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Kapitel 3

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Der Saal

Sie erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Noch nie hatte sie so grauenhafte Schmerzen erlebt. Sie versuchte sich im Bett umzudrehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Vorsichtig öffnete sie die Augen, um sie sogleich geblendet wieder zu schließen. Die Schmerzen schienen sich noch zu steigern, aber sie versuchte es erneut. Ihre gepeinigten Sehnerven leiteten nur das Bild einiger Neonröhren an das Gehirn weiter, die an einer unverputzten Betondecke befestigt waren. Vor Schmerz und Erschöpfung schloss sie die Augen. Bunte Kreise flimmerten vor den Pupillen, und Übelkeit breitete sich in ihr aus. Eine Frage, die entscheidende Frage formulierte sich in ihrem Geist: Wo war sie? Auch nach längerem Überlegen fand sie keine befriedigende Antwort. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass sie sich auf dem Nachhauseweg befunden hatte. So wie an jedem Wochentag. Erst mit dem Bus bis in die Vorstadt und dann zu Fuß eine weitere halbe Stunde durch ihr Viertel. Alles war wie immer gewesen, oder etwa nicht? Hatte sie einen Unfall erlitten und war nun in einem Krankenhaus? Nein, das konnte nicht sein. Ein Krankenhaus mit einer rohen Betondecke gab es nicht in ihrer Gegend, und sie bezweifelte, dass es ein solches Krankenhaus überhaupt irgendwo in Mexico gab. War das überhaupt ihre Heimatstadt Juarez? Hier in dieser Millionenstadt, am Rio Grande gelegen und damit direkt an der Grenze zu den USA, hatte sie ihr ganzes Leben verbracht. Oft hatte sie an der Grenze gestanden und hinüber nach El Paso geschaut, wo sie doch so gern leben würde.

Eine weitere Schmerzwelle unterbrach ihre abschweifenden Gedanken. Farbige Nebel schienen ihren ganzen Gesichtskreis auszufüllen. In ihrem Schädel tobte ein Sturm der Qual, als würden Tausende Nadeln zugleich auf sie einstechen. Nach einer Weile - sie konnte nicht einschätzen, wie lang die Pein dauerte - ebbten die Schmerzen wieder ab. Sie begann erneut nachzudenken. Wenn das kein Krankenhaus war, was dann?

Auf einmal erinnerte sie sich an die vielen vermissten Frauen. Seit vielen Jahren verschwanden beinahe täglich Frauen und Mädchen aus ihrer Stadt spurlos, und niemand schien sich darum zu kümmern. Waren es Tausende oder gar schon Zehntausende, die verschwunden waren? Sie konnte sich nicht daran erinnern. War sie einfach nur ein weiteres Opfer? Anfangs hatten die Medien noch darüber spekuliert, dass die Polizei in die Entführungen involviert sei, doch das konnte nie bewiesen werden. Befand sie sich in den Händen dieser unbekannten Entführer? Was wollten diese Leute von ihr? Weshalb hatte sie solche Schmerzen? Was stellte man mit ihr an? Panik drohte ihr Bewusstsein davonzuschwemmen. Mühsam öffnete sie erneut die Augen. Wieder sah sie nur die Deckenlampen. Sie versuchte noch einmal, sich zur Seite zu drehen, aber auch dieser Versuch scheiterte. Alles, was sie bewegen konnte, waren ihre Augen. Angestrengt schielte sie nach links und konnte aus den Augenwinkeln unscharf eine Art Krankenbett ausmachen. Darauf lag eine nackte Frau. Aus ihrer Stirn führten mehrere Kabel und Schläuche zu einem Kasten. Einige kleine Lichter blinkten an seiner Vorderseite. Erschrocken schloss sie die Augen wieder. Was war das nur? War dies doch ein Krankenhaus? Es war also zumindest eine weitere Person in diesem Raum. Oder waren es noch mehr? Sie öffnete die Augen und rollte ihre Pupillen zur anderen Seite. Hier bot sich das gleiche Bild. Auch dort lag eine Frau nackt auf einem Bett, und auch aus ihrer Stirn ragten Kabel und Schläuche und verschwanden in einem Kasten. Sie schaute zu den Lampen an der Decke. Soweit sie sehen konnte, zogen sie sich in langen Reihen an der Decke entlang. Der Raum musste riesig sein. Voller Angst ließ sie ihre Augen nach oben wandern, um herauszufinden, ob auch aus ihrem eigenen Kopf Kabel und Schläuche ragten. Doch noch ehe sie etwas erkennen konnte, kam der Schmerz zurück, so heftig diesmal, dass sie in eine erlösende Ohnmacht versank.

***

New York City (einige Tage später)

Hanky hatte schlecht geschlafen. Albträume hatten ihn in dieser Nacht heimgesucht, mit wilden Verfolgungsjagden, Monstern und lachenden Mördern. Verdrossen setzte er sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Er wusste nicht, was ihm so zu schaffen machte. Irgendwas bahnte sich an, dass spürte er ganz deutlich. Besorgt griff er zum Telefon, das auf seinem Nachttisch stand, und wählte die Nummer seines Großvaters. Zwar wusