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Kapitel 9

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Der Saal (früher Nachmittag)

Frank starrt auf den Bildschirm, der über seinem Krankenbett hing. Noch nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, zu welchem Zweck diese Bildschirme über den Spendern hingen. Die Verantwortlichen, seine Vorgesetzten, hatten sich bestimmt etwas dabei gedacht. Und warum sich über Dinge den Kopf zerbrechen, von denen man ohnehin nichts verstand?

Für ihn bestand das Universum nur noch aus rotem Wallen. Unablässig bildeten sich Formen, Gestalten, Gesichter, Fratzen, die immer wieder zerflossen und sich neu bildeten. Sein Gehirn schien sich zu verkrampfen, und er merkte nicht, dass er lauthals schrie. Sein Körper war wie in einem einzigen schmerzhaften Krampfzustand. Sein Herz pochte wild. Eine rote Hölle hatte sich seiner bemächtigt, aus der es scheinbar kein Entrinnen gab.

Am Anfang hatte er eher zufällig auf den Bildschirm geschaut und fand es recht interessant, das Farbenspiel zu beobachten. Das passte auch gut zu der Rolle, die er den Polizisten vorzuspielen versuchte. Ohne Vorwarnung war er dann zum Gefangenen des Bildschirms geworden. Rot, rot, rot .

Plötzlich bäumte sich sein verkrampfter Körper auf, ohne sein willentliches Zutun. Muskelstränge, Arme und Beine zuckten unkoordiniert. Durch die heftigen Bewegungen rückte sein Körper immer näher an die Bettkante, während sein Blick weiterhin starr auf den Bildschirm gerichtet war. Endlich, der

Schwerkraft folgend, stürzte er auf den Betonboden. Damit war er dem Bann des roten Wahnsinns entkommen. Frank schloss seine schmerzenden Augen und begann haltlos zu weinen.

Sheriff Ward und seine Männer hatten die Metallschränke zur Eingangstür getragen und dahinter Stellung bezogen. Durch die kleinen Öffnungen der nun glaslosen Fenster schauten die Männer gespannt nach draußen. Die Angreifer verschanzten sich zwischen den parkenden Wagen und reagierten nicht auf die Aufforderung der Staatspolizei, sich zu ergeben. Zweimal hatten Mitglieder der Schwarzgekleideten versucht, über den Hof zu einem der Fabrikgebäude zu gelangen. Wild um sich feuernd, versuchten sie die Polizei in Deckung zu zwingen. Die Männer der Staatspolizei reagierten kaltblütig und schossen gezielt auf die Odin-Force-Söldner. Vier Männer lagen inzwischen blutend und ungedeckt auf dem Boden des Fabrikhofs. Nur ein gelegentliches leises Stöhnen kündete davon, dass die Söldner noch am Leben waren.

Ein tiefes Brummen lenkte die Aufmerksamkeit des Sheriffs zur Straße. Dort tauchte ein Panzerwagen der Staatspolizei auf und rollte langsam und bedrohlich auf die im Hof geparkten Wagen zu. Sofort erhoben sich die Odin-Soldaten und feuerten in alle Richtungen wild um sich. Unbeeindruckt setzte das schwere Gefährt seine Fahrt fort. Ohne auch nur seine Geschwindigkeit zu verringern, schob der Panzer die Fahrzeuge zusammen.

Noch ehe die Odin-Soldaten sich eine andere Deckung suchen konnten, traf der Gruppenführer des mobilen Eingreiftrupps eine Entscheidung. Die Organisation musste geschützt werden. Niemand durfte erfahren, wer sie waren. Keiner seiner Soldaten durfte in Gefangenschaft geraten. Er raffte alle erreichbaren Sprengpakete zusammen, ohne sich darum zu kümmern, dass seine Männer immer noch versuchten, die Polizei mit heftigem Gewehrfeuer auf Distanz zu halten. Mit geübten Handgriffen machte er die Ladungen scharf, schaute sich noch einmal mit starrem Blick um und aktivierte mit einer kleinen Fernbedienung alle Zünder zugleich.

