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Kapitel 8

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New York City (früher Nachmittag)

»Hanky, ich habe das Lager der Odin Force gefunden.«

Pauls Stimme war unvermittelt in Hankys Gedanken aufgetaucht.

Normalerweise machte sich Paul zunächst mit einem mentalen Klopfen bemerkbar. Diesmal schien er vor lauter Aufregung darauf zu verzichten.

»Hallo Paul. Das ist ja echt schnell gegangen.«

»Ja, ich bin selbst überrascht. War eigentlich ganz einfach. Nachdem ich den ungefähren Standort wusste, musste ich nur ein wenig umherstreifen. Ich habe den Lagerkommandanten unter Beobachtung. Er ist anscheinend mit einer Sache beschäftigt, die ihn beunruhigt. Willst du selbst mal einen Blick riskieren?«

»Aber sicher! Ich bin sehr gespannt, was dort geschieht. Warte einen Moment, ich muss nur schnell mit Walt sprechen. Kannst du uns genauere Informationen geben, wo das Lager zu finden ist?«

»Glaube schon. Aber das mach ich dann später. Ich sende dir zusätzlich eine Mail mit allen Infos.«

»Okay, Paul, also bis gleich. Ich melde mich. Beobachte inzwischen weiter.«

Walt Kessler saß vor einem PC und durchsuchte das Internet nach Informationen über die Gruppe Phönix und die Odin Force. Als er Hankys Schritte hörte, drehte er sich um und sah ihn fragend an.

»Na«, begann Hanky, »hast du schon was rausgefunden?«

»Nicht viel. Es wundert mich, dass so gut wie nichts im Netz zu finden ist. Normalerweise kann man über die Suchmaschi- nen Informationen über alles nur Erdenkliche finden. Aber ich bleibe dran.«

»Ich hatte gerade Kontakt zu Paul. Er hat das Lager gefunden. Wenn du mich suchst, ich bin in meinem Zimmer. Paul wartet, dass ich mich einlogge und mit ihm zusammen das Gelände dort eine Zeit lang beobachte. Stör mich bitte nicht, außer wenn es echt wichtig ist. Okay?«

»Geht klar.« Damit drehte sich Walt wieder zum Bildschirm und setzte seine Suche fort.

Hanky begab sich in sein Schlafzimmer, schloss die Tür und legte sich aufs Bett. Er schloss die Augen und sagte laut: »Paul, wir können anfangen.«

Sofort hatte er das Gefühl zu fallen. Fast gleichzeitig sah er von einer leicht erhöhten Position in eine Art Funkzentrale. Einige Uniformierte saßen vor Computern und an Funkgeräten. Sie wirkten sehr angespannt, wohl auch, weil ein anderer Mann, allem Anschein nach ein Offizier, hinter Ihnen stand und mehrfach nervös auf seine Armbanduhr schaute.

Pauls Stimme flüsterte in Hankys Kopf - was natürlich völliger Unsinn war, da sie ohnehin niemand hören konnte: »Ich glaube, das ist der Lagerkommandant. Siehst du, wie unruhig der Bursche ist? Er scheint auf irgendwas zu warten.«

»Da hast du wohl recht, Paul. Lass uns ein bisschen lauschen und sehen, was sonst noch passiert.«

***

Der Saal (zur gleichen Zeit)

Der Sheriff und seine Deputys versuchten, sich einen Überblick über das Chaos zu verschaffen und den hilflosen Menschen im Saal Erste Hilfe zu leisten. Zwischenzeitlich hatte der Sheriff mehrfach mit seinem Büro gesprochen und nach der angeforderten Hilfe durch die Staatspolizei und die umliegenden Krankenhäuser gefragt. Laut der letzten Meldung mussten die ersten Hilfskräfte in rund zehn Minuten vor Ort sein. Sheriff Ward schaute kopfschüttelnd durch den Saal und rief dann einen seiner Leute herbei: »He, Roberts, lauf mal runter zu Smithy. Der wartet am Eingang aufVerstärkung. Du musst die Staatspolizei und die Krankenwagen einweisen. Smithy soll dir dabei helfen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Leute eintreffen.«

Ohne zu antworten und froh, den Saal verlassen zu können, nickte Roberts nur kurz und eilte zur Tür. Hastig rannte er die Treppe hinab und brachte es dabei fertig, sich im Laufen eine Zigarette anzuzünden. Gierig inhalierte er, um den üblen Geschmack des Saals in seinem Mund loszuwerden.

In dem Moment, als er die Tür zum Hof aufstieß, hörte er ein lautes Krachen und sah, wie der Streifenwagen seines Kollegen Smithy von einem schwarzen SUV brutal gerammt wurde. Das Polizeiauto schleuderte und durchbrach die Wand eines kleinen Pförtnerhauses. Der schwarze Wagen brauste an dem zerbeulten Einsatzfahrzeug vorbei, in dem Roberts den schlaffen Körper Smithys zu erkennen glaubte. Sofort sprang er zurück in den Hausflur und schloss die Tür. Er duckte sich, verriegelte dabei die Tür und beobachtete, wie aus dem scharf bremsenden Wagen fünf schwarz gekleidete Gestalten sprangen, bewaffnet mit Schnellfeuergewehren, und sofort in Deckung gingen. Zwei weitere Wagen tauchten auf, und das gleiche wohl gut trainierte Prozedere spielte sich vor seinen Augen ab.

»Mindestens fünfzehn«, flüsterte er vor sich hin. Gehetzt schaute er sich nach etwas um, womit er die Tür verbarrikadieren konnte. In einer Ecke sah er einen starken Balken lehnen. Geduckt, damit er nicht durch die in die Tür eingelassenen kleinen Fenster gesehen werden konnte, rannte er durch den Flur. Er ergriff den erstaunlich schweren Balken und eilte heftig atmend zurück zur Eingangstür. Vorsichtig legte er den Balken ab, um jedes Geräusch zu vermeiden, und spähte durch das Fenster hinaus. Er konnte keine Veränderung feststellen, wusste aber, dass dies nicht lange so bleiben würde. Hastig verkeilte er den Balken im Türrahmen und eilte die Treppe hinauf zum Saal. Oben angekommen, stürmte er durch die Tür und hätte fast SheriffWard umgerannt. Der fuhr erschrocken herum und fuhr ihn ärgerlich an: »Was willst du denn schon wieder hier? Ist die Verstärkung eingetroffen?«

»Wenn das Verstärkung ist, dann jedenfalls nicht für uns«, antwortete Roberts aufgeregt.

Schnell unterrichtete er den Sheriff über die Situation unten vor der Fabrik.

Smithy erwachte aus einer kurzen Ohnmacht. Zu plötzlich war der Angriff erfolgt. Er hatte keine Chance, rechtzeitig zu reagieren, und so hatte der schwarze SUV ungebremst seinen Polizeiwagen gerammt. Zum Glück war sein Auto nicht frontal, sondern hinten getroffen worden. Trotzdem hatte die Wucht genügt, dass er kurz das Bewusstsein verlor.

Beim Erwachen hatte er Schmerzen, aber erinnerte sich sofort an den Aufprall. Wo ist der verdammte SUV nur hergekommen?, überlegte er. Er glaubte sich erinnern zu können, dass er mehrere Wagen gesehen hatte, die von Norden her auf der Landstraße in seine Richtung fuhren. Da die Fahrzeuge aber mit gleichbleibender Geschwindigkeit fuhren und nicht abbremsten, war er davon ausgegangen, dass die Autos das Grundstück passieren würden. Sofort hatte seine Aufmerksamkeit nachgelassen, und er hatte die schwarzen Wagen nicht mehr beachtet.

Brennender Schmerz beendete seine Überlegungen und brachte ihn in die Gegenwart zurück. Sein linkes Bein blutete heftig und war irgendwie verdreht. Er schaute nur kurz auf die Verletzung und glaubte in Schienbeinhöhe einen weißen Knochen aus seiner Uniformhose ragen zu sehen. Schnell schaute er weg. Er konnte kein Blut sehen, schon gar nicht sein eigenes.

Von draußen hörte er ein dumpfes Geräusch. Durch das gesplitterte Glas der Frontscheibe sah er ganz in schwarz gekleidete Bewaffnete, die sich an der Eingangstür des Fabrikgebäudes zu schaffen machten. Smithy ließ sich etwas tiefer in den Sitz sinken, um nicht gesehen zu werden. Dabei bewegte er auch sein Bein, und eine Schmerzwelle schoss durch seinen Leib. Er kommentierte das mit einem Ächzen und einem deftigen Fluch. Er dachte nach und versuchte seine Möglichkeiten abzuschätzen. Er musste Hilfe rufen, doch ein Blick auf das verbeulte Funkgerät genügte, um zu wissen, dass ihm diese Möglichkeit verwehrt war.

»Zum Teufel«, knurrte er und spähte wieder nach draußen. Die Bewaffneten waren noch nicht weitergekommen. Drei Männer stemmten sich gegen die Tür, während die übrigen die Umgebung sicherten. Einer der Angreifer schaute auch in Smithys Richtung, aber wohl eher im Allgemeinen als speziell zu dem zertrümmerten Polizeiwagen. Smithy verhielt sich ruhig, um nicht durch eine unbedachte Bewegung auf sich aufmerksam zu machen. Er wusste, dass er die angeforderten Hilfskräfte und die Beamten der Staatspolizei warnen musste.

Einige Minuten später ergab sich eine Gelegenheit, das zertrümmerte Fahrzeug zu verlassen. Die immer noch gegen die Tür anrennenden Angreifer mussten in Deckung gehen, da aus dem Inneren des Fabrikgebäudes Schüsse abgefeuert wurden. Die Männer warfen sich hinter den geparkten Fahrzeugen - denen des Sheriffsdepartements wie auch den eigenen SUVs

- in Deckung. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Gebäude, vor allem der Eingangstür. Vorsichtig lehnte sich Smithy gegen die Fahrertür und versuchte sie aufzudrücken. Dieses Vorhaben misslang, da die Tür durch den Aufprall des ersten SUVs zerbeult und verkeilt war. Mühsam drehte er sich auf dem Sitz herum. In seinem Bein tobte der Schmerz, und Schweiß lief ihm in die Augen. Heftig keuchend versuchte er, den brennenden Schmerz zu ignorieren, und schob sich zentimeterweise nach rechts auf die Beifahrerseite. Einige Male glaubte er ohnmächtig zu werden. Er bemerkte nicht, wie er sich vor Anstrengung die Lippen blutig biss. Schließlich saß er auf dem Beifahrersitz und zog am Türgriff. Bereitwillig schwang die Tür auf, und Smithy fiel hinaus. Er konnte den Sturz nur unvollständig abfangen und prallte mit der rechten Gesichtshälfte unsanft auf den grob geschotterten Boden. Nur mit größter Selbstdisziplin unterdrückte er einen Aufschrei. Vorn beim Fabrikgebäude wurde noch immer geschossen. Smithy konnte sich nicht darum kümmern und hoffte, unentdeckt zu bleiben. Er rollte ein Stück zur Seite und stieß mit dem gesunden Bein die Beifahrertür zu. Der Deputy hoffte, dass das Geräusch unbemerkt geblieben war, brachte aber nicht die Kraft auf, sich nach den Gegnern umzuschauen. Auf dem Bauch kroch er langsam um das schrottreife Polizeiauto herum und erreichte nach unendlich mühseligen Minuten das Werkstor. Nach einer Minute Pause, die er sich selbst zugestand, zog er sich an dem Torpfosten hoch und stand etwas unsicher auf seinem gesunden Bein. Er schaute die Straße entlang nach Süden. Von dort mussten die Hilfskräfte kommen.

Hinter ihm war es in der Zwischenzeit ruhig geworden. Kein Geschrei und keine Gewehr- oder Pistolenschüsse waren mehr zu hören. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Der Gegner war ins Haus eingedrungen, oder der Sheriff hatte sich ergeben, oder sonst was. Smithy wollte nicht darüber nachdenken. Sich am wackligen Zaun festhaltend, arbeitete er sich Schritt für Schritt nach Süden vor.

Im Fabrikgebäude wurde die Lage für Sheriff Ward und seine Deputys immer gefährlicher. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Angreifer ihre bisher gezeigte Zurückhaltung aufgeben und die versperrte Eingangstür mit Gewalt öffnen würden. Ihn wunderte es ohnehin, dass die Schwarzgekleideten die Tür nicht schon längst gesprengt oder mit den elektrischen Winden, die an den Fahrzeugen angebracht waren, aus den Angeln gerissen hatten. Er musste die Angreifer wenigstens so lange in Schach halten, bis Verstärkung eintraf. Gemeinsam mit seinen Männern schleppte er unter größter Vorsicht und möglichst leise schwere Eisenschränke auf den Treppenabsatz. Die Schränke sollten den Polizisten Schutz vor dem zu erwartenden Beschuss von draußen bieten. Nachdem der Sheriff und seine Leute in Position waren, ließ er das Feuer eröffnen. Er wollte seine Gegner von der Tür vertreiben und sich und seinen Leuten wichtige Zeit verschaffen. Schon bei den ersten Schüssen zogen sich die Angreifer von der Tür zurück und gingen in Deckung.

Der Gruppenführer des mobilen Eingreiftrupps der Odin Force sprach aufgeregt ins Mikrofon des Funkgeräts in einem der Wagen. Er verzichtete darauf, sein mobiles Funkgerät zu benutzen, da seine Leute jedes Wort hätten mit anhören können.

»Einsatzteam an Zentrale.«

Sofort war die kalte Stimme des Operators im Lautsprecher zu hören. Der Gruppenführer regelte die Lautstärke nach unten.

»Wo zur Hölle haben Sie die ganze Zeit gesteckt? Wir versuchen Sie schon seit einiger Zeit zu erreichen. Wie ist der Stand der Dinge?«

»Hier Einsatzteam. Wir haben Schwierigkeiten. Einige Polizisten haben Haus zwei besetzt und sich verschanzt. Wie sollen wir vorgehen?«

»Einen Moment.«

Fast zwei Minuten hörte der Leiter des Einsatzteams nur monotones Rauschen aus den Lautsprechern. Dann klang die Stimme des Operators erneut aus der Funkanlage.

»Haus zwei zerstören. Es dürfen keine Spuren zurückbleiben.«

»Schicken Sie uns Verstärkung?«

»Nein, auf keinen Fall. Sprengen Sie das Gebäude und verbrennen Sie dann alles. Ende.«

Damit wurde die Verbindung unterbrochen.

Der Offizier der Odin Force schaute noch eine Sekunde auf das Funkgerät und rief dann seine Männer im Schutz der Fahrzeuge zusammen.

Smithy war fast hundert Meter an der Straße entlanggehumpelt, ehe er sich völlig erschöpft an einen Baum lehnte. Er spürte das verwundete Bein nicht mehr, was er als schlechtes Zeichen wertete. Er verspürte eine taube Müdigkeit, und sein Körper forderte eine Pause. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Er atmete schwer, und der Schweiß rann ihm brennend in die Augen. Gerade als er sich weiterschleppen wollte, hörte er mehrere Fahrzeuge, die sich näherten. Sich am Baum festhaltend, hob er die Hand und winkte, in der Hoffnung, gesehen zu werden.

Der Fahrer des ersten Wagens der Staatspolizei sah Smithy und handelte sofort. Er brachte sein Fahrzeug direkt neben dem verwundeten Polizisten quer auf der Fahrbahn zum Stehen und blockierte damit die nachfolgenden Einsatzkräfte. Mit dieser spontanen Aktion rettete er viele Leben. Krankenwagen und Polizeifahrzeuge hielten versetzt hinter ihm. Der Fahrer, ein Sergeant der Staatspolizei, sprang aus dem Wagen und rannte auf Smithy zu, der immer noch am Baum stand. »Was ist mit ihnen geschehen?«

Smithy brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln, und der Sergeant wollte seine Frage schon wiederholen, als er antwortete: »Was mit mir ist«, kam es krächzend aus seinem Mund, »das ist nicht wichtig. Da drinnen sind Bewaffnete. Ich glaube, das sind Soldaten. Sie versuchen, in die Fabrik einzudringen. Sind schwer bewaffnet. Der Sheriff hält noch die Stellung, glaub ich. Schnell, Sie müssen sich beeilen und sehr vorsichtig sein. Die Burschen sehen sehr gefährlich aus.«

Smithy wollte noch weiterreden, aber plötzliche Schwäche ließ ihn taumeln. Herbeigeeilte Sanitäter griffen dem verletzten

Polizisten unter die Arme und legten ihn vorsichtig auf eine mitgebrachte Trage.

Die Männer der Staatspolizei sammelten sich und besprachen schnell das weitere Vorgehen. Dann rannten sie geduckt zum Fabrikgelände und verteilten sich.

Die Männer der Odin Force hatten sich zwischen den Wagen auf den Boden gesetzt und bereiteten ihre Sprengladungen vor. Jeweils zwei Mann sollten über das Dach des angrenzenden Gebäudes in die alte Fabrik vordringen, um dort ihre Sprengpakete zu platzieren. Nur der Gruppenführer des mobilen Eingreiftrupps sicherte mit dem Schnellfeuergewehr die Umgebung. Gerade als ein Staatspolizist über den halb verfallenen Zaun des Fabrikgeländes stieg, sah der Gruppenführer in seine Richtung. Leise zischte er: »Achtung! Wir haben Besuch!«

Sofort unterbrachen die Odin-Männer ihre Arbeit an den Sprengpaketen und griffen nach den Waffen.

***

New York (früher Nachmittag)

Hanky hatte mit Pauls Hilfe das Funkgespräch zwischen dem Odin-Force-Lager und dem mobilen Eingreiftrupp mitgehört. Was um Himmels willen ging da vor? Immer noch hallte der furchtbare Befehl in ihm nach, den er und Paul mitgehört hatten: »Sprengen Sie das Gebäude und verbrennen Sie dann alles.«

Um was für ein Gebäude handelte es sich da, und warum sollte es zerstört werden? Hanky dachte fieberhaft nach und sagte dann zu Paul: »Bitte bleib beim Kommandanten. Ich muss mich kurz ausklinken und bin gleich zurück.«

Noch ehe Paul etwas erwidern konnte, war Hanky fort. Er schlug die Augen auf, schwang sich aus dem Bett und rannte zu Walt ins Büro. Auf seinem Weg durchs Wohnzimmer sah er Richard und seine Frau Rita auf dem Sofa sitzen, die irgendwelche Akten studierten. Ohne innezuhalten, rief er den beiden zu: »Kommt mit ins Büro, schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sofort sprangen sie auf, ließen die Papiere achtlos fallen und folgten ihm ins Büro.

»Mal herhören, Leute. Wir brauchen eine Information über einen eventuellen Polizeieinsatz in der Gegend des Odin-Lagers. Wir wissen noch nicht genau, wo das Lager ist. Jedenfalls wollen diese Leute ein Haus sprengen, genauer gesagt das Haus Nummer zwei. Das bedeutet, dass es noch mehr Häuser geben muss. Aber das braucht uns im Moment erst in zweiter Linie zu beschäftigen. Es wurde auf jeden Fall davon gesprochen, dass sich Polizisten im Haus verschanzt haben. Also muss auf jeden Fall eine Kommunikation der Behörden in dieser Gegend stattfinden. Wartet kurz, ich frage Paul, wo sich das Lager dieser Odin-Leute ungefähr befindet.« Hanky schloss die Augen und sagte laut: »Paul, eine Frage, bist du da?«

Die anderen konnten die Konversation nur einseitig mitverfolgen, dennoch schrieb Rita alles mit, was Hanky sagte. Im Augenblick lauschte er offenbar Paul, den nun war er still und hielt die Augen geschlossen. Unvermittelt begann er, nach einer endlos scheinenden Minute des Schweigens, zu sprechen: »Okay, Paul. Habe verstanden. Halte unseren Kontakt, ich wiederhole für die anderen.

Findet Sand Lake, im nördlichen New York State. Die Stadt -oder wahrscheinlicher ist es eine kleinere Ansiedlung - liegt am New York Highway 60. Zwischen Sand Lake und Barber- ville muss sich das Lager der Odin Force befinden. Im Umkreis von etwa fünfzig Meilen muss das Haus zwei zu finden sein. Richtig, Paul? Okay, ich klinke mich aus, bin aber gleich wieder bei dir.«

Damit öffnete Hanky die Augen. »Habt ihr alles? Okay. Paul und ich werden noch etwa eine Stunde lang versuchen, Genaueres zu erfahren. Walt, mach den Wagen bereit für un- sere Abfahrt. Wir beide fahren nach Sand Lake. Ich weiß zwar noch nicht genau, wie wir vorgehen werden, bin aber der Ansicht, dass ich besser in der Nähe der Geschehnisse sein sollte. Richard und Rita, ich bitte euch, hier solange die Stellung zu halten. Richard, versuch herauszufinden, wo es einen größeren Einsatz der Polizei gegeben hat, oder besser, wo ein solcher Einsatz im Augenblick stattfindet. Ich bin sicher, dass du mit deinen journalistischen Kontakten einiges rausfinden kannst. Alles Weitere besprechen wir später. Ah, und noch etwas. Ruft mich, wenn die Stunde um ist.«

»Geht schon klar, Hanky«, antwortete Richard. »Wir werden dir alle Informationen beschaffen.«

Rita nickte bekräftigend und wollte noch etwas hinzufügen, aber Hanky hatte sich schon umgedreht und eilte zurück in sein Schlafzimmer.

»Na, der hat aber ein Tempo drauf«, ließ Rita vernehmen. Dann klatschte sie in die Hände und sagte streng: »Dann wollen wir mal anfangen, meine Herren. In einer Stunde müssten wir doch einiges herausfinden können.«

»Da kommt ganz die Lehrerin zum Vorschein«, murmelte Rich vor sich hin und ging hinüber ins Wohnzimmer, um zu telefonieren.

***

Philadelphia (morgens, gleicher Tag)

Roger Thorn konnte es kaum glauben. Sein Undercover-Einsatz war unbemerkt geblieben. Weder das FBI noch die Odin Force schienen nach ihm zu suchen. In dem schäbigen Büro, das eigentlich die Schaltzentrale des als zwielichtig Henry Rolin war, hatte Roger im Internet nachgeforscht und mit einem nicht registrierten Handy die üblichen Stellen kontaktiert. Nichts, absolut nichts. Es gab nur eine mögliche Erklärung: Der Lagerkommandant der Odin Force, Rudgar Kruger, hatte

Rogers Flucht nicht an seine Vorgesetzten gemeldet. Über seine Motivation konnte Roger nur spekulieren. Es gab zwei denkbare Szenarien. Entweder war etwas Außergewöhnliches geschehen, das die Aufmerksamkeit Krugers völlig beanspruchte, und er wollte sich später, zu einem günstigeren Zeitpunkt, um Roger kümmern, oder der Kommandant wollte einfach vertuschen, dass es einen weiteren Spitzel in seiner Truppe gab. Wie auch immer, Roger Thorn stand auf keiner Suchliste. Damit wusste auch niemand beim FBI von seinen Ermittlungen. Theoretisch konnte er zu seinem normalen Leben zurückkehren. Wie verlockend das klang! Frau und Kinder, Familie, kleines Haus, Bürojob und das Wochenende im Garten mit Freunden verbringen. Gab es so etwas in Wirklichkeit? Bestimmt, nur nicht in seiner Wirklichkeit, in der ein normales Leben wie eine kitschige Utopie wirkte. In seiner Wirklichkeit waren er und viele seiner Kollegen mit der dunkelsten Seite der menschlichen Seele konfrontiert. Das Wissen, was für ein schreckliches Raubtier der Mensch sein konnte, welche unvorstellbaren Grausamkeiten jeden Tag verübt wurden, hatte Roger veranlasst, eine unbewusste Schutzhaltung einzunehmen, die ihm keine engeren Bindungen erlaubte. Dieses fundamentale Misstrauen jedem Menschen gegenüber hatte in den letzten Jahren nur eine Person durchbrechen können. Vielmehr: Sie hatte es einfach weggewischt. Die eher zufällige Begegnung mit Hank Berson hatte in gewisser Weise sein Leben verändert und den Glauben an das Gute im Menschen in ihm wiedererweckt. Dieser junge Mann hatte Rogers distanzierte Haltung einfach ignoriert und ihn durch seine vorurteilsfreie Neugier für sich eingenommen. So hatte Roger Thorn es zugelassen, dass sich eine gewisse Art von Freundschaft zu Hanky aufbaute, die in erster Linie auf gegenseitigem Vertrauen basierte.

Roger merkte, dass seine Gedanken abschweiften, und rief sich selbst zur Ordnung. Zunächst musste er sich darüber klar werden, wie er nun vorgehen wollte. Er definierte für sich das

Ziel, die Gruppe Phönix zu zerschlagen. Wie? Das wusste er noch nicht im Detail. Er nahm sich einen Block zur Hand und notierte die Punkte, die zu erledigen waren:

Er wollte sich mit Hanky treffen und dessen Ideen und Meinung dazu hören. Er musste sich bei seiner Dienststelle melden und seinem Vorgesetzten Erfolge seiner Undercoverarbeit präsentieren und gleichzeitig darauf dringen, weiter im Verborgenen zu arbeiten. Dazu musste er sich noch einmal mit Henry Rolin unterhalten. Er war sicher, dass Rolin den einen oder anderen Konkurrenten aus dem Weg haben wollte.

Wenn alles erledigt war, konnte er nach Sand Lake aufbrechen. Vor Ort würde er dann, der Situation entsprechend, seine nächsten Schritte planen.

Wie auf ein geheimes Stichwort flog mit erheblichem Schwung die Tür auf, und Henry Rolin stampfte herein. Sofort schnauzte er Roger mit der ihm eigenen Unfreundlichkeit an: »Du bist ja immer noch hier. Wie lange glaubst du wohl, meine Großzügigkeit ausnutzen zu können? Es wird Zeit, dass du verschwindest. Die Leute fangen schon an zu reden.«

Roger Thorn grinste nur und machte es sich noch bequemer hinter dem Schreibtisch seines Gastgebers. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und er deutete auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, was Henry Rolin zu einem deftigen Fluch veranlasste.

»Gut, dass du da bist, Henry. Wir müssen ein paar Sachen besprechen, ehe ich meine Sachen packe. Also pass auf ...«

So vergingen fast zwei Stunden angeregter Unterhaltung wie im Flug, und Henry Rolin hatte bald die Rolle des mürrischen Gangsters aufgegeben. Roger sprach in Andeutungen, berichtete oberflächlich über die Gefahr, die von der Gruppe Phönix und der Odin Force ausging, ohne Namen zu nennen, und vergaß nicht zu erwähnen, dass die Konspiration bis in hohe Regierungskreise führen könne. Henry wurde abwechselnd blass oder zornesrot. Noch nie hatte er den Behörden getraut. Zum

Gesetzlosen war er eher durch widrige Umstände geworden, tief in seinem Herzen aber hatte er sich seine Menschlichkeit bewahrt. Am Ende der Unterhaltung saß er für einen Moment still da. Dann straffte er sich und fragte einfach: »Wie kann ich helfen?«

Roger ergriff dankbar seine Hand. »Du bist also doch nicht der harte Hund, als der du dich immer ausgibst. Darüber bin ich sehr froh. Du musst mir ein paar Sachen besorgen und in der folgenden Zeit, sagen wir, solange ich unterwegs bin, alle Gerüchte in der Stadt aufmerksam verfolgen. Wenn du etwas Wichtiges erfährst, ruf mich an. Du hast ja meine Handynum- mer. Also, lass uns loslegen. Ich will losfahren, so schnell es geht. Ich habe so ein Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft.«

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