vorkommen, den Transporter eines Schrotthändlers auf dem alten Fabrikgelände zu sehen.

Kurz vor dem Hauptgebäude hielt der Wagen an, und zwei Männer mittleren Alters stiegen aus. Sie trugen große, lederne Taschen und verschwanden kurz darauf im Haus. Es waren die gleichen Männer, die Carmen am Abend zuvor beobachtet und belauscht hatte. Zielstrebig stiegen sie die Treppen zum zweiten Stock hinauf und begaben sich zunächst in ein kleines Labor. Dort zogen sie ihre grünen Kittel über und legten aufgezogene Spritzen, Tupfer und Desinfektionsmittel auf den silbrigen Wagen.

Mit ironischer Stimme sagte der Größere der beiden: »Na, dann wollen wir mal unsere Visite machen. Außerdem wartet ja noch die Schönheit auf ihre Behandlung.«

Der andere Mann schüttelte nur besorgt den Kopf und schob den Wagen durch die Tür. Der Größere folgte fröhlich feixend. Kaum im Saal angekommen, fiel den Männern auf, dass Carmen nicht mehr in ihrem Bett lag. Sie ließen den Wagen stehen und rannten zwischen den Bettreihen hindurch. Ärgerlich drehte sich der kleinere der Männer zu seinem Kumpan um und schrie aufgebracht: »Wann hast du der Frau die letzte Injektion gegeben?«

»Ich?«, empörte sich der Angesprochene. »Wieso sollte ich der Schlampe die Injektion geben? Du warst an der Reihe. Du wolltest doch nicht, dass ich die Tante überhaupt anfasse.«

»Anfassen?«, schrie der kleinere Mann seinen Kollegen an. »Ich wollte nicht, dass du die Spenderin befummelst, auf deine kranke, sexistische Art. Das heißt aber nicht, dass du ihr keine Injektion geben sollst. Bist du denn völlig verblödet? Was meinst du, was nun geschieht? Der Boss wird außer sich sein vor Wut. Da kannst du dich auf was gefasst machen.«

»Wieso denn immer ich?«, maulte der andere, schon etwas kleinlauter.

»Ich muss den Boss anrufen«, murmelte sein Kollege. »Wir müssen wissen, was nun zu tun ist. Mann, das wird Ärger geben. Mannomann.« Damit drehte er sich um und eilte dem Ausgang der Halle zu.

Der größere Mann stand eine Sekunde wie versteinert da. In dieser kurzen Zeitspanne wurde ihm klar, dass er und sein Partner sich in einer sehr gefährlichen Situation befanden. Ihr Arbeitgeber kannte keine Gnade, und das Mindeste, womit die beiden rechnen mussten, war eine sehr unangenehme Befragung. Weiter wollte er gar nicht denken. So lief er schnell hinter seinem Kollegen her und rief, einer plötzlichen Intuition folgend: »Frank, warte mal! Lass uns erst mal nachdenken, ehe du anrufst. Wir können das Ganze ausbügeln, und der Boss wird nichts merken. Du weißt doch, wie er ist. Frank, nun bleib doch mal stehen!«

Der Angesprochene lief noch drei Schritte weiter und hielt dann tatsächlich an. Langsam drehte er sich um. Auch ihm war klar, dass sie in Schwierigkeiten steckten, und ein vernünftiger Ausweg konnte ihm nur recht sein. Er wollte, soweit das möglich war, sowieso nichts mit dem Boss zu tun haben. Dieser Mann und seine Kumpane waren gefährlich, sehr gefährlich, und dass ein Menschenleben in ihren Augen nichts wert war, sah man ja sehr deutlich in dieser Halle. Er würde sich die Idee seines Arbeitskollegen zumindest einmal anhören. »Also gut, Bob«, murmelte er gespielt gleichgültig. »Was hast du dir ausgedacht?«

Erleichtert, dass sein Kollege ihn anhören wollte, ehe er zum Telefon griff, erläuterte Bob seinen Plan. »Hör zu. Es ist doch eigentlich egal, wer die Spender sind. Wichtig für den Boss und damit auch für uns ist, dass die Anzahl der Einlieferungen stimmt. Wenn niemand fehlt, haben wir keine Probleme.«

»Aber es fehlt ein Spender«, entgegnete Frank.

