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Kapitel 1

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Der Brief

Er rannte um sein Leben. Äste peitschten ihm ins Gesicht. Seine Lungen pumpten den hastig eingeatmeten Sauerstoff in seinen Blutkreislauf. Das Gelände war abschüssig und durch altes, nasses Laub glatt wie eine Rutschbahn. Dennoch schaffte es der Flüchtende, das Gleichgewicht zu halten. Der Wald lichtete sich etwas, und ein Wildpfad erleichterte ihm das Vorankommen. Immer wieder tastete er nach dem Briefumschlag, den er in der Innentasche seiner Jacke verstaut hatte. Der Brief musste in Sicherheit gebracht werden, er war wichtig, sein Inhalt ungeheuerlich. Er konnte keiner Regierungsstelle vertrauen, denn er wusste nicht, wer alles dazugehörte. Aber er wusste, an wen er den Brief schicken musste.

Er war FBI-Agent, und seine Entdeckungen hatten all sein Vertrauen in die Regierung zerstört. Bei seinen verdeckten Ermittlungen war er eher zufällig auf diese Geschichte gestoßen. Das alles war so unfassbar, dass er anfangs nicht hatte glauben können, was er gesehen, erlebt hatte. Erst einige Zeit später hatte er heimlich alles notiert und sicher verwahrt. Zum Schein hatte er mitgespielt, bis zu dem Punkt, an dem er es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Da war die Zeit gekommen, sich aus dem Staub zu machen. Doch seine Flucht war schnell bemerkt worden, und nun waren sie hinter ihm her. Er machte sich keine Illusionen über seine Chancen, den Tag zu überleben.

Er rannte weiter, schaute sich ab und zu gehetzt nach seinen Verfolgern um und hörte schon die Geräusche der nahen Staatsstraße, dem New York Highway 66. Dorthin musste er es unbedingt schaffen.

Kurz darauf erreichte er den Rand des Waldes. Hinter einem Baum versteckt, versuchte er erst einmal zu Atem zu kommen. Angespannt beobachtete er die etwa fünfzehn Meter entferntliegende Straße und hielt nach Anzeichen Ausschau, dass dieser Straßenabschnitt von seinen Verfolgern überwacht wurde.

Doch alles schien ruhig, und der Verkehr floss träge dahin. Da sah er einen alten, verbeulten VW-Bus, dessen schrille Bemalung - an vielen Stellen bereits brüchig - von alten und doch so aufregenden Hippietagen zu erzählen schien. Das war seine Chance, den Brief doch noch auf den Weg zu bringen. Zumindest musste er es versuchen. Entschlossen mobilisierte er seine letzten Kraftreserven und rannte den kleinen Abhang hinunter zur Straße. Unter dem wütenden Hupen einiger erschrockener Autofahrer, die er zu hektischen Notbremsungen zwang, hetzte er über die Straße, um auf der Gegenfahrbahn den alten Bus anzuhalten.

Wie ein gestaltgewordenes Klischee saßen auf dem Fahrerund Beifahrersitz zwei grauhaarige Hippies mit bunten Stirnbändern, die nur noch karge Reste der einstigen Haarpracht bändigen mussten. Zum Glück waren die Seitenfenster offen, ein Hauch von Marihuanaduft drang aus dem Inneren. Der Mann achtete nicht auf die Beschimpfungen der beiden, sondern kramte eine zerknitterte Fünfzigdollarnote und seinen Brief hervor. Beides steckte er durch das Beifahrerfenster und drückte es der Beifahrerin in die Hände - jetzt erst erkannte er, dass es sich bei den beiden um ein Pärchen handelte.

Geistesgegenwärtig sprach er die Frau an, die ihn misstrauisch beäugte: »Bitte, Mam, helfen Sie mir und geben Sie den Brief in der nächsten Stadt für mich auf. Hier sind fünfzig Bucks. Den Rest können Sie behalten. Es ist wirklich wichtig. Bitte tun Sie mir den Gefallen.«

»Hast du gehört, George? Mam hat er zu mir gesagt. Das habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Sie lächelte breit zu dem Fahrer hinüber und entblößte eine Reihe gelber Zahnstummel. Der Mann zuckte nur mit den Schultern, als ob es ihm völlig egal wäre, ob jemand zu seiner Partnerin “Mam” sagte.