Im buchstäblich selben Moment rammte der Polizeipanzer einen der schwarzen Wagen der Odin Force. Das schwere Fahrzeug kippte um und fiel auf den Gruppenführer und die Spreng- pakete, was eine enorme Explosion nach sich zog. Sonnenheiße, orangerote Flammenzungen schossen unter den Fahrzeugen hervor, die von der enormen Wucht der Detonation in die Luft geschleudert wurden, und verbrannten alles im Umkreis von dreißig Metern. Durch das im Explosionsherd entstandene Vakuum zuckten die Flammenzungen zurück, und eine Feuerkugel im Zentrum der Sprengung schleuderte die Autos wie Spielzeuge in alle Richtungen. Ein Orkan unterschiedlicher Geräusche erfüllte die Luft, es hörte sich an wie die Eruption eines Vulkans. Scharfkantige Blechteile, Glas, Steine, Dreck und Körperteile regneten auf den Fabrikhof. Die in Deckung liegenden Polizisten waren durch die Wucht der Explosion zum Teil mehrere Meter durch die Luft gewirbelt worden und richteten sich nach einigen Minuten benommen auf.

Das Fabrikgelände hatte sein Aussehen dramatisch verändert. In einem weiten Kreis rings um den Explosionsherd lagen zerstörte Fahrzeuge, und Flammen züngelten aus den Trümmern. Der Polizeipanzer lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, seine Räder drehten sich noch langsam, als versuchten sie, festen Grund zu finden. Mehrere um das Hauptgebäude gruppierte Schuppen waren einfach in sich zusammengestürzt. Das Hauptgebäude selbst zeigte starke Beschädigungen. Alle Fenster waren nach innen eingedrückt, die Fensterscheiben geborsten. Große Risse zogen sich durch das Mauerwerk, und ein beängstigendes Knirschen und Knacken zeugte davon, wie schwer das Bauwerk getroffen war. Von der Eingangstür fehlte jede Spur, und dahinter rührte sich nichts.

Sheriff Ward und seine Deputys wurden kurz darauf unverletzt unter den Stahlschränken hervorgezogen, die den

Polizisten das Leben gerettet hatten. Die Wucht der Detonation hatte die Schränke mitsamt den dahinter kauernden Officern ins Treppenhaus geschoben. Das Treppengeländer hatte die kippenden Schränke abgefangen und so einen Hohlraum für die Polizisten geschaffen. Erstaunt betrachtete SheriffWard die von Splittern gespickte Vorderseite der Stahlschränke. Überall steckten scharfkantige Fragmente im Metall. Ihm wurde ganz flau im Magen, als er begriff, welches Glück er und seine De- putys gehabt hatten.

Ein herbeieilender Sanitäter wollte ihn am Arm packen und zu einem Krankenwagen führen. Doch der Sheriff schüttelte den Mann einfach ab und deutete mit dem Kinn auf die mit Trümmern übersäte Treppe: »Da oben wird Ihre Hilfe dringender gebraucht.«

***

Buffalo, NY State (früher Nachmittag)

Paul hatte die Observation des Odin-Force-Offiziers Rudgar Kruger beendet, nachdem dieser die Funkverbindung zu seinem Einsatztrupp einfach abgebrochen hatte. Offenbar wütend über den sich abzeichnenden Fehlschlag seiner Männer, hatte er die Funkzentrale verlassen und lief ziellos auf dem Lagergelände umher.

Müde schlurfte Paul in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er stöberte eine Weile lustlos in den Fächern und schloss dann resigniert die Tür. Er musste unbedingt einkaufen gehen. Seine Vorräte waren nahezu aufgebraucht. Ergeben zuckte er mit den Schultern, steckte seinen Geldbeutel ein und machte sich auf den ungeliebten Weg zum Supermarkt. Er hasste es, Lebensmittel einzukaufen. In den langen Gängen der Supermärkte fühlte er sich immer wie erschlagen vom vielfältigen Angebot. Wer brauchte schon zwanzig Sorten Toastbrot oder zehn Sorten Spaghetti? Man kaufte überhaupt immer mehr ein als nötig.

Mit trüben Gedanken setzte er sich in seinen Wagen und wollte gerade den Zündschlüssel umdrehen, als die Welt um ihn herum versank.

Paul war erschrocken und verwundert, wenngleich er in seinen Meditationen als indianischer Traumseher schon oft geistig auf eine Traumebene gewechselt war. Doch immer basierte der Vorgang auf einer speziellen Meditationstechnik in seiner Schwitzhütte.

Seine rationalen Überlegungen verloren sich im Nebel des Transfers zur Traumebene. Eine ihm wohlbekannte Landschaft materialisierte sich ringsum, und doch war alles anders als gewohnt. Da war die weite Ebene mit ihren gewaltigen Tafelbergen, durchzogen von einem glitzernden Fluss. Unterhalb des Hügels, auf dem Paul stand, befand sich das Indianerlager, umgeben von einigen Birken. Die Szenerie, die sich Paul bisher wie ein Standbild präsentiert hatte, als eine Momentaufnahme vergangener Zeiten, war diesmal in unheimlicher Bewegung. Der Fluss schien zu schäumen, das spärliche Gras der wüstenartigen Landschaft zeigte ein fahles Grau. Doch das Himmelsgewölbe bot das erstaunlichste Bild: Blutrote Wolken zogen mit beachtlicher Geschwindigkeit über einen tiefblauen Himmel. Paul glaubte Gesichter und Gestalten zu erkennen. Vor Grauen aufgerissene Münder, starre Augen, vor Schmerz gekrümmte Geschöpfe, ganze Gruppen gepeinigter Menschen. Erschüttert senkte Paul den Blick und schaute erneut zum Indianerlager hinunter. Dort unten stand der Schamane, der Paul in der Vergangenheit schon oft rätselhafte Hinweise gegeben hatte. Der Medizinmann winkte, und Pauls Traumkörper schwebte auf ihn zu. Schon von Weitem erkannte er, dass der Geistschamane dieses Mal real zu sein schien und nicht zweidimensional wie bei vorangegangenen Visionen.

Unvermittelt begann der Medizinmann zu sprechen: »Ich habe dich gerufen, und du bist gekommen.«

Paul überlegte noch, was er dem Schamanen als angemessene Antwort geben konnte, als dieser weitersprach: »Seit Langem wird den Völkern großes Unrecht, Leid und Schmerz zugefügt. Nun ist die Zeit gekommen, den Bestien in Menschengestalt Einhalt zu gebieten.«

Paul hatte nicht die leiseste Idee, wovon der Schamane sprach. Ständig wurde auf der Welt gemordet, geplündert, vergewaltigt und geraubt. Zu jeder Sekunde geschah Unrecht in schlimmster Form, wurden Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, ob von kriminellen Banden oder Regierungen.

»Vor vielen Jahrzehnten«, fuhr der Schamane fort, »begann das Morden und Quälen. Ruchlose Männer verfolgten einen Plan und führen diesen noch immer aus. Sie sind nicht mehr weit davon entfernt, ihr Ziel zu erreichen. Wenn das geschieht, wird unendliches Leid über alle Völker kommen.«

»Wer wird was tun?«, unterbrach ihn Paul.

»Das kann und darf ich dir nicht sagen.«

»Wieso nicht?«

»Es ist mir verboten. Bitte frage nicht. Nun höre, ich habe nur begrenzte Zeit, obwohl Zeit für mich keine Bedeutung hat.«

Paul verstand überhaupt nichts.

»Du und der Jäger, ihr seid auf der richtigen Spur. Sende einen deiner Gefährten in die Stadt der zwei Flüsse. Dort wird er eine Spur der Bestien entdecken. Dort haben sie das >Verbotene< entdeckt. Dort haben sie viele Menschen geopfert.«

»Was für eine Stadt? Wie heißt sie, und in welchem Land liegt sie?«

»Das darf ich dir nicht sagen.«

»Dann zeig sie mir«, schrie Paul aufgebracht.

»Das kann ich tun«, sagte der Schamane fast gleichmütig und wies mit seiner linken Hand nach oben.

Paul legte den Kopf in den Nacken und schaute - ja, wohin schaute er denn? Es schien, als schwebe er über einer Landschaft. Er schaute nach oben und doch gleichzeitig nach unten. Sein Magen wusste nicht, was er davon halten sollte, und forderte vorsorglich mehr als genug Magensäure an, was Paul mit einem heftigen Übelkeitsempfinden quittierte. Die Stadt, auf die er aus sicher tausend Metern Höhe hinabschaute, lag tatsächlich am Zusammenfluss zweier mächtiger Ströme, umgeben von dichtem Urwald. Der Umstand, eine solch große Ansiedlung inmitten tropischen Urwalds zu sehen, erstaunte Paul. Er kniff die Augen zusammen und versuchte Einzelheiten zu erkennen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, seine Sicht verbesserte sich nicht. Verzweifelt überlegte er, um welche Stadt es sich handeln konnte.

Mit einem Mal wusste er es. Großstadt, Dschungel, zwei Flüsse. Das musste Manaus in Brasilien sein. Hier vereinigten sich der Rio Negro und der Amazonas. Erleichtert, die Antwort gefunden zu haben, richtete er sich aus seiner nach hinten geneigten Position auf und schaute auf das Armaturenbrett seines Autos.

***

Sand Lake, New York State (später Nachmittag)

Vor wenigen Minuten waren Hanky und Walt in Sand Lake eingetroffen. Hanky war sehr erstaunt, wie sehr diese Gegend seiner Heimat glich. In ihm stieg ein unangenehmes Gefühl der Hilflosigkeit anderen gegenüber auf, dass er oft in seiner Kindheit und als junger Erwachsener verspürt hatte. In New York City hatte er völlig vergessen, wie er früher manchmal von Leuten gedemütigt worden war, nur weil er damals langsam beim Denken gewesen war.

Er richtete sich im Beifahrersitz auf und verbannte diese Unsicherheit aus seinen Überlegungen. Er hatte sich verändert und konnte sich in der Welt behaupten. Die Spötter von damals lebten immer noch ihr kleines Leben, doch er, Hanky, war in eine neue Zukunft unterwegs, und darauf war er sehr stolz.

Seine trüben Gedanken wurden unterbrochen, als Walt abbog und vor einem kleinen Restaurant parkte. »Lass uns eine Pause einlegen. Ich habe ziemlichen Hunger.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg Walt aus und winkte ihm ungeduldig zu. Mit einem Seufzer schnallte Hanky sich ab, öffnete die Wagentür und stieg aus. Seine Gelenke knackten wie altes Holz, als er sich ausgiebig streckte. Er hatte den größten Teil der Fahrt geschlafen und war schon vor einer Viertelstunde in einer unbequemen Haltung erwacht, ohne dass Walt es registrierte, da er sich auf die Straße konzentriert hatte. Paul hatte ihn geweckt und ihm von seiner Vision erzählt. Mit weiterhin geschlossenen Augen unterhielt sich Hanky auf telepathischem Weg mit Paul. Nach dem Gespräch dachte er intensiv nach und gelangte zu der Überzeugung, dass er Richard nach Brasilien schicken wollte. Am liebsten wäre er selbst nach Manaus geflogen, doch er musste zuerst herausfinden, was hier geschehen war.

Hanky zog sein Handy aus der Tasche und rief seine Festnetznummer zu Hause an. Richards Ehefrau Rita nahm das Gespräch an. Aufgeregt erzählte sie Hanky, dass es einen Zwischenfall in der Nähe von Sand Lake gegeben hatte. Genaueres war allerdings noch nicht aus den Medien zu erfahren. Das war vermutlich genau der Polizeieinsatz, über den sie gesprochen hatten, und sie vermuteten, dass die Odin Force ihre Hände im Spiel hatte. Rita wollte an der Geschichte dranbleiben und Hanky informieren, sobald sie mehr wusste. Hanky stoppte ihren Redefluss und berichtete ihr seinerseits von seiner Unterhaltung mit Paul. Walt, der neben Hanky vor dem kleinen Restaurant stehen geblieben war, zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, als er hörte, was Paul in seiner Vision erlebt hatte, enthielt sich aber jeglichen Kommentars, um Hanky nicht bei seinem Telefonat zu stören. Schweren Herzens erklärte Hanky Rita, dass es wohl notwendig sei, dass Richard nach Brasilien flog, um dort der Spur zu folgen, die der Schamane gewiesen hatte. Rita versprach Hanky, mit Richard zu sprechen, wollte aber dessen Entscheidung nicht vorgreifen. Hanky spürte, dass Rita ganz und gar nicht begeistert war, dass ihr Mann nach

Manaus fliegen sollte. So unterließ er es, Rita zu drängen, und vertraute darauf, dass sie mit Richard zusammen die richtige Entscheidung traf.

Ehe Rita das Gespräch beendete, gab sie Hanky noch eine Handynummer. Jemand hatte in Hankys Wohnung angerufen, sich aber nicht namentlich vorgestellt. Es sei überhaupt ein sehr kurzes Telefonat gewesen, erzählte sie, und sie habe gerade genug Zeit gehabt, sich die Nummer aufzuschreiben. Hanky notierte sich die Zahlenfolge, verabschiedete sich rasch von Rita und wählte die mysteriöse Nummer. Walt verfolgte Hankys Telefonate kommentarlos, legte aber die Stirn in Falten, was seine Besorgnis über das unausweichlich Kommende eindrucksvoll demonstrierte.

Nach kurzem Klingeln meldete sich eine Männerstimme mit einem vorsichtigen »Hallo?«

Hanky wusste auf Anhieb, wer da am anderen Ende der Verbindung war.

»Hallo Roger, hier ist Hanky. Geht es dir gut?«

»Ah, Hanky, ja, danke. Woher hast du gewusst, dass ich es bin? Aber gut, dass du dich meldest. Wo bist du gerade?«

Hanky schaute Walt fragend an, doch der konnte ja nicht wissen, worum es ging. Also wiederholte Hanky Rogers Frage. Walt zeigte mit einem Finger auf das Restaurantschild, das über dem Eingang angebracht war. Lächelnd nickte Hanky und verdrehte die Augen. Da stand es groß und breit: Sand Lake Kitchen.

»In Sand Lake. Wir stehen dort vor einem kleinen ...«

Rasch unterbrach ihn Roger: »Ich bin so in einer Stunde bei euch. Dann können wir reden. Ich traue den Telefonen nicht. Wer weiß schon, wer da alles mithört? Melde mich, sobald ich da bin. Okay?«

»Geht klar. Bis gleich.« Damit beendete Hanky das Gespräch.

Roger erreichte Sand Lake mit mehr als einer Stunde Verspätung. Unterwegs hatte es auf der Landstraße einen Unfall gegeben, und es gab kein Durchkommen.

Hanky und Walt hatten gerade das Besteck aus den Händen gelegt und dachten über einen Nachtisch nach, als Roger durch die Tür trat. Er hatte sie gefunden, obwohl Hanky ihm nicht mitgeteilt hatte, wo sie warten würden. Allerdings bot Sand Lake auch nicht allzu viele Möglichkeiten, um sich zu treffen, wenn man fremd in der Gegend war.

Für einen Moment überwog die Wiedersehensfreude, ehe den dreien das Gewicht kommender Aufgaben die Mundwinkel wieder nach unten drückte. Sie setzten sich, und Roger bestellte einen Kaffee. Danach berichtete er von seiner Zeit bei der Odin Force, und Hanky erzählte ihm, was er und seine Freunde bisher herausgefunden hatten. Ein überraschender Punkt für Roger war der Hinweis von Paul. Der Schamane war für Roger ein neuer Mitspieler, und Hanky hatte es damals bei seiner Befragung durchs FBI auf Pauls Bitte hin verstanden, den indianischen Traumseher aus der Geschichte herauszuhalten. Während Roger noch über die neuen Möglichkeiten nachdachte, die sich durch Pauls Fähigkeiten im Zusammenspiel mit Hanky boten, und Walt seinen doch noch georderten Nachtisch verspeiste, wurde Hanky auf einen Mann an der Theke aufmerksam. Irgendetwas unterschied ihn von den übrigen Gästen im Lokal. Unauffällig musterte er den Fremden und streckte beinahe selbstverständlich seine mentalen Fühler nach ihm aus. Dabei schloss er die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Roger wollte ihn gerade etwas fragen, doch Walt, der Hanky schon oft beobachtet hatte, wenn er sozusagen geistig jemanden belauschte, hielt Roger mit einer Handbewegung auf und flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt nicht. Hanky hat etwas bemerkt. Leise jetzt.«

Roger nickte mit Unverständnis im Gesicht, folgte aber Walts Anweisung. Er schaute zu Hanky, doch der schien zu schlafen, sein Atem ging flach und regelmäßig. Leise fragte er Walt, was das zu bedeuten habe, und Walt erklärte es ihm flüsternd.

In diesem Moment ertönte die Titelmusik der Regionalnachrichten aus den Lautsprechern der zahlreichen, überall im Raum hängenden Fernsehgeräte. Gleich zu Beginn der Sendung meldete der Sprecher mit ernster Stimme einen schweren Zwischenfall mit vermutlich mehr als sechzehn Toten, darunter mindestens ein Beamter der Staatspolizei. Wie es zu diesem verheerenden Vorfall gekommen sei, konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesagt werden. Ein leitender Beamter der Staatspolizei hatte für den frühen Abend eine Pressekonferenz anberaumt. Walt und Roger folgten gebannt der Reportage und schienen Hanky dabei völlig vergessen zu haben.

Dieser lauschte auch und war fassungslos und angeekelt vom Gedankengut des Fremden.

»... soll ich schon wieder eine Extraschicht einlegen. Verdammt noch mal. Die ganze Organisation kotzt mich an. Da hätte ich auch gleich auf dem Schlachthof anfangen können. Ständig diese Entsorgung der Spender. Was für eine Sauerei, und wie die stinkenI Den Geruch habe ich dann wieder tagelang in den Klamotten. Die eingebildeten Idioten, die nur die Spender anliefern, haben es echt gut. Der verdammte Kommandant Kruger teilt immer nur mich für die Entsorgung ein. Ich hasse diese Scheiße. Diese verdammten Spender sterben aber auch wie die Fliegen, und ich kann dann mit meinen lieben Kameraden, diesen verdammten Schleimern, die immer sagen, jawohl, Herr Kommandant, wird erledigt, Herr Kommandant, den menschlichen Dreck beseitigen. Halt mal, was sagen die im Fernsehen? Was ist da passiert? Wo ist das? Mensch, das ist ja Haus zweiI Da hat es welche von uns erwischt. Was ist mit den Spendern? Warum sagen diese blöden Reporterfritzen nichts darüber? Wenn rauskommt, dass wir da unsere Hände im Spiel haben, gibt’s ein Gemetzel. Nein, ohne michI Das warsI Da mach ich nicht mit. Ein Glück, dass ich heute frei habe. Sollen doch die verdammten Spender verrecken und die ganze Odin Force und der saubere Kommandant gleich mit. Zu schade, dass ich nicht sehen kann, wie der Mistkerl ins Gras beißt. Man kann halt nicht alles haben. Was mach ich mit meinen Sachen? Ins Lager kann ich auf keinen Fall zurück. Ach, hol’s der Teufel. Ich muss sehen, dass ich meinen Arsch rette.

»He, Bedienung, zahlen!«

Hanky schlug die Augen auf und starrte den Fremden voll unglaublicher Wut an. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er die kalte Lust, einen Menschen umzubringen. In diesem Moment drehte sich der Fremde um. Es hatte den Anschein, als habe er Hankys Blick bemerkt.

»Was starrst du mich so an, du Arschloch?«, fauchte er ihn an. Walt und Roger wurden aufmerksam und schauten verwundert zwischen Hanky und dem Mann hin und her.

Hankys Gesicht verzerrte sich in unbeherrschter Wut. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sendete er einen starken mentalen Impuls zu dem Fremden. Dieser schrie in höchster Pein auf, griff sich an den Kopf und sackte dann ohnmächtig auf dem Barhocker zusammen, um gleich darauf schlaff auf den Fliesenboden zu fallen. Mit einem hässlichen Geräusch brach ein Knochen. Die anderen Gäste wurden aufmerksam und starrten den am Boden Liegenden an. Eine Serviererin kam um den Tresen herumgelaufen, schaute erschrocken auf den Odin-Mann, fuhr herum und lief zu dem an der Wand hängenden Telefon. Hanky, Walt und Roger hörten, wie sie ins Telefon rief: »Ja, ist da der Notdienst? Bei uns ist gerade ein Gast vom Barhocker gefallen. Ja, anscheinend ohnmächtig. Bitte schicken Sie einen Wagen. Okay, danke. Ich frage mal.« Damit hängte sie auf und fragte mit erhobener Stimme: »Ist hier zufällig ein Arzt oder Krankenpfleger?«

Als sich niemand meldete, rief sie in die Küche: »Tom, komm mal her. Hier ist mal wieder einer vom Hocker gefallen. Bring den Erste-Hilfe-Kasten mit. Los, mach schon.«

Hanky saß ganz blass am Tisch. Er konnte nicht fassen, dass er den Fremden angegriffen hatte. Dabei war ihm im Moment nicht einmal bewusst, dass er einen mentalen Schlag ausgeteilt hatte. Wieso hatte er sich nur so hinreißen lassen? Wie hatte es nur so weit kommen können? Das war nicht richtig. Doch noch ehe sich Hanky weitere Selbstvorwürfe machen konnte, sagte

Walt leise und beruhigend: »Keine Angst, der Kerl atmet noch. Hanky, warst du das? Was hat dich denn so aufgeregt? Haste ihn belauscht? War’s das? Muss ja ein übler Bursche sein, wenn du so reagierst. Wir bleiben jetzt ganz ruhig hier sitzen, gerade so, als ob uns die Sache nichts angeht. Verstanden?«

Hanky nickte nur wie ein kleiner Junge und schaute auf die Tischplatte. Tränen der Scham rannen über seine Wangen. Er hätte fast einen Menschen umgebracht. Wie weit war es mit ihm gekommen? Ach, wäre er doch noch der dumme Kerl, der sinnlos in den Wäldern herumwanderte und Ameisen zählte ...

Ein leichtes Schluchzen entfuhr seiner Kehle. Walt beugte sich über den Tisch und reichte ihm eine Papierserviette. Dankbar nickte Hanky und wischte sich die Augen trocken. Dann straffte er sich. »Ist schon wieder okay. Ich wusste nicht, dass ich zu so etwas fähig bin.«

Erst in diesem Moment wurde Hanky klar, dass er den Mann kraft seines Willens niedergestreckt hatte.

Lebens Spender

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