Bob winkte ab und lächelte. »Ja, verstehst du denn nicht? Es ist ganz einfach. Wir brauchen nur einen neuen Spender. Niemand wird etwas merken.«

»So so, ganz einfach«, echote Frank. »Und woher willst du so schnell einen neuen Spender nehmen?«

»Na, wir ziehen los und fangen uns einen. So schwer kann das ja wohl nicht sein.«

Frank überlegte einen Moment. Ihm behagte es überhaupt nicht, sich als Menschenfänger zu versuchen. Er war Medizintechniker und kein Kidnapper. Aber so sehr er sich anstrengte, ihm fiel keine bessere Lösung ein.

Carmen war die ganze Nacht umhergeirrt. Immer wieder war sie stehen geblieben und hatte in die Nacht gelauscht, um herauszufinden, ob jemand sie verfolgte. Doch alles war ruhig geblieben. Sie war völlig verdreckt und nach ihrer Flucht durch den dunklen Wald ziemlich zerkratzt. Seit einigen Stunden war es nun schon hell, Carmen hatte Hunger, und sie fröstelte. Wo sollte sie nur hin? Wo konnte sie auf Hilfe hoffen? Irgendwo am Straßenrand hatte sie ein Hinweisschild gesehen. Sie war nicht mehr in Mexico. Sie befand sich irgendwo in den USA, dem Land ihrer Träume. Doch ein Albtraum hatte sie hierher verschlagen. Sie lief parallel zur kleinen Landstraße entlang und blieb, so weit es ging, in Deckung. Auf keinen Fall wollte sie durch eine Unachtsamkeit ihren Häschern erneut in die Hände fallen.

Nach einer Weile sah sie, dass die Landstraße in ein kleines Dorf führte. Hübsche Häuser säumten die Straße, mit blumenbepflanzten Vorgärten herausgeputzt. Der Ort lag ruhig vor ihr. In der Ferne hörte sie das Summen fahrender Autos.

Sie war offensichtlich in einem Wohnviertel oder einem Vorort. Der Verkehr konzentrierte sich, für Carmen nicht sichtbar, im Zentrum des Dorfs. Sie schlich vom Waldrand über eine Wiese auf das erste, mit einem weißen Lattenzaun umfriedete Haus zu. Ohne Mühe überwand sie den Zaun und hastete zur in zartem Gelb gestrichenen Hauswand. Durch ein Fenster wagte sie einen Blick ins Innere des Hauses. Sie sah direkt in eine schon etwas in die Jahre gekommene Küche. In den Schränken und an den Wänden sah sie reich dekorierte Kaffeetassen und Landschaftsbilder, vermutlich Erbstücke, die über Generationen liebevoll zusammengetragen worden waren. In diese Szenerie gediegener Gutbürgerlichkeit trat nun aus dem Flur eine grauhaarige, etwas dickliche Frau mit leicht gerötetem Gesicht, die einen großen Topf trug, den sie ächzend auf den emaillierten Gasherd stellte. Erschrocken und mit offenem Mund fuhr sie herum, als Carmen zaghaft ans Fenster klopfte. Mit einigen schnellen Schritten war sie beim Fenster, hob die Arme und rief laut aus: »Ach du liebe Güte, Kind, was ist denn mit Ihnen geschehen?«

Damit verließ sie das Fenster, eilte mit wehender Schürze aus der Küche und war in erstaunlich kurzer Zeit draußen angelangt. Hier erst sah sie, dass Carmen völlig unbekleidet war. Sofort riss sie sich die Schürze vom Leib und bedeckte notdürftig Carmens Blöße. Als sie Carmen beruhigend den Arm um die Schulter legte, sackte diese fast in sich zusammen. Schock und Anspannung der vergangenen Tage und Stunden forderten ihren Tribut. Die besorgte Hausfrau führte sie unter einem Schwall beruhigender Worte ins Haus und dann in ein kleines Gästezimmer. Dort setzten sich beide aufs Bett. Die Frau wartete einen Moment und ließ Carmen erst einmal zur Ruhe kommen. Währenddessen schaute sie sich deren zerschundenen, verschmutzten Körper genauer an. »Du armes Kind«, begann sie und schüttelte besorgt den Kopf. »Was um Himmels willen ist dir denn widerfahren?« Sie nahm Carmen in den Arm und streichelte ganz mütterlich über ihr verfilztes, schwarzes Haar.

»Ich bin Molly Barns«, stellte sie sich vor. »Und du bist nun in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Leg dich erst mal hin, und ich lass dir in der Zwischenzeit ein heißes Bad ein. Du wirst sehen, wie schnell es dir dann wieder besser geht.« Mit diesen Worten drückte sie Carmen sanft auf das Bett und deckte sie mit einem dicken Federbett zu. Dann eilte sie in das gleich nebenan liegende Badezimmer.

Lebens Spender

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