»Also gut, junger Mann, da Sie so ...«

Verwundert blickte sie sich um, doch der Mann war spurlos verschwunden. Sie drehte sich zurück zu George und sagte auf die bestimmende Weise, die er nur zu gut kannte: »Der Typ war zwar ziemlich merkwürdig, aber wir werden ihm den Gefallen tun und den Brief im nächsten Postamt aufgeben. Schließlich war er ja sehr höflich und hat mich immerhin mit Mam angesprochen.«

George zuckte erneut mit den Schultern, legte den Gang ein und fädelte sich gemächlich in den fließenden Verkehr ein.

Keine hundert Meter von der Stelle entfernt, an der der VW- Bus gehalten hatte, lag ein Mann in Tarnkleidung hinter einem Busch verborgen und schaute durch ein Fernglas. Ein dünnes, schwarzes Mikrofon führte von seinem rechten Ohr bis kurz vor seine Lippen. Leise sprach er zu einem unsichtbaren Partner: »Objekt hat die Straße überquert und kurz mit den Insassen eines bunten VW-Busses gesprochen. Danach ist er im Wald verschwunden.«

»Was für ein VW-Bus?«, antwortete ihm eine Stimme. »Hat er den Insassen etwas gegeben?«

»Bedauere, Sir,« antwortete der Mann im Tarnanzug, »das konnte ich leider nicht erkennen. Das Objekt stand hinter dem Bus, und alles ist sehr schnell gegangen. Hat keine Minute gedauert. Wie soll ich jetzt vorgehen?«

»Wo ist das Objekt jetzt?«, wollte die Stimme wissen.

»Auf der anderen Seite der Straße im Wald verschwunden, Sir.«

Einen Moment war nur das Rauschen in dem kleinen Lautsprecher des Headsets zu hören, dann erklang wieder die befehlsgewohnte Stimme. »Verfolgung des Objekts fortführen und Objekt wie besprochen eliminieren. Ende.«

Damit brach der Funkkontakt ab.

***

New York City

Etwa zur gleichen Zeit saß ein anderer Mann unter einem Baum. Allerdings machte dieser einen entspannten Eindruck, wie er da so lässig am Stamm lehnte und in der New York Times blätterte. Doch er las die Zeitung nicht. Vielmehr schaute er über den Rand hinweg und betrachtete die anderen Parkbesucher. Das Treiben fand er immer noch spannend, obwohl er nun schon fast ein Jahr hier lebte. So viele Leute, dachte er oft, und jeder scheint irgendwohin zu wollen. Selbst die Parkbesucher hasteten dahin, in bunte Trainingsanzüge gekleidet. Jogging nannte man das, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass so ein Rumgerenne Spaß machen sollte. Na, ihm konnte es ja egal sein. Er genoss es, einfach nur hier zu sitzen und nichts zu tun. Die vergangenen Monate waren anstrengend genug gewesen, und er hatte dem FBI in einigen Fällen helfen können. Man hatte ihn gut entlohnt, sodass er sich unweit vom Central Park eine Wohnung gemietet hatte. Als freier Mitarbeiter konnte er sich so viel Freizeit nehmen, wie er nur wollte - oder wie er es sich leisten konnte. Er brauchte diese Zeit für sich, um all die Wunder dieser Welt zu bestaunen. Und wenn es fürs Erste nur die Wunder einer einzigen Stadt waren. Er hatte noch so viel zu lernen. Er musste noch so viel nachholen. Das war auch der eigentliche Grund, weshalb er hierhergezogen war.

Eine Stimme ließ ihn aus seinen Betrachtungen aufschrecken. »Also hier treibst du dich herum,« sagte ein Mann, halb über ihn gebeugt. »Da kann ich ja lange nach dir suchen. Und dein Handy hast du natürlich zu Hause auf dem Schreibtisch liegen lassen.«

Der unter dem Baum sitzende blonde Mann lächelte gutmütig und erwiderte, gespielt empört: »Du bist nicht meine Mutter, Walt.«

»Hast du etwa vergessen«, erwiderte Walt, »dass wir uns in einer knappen Stunde mit Rich zum Abendessen treffen wollen? Du bist noch nicht mal umgezogen. Also erheb dich. Los, komm schon.«

»Okay, ich komm ja schon. Immer musst du hetzen. Hast dich wirklich wunderbar an die hiesigen Verhältnisse angepasst. Bist schon ein richtiger New Yorker.«

»Jawohl, das kann man wohl sagen«, antwortete Walt verschmitzt. »Und du, Hanky, bist noch ein richtiger Hinterwäldler.«

Lachend gingen die beiden Männer durch den Park Richtung Fifth Avenue.

Richard Miller hatte den wohl aufregendsten Tag seines Lebens hinter sich. Zumindest in beruflicher Hinsicht - nachdem er vor einiger Zeit mit Hanky, Walt und dem alten Ray Berson den Tausendschläfer gejagt hatte, war er von Aufregungen nicht mehr leicht zu beeindrucken. Dieses Erlebnis hatte ihn dazu veranlasst, ein Buch zu schreiben, das von der örtlichen Bevölkerung erstaunlicherweise mit viel Interesse zur Kenntnis genommen wurde, was sich sehr positiv auf die Auflagenzahl auswirkte. Doch nicht nur seine neue Leserschaft war auf ihn aufmerksam geworden, sondern auch das FBI und die New York Times. Das FBI hatte ihn und die anderen intensiv, wenn auch freundlich verhört. Hanky musste als Einziger länger in Langly, Virginia bleiben. Die dortigen Agenten und Ärzte führten unzählige Tests mit ihm durch und waren sehr erstaunt über die außerordentlichen Ergebnisse. Noch nie hatte eine Testperson so hohe Psi-Werte erzielt. Am liebsten hätten sie Hanky gar nicht mehr gehen lassen, da er ein so interessanter Fall war. Doch Hanky stellte klar, dass er nach Abschluss der

Tests seinen eigenen Weg zu gehen beabsichtigte. Dem stellvertretenden Direktor Davis Miles gelang es schließlich, ihn als freien Mitarbeiter zu gewinnen. So zog Hanky von dannen und nach New York, wo er zusammen mit Walt Kessler ein privates Ermittlungsbüro eröffnete.

Richard war nach Fargo zurückgekehrt und hatte vor zehn Tagen einen Brief von der New York Times bekommen. Voller Erstaunen öffnete er den Umschlag, fand ein Flugticket und eine Einladung zu einen Gespräch mit dem Chefredakteur der Times.

So war er gestern angekommen, hatte im Marriott sein reserviertes Zimmer bezogen und sich für den nächsten Abend mit Walt und Hanky verabredet. In der folgenden Nacht bekam er fast kein Auge zu, so aufgeregt war er. Am nächsten Morgen stand er wie gerädert auf, schleppte sich müde ins Bad, duschte und kleidete sich an. Danach ließ er sich vor dem Hotel ein Taxi rufen und fuhr direkt zur 620 Eight Avenue, dem Hauptsitz der New York Times. Natürlich war er fast eine Stunde zu früh dran, und so setzte er sich in ein kleines Cafe gegenüber und frühstückte, allerdings mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, da er nicht abzuschätzen wusste, was der Tag bringen würde. Seine Frau Rita war nicht so recht begeistert gewesen, als sie die Einladung gesehen hatte. Mit einem gezwungenen Lächeln hatte sie Rich aber schließlich ziehen lassen.

Nach dem Frühstück begab sich Richard Miller zu seinem Gespräch. Zwei Stunden später verließ er mit einem strahlenden Lächeln und einem neuen Job die Redaktion.

Morgen würde er ein noch viel schwierigeres Gespräch vor sich haben. Er musste seine Frau davon überzeugen, nach New York City umzuziehen, zumindest in eine der Vorstädte. Aber heute wollte er erst einmal seine Freunde treffen, um mit ihnen seinen Erfolg zu feiern. Das Leben war eben doch aufregend.

Lebens Spender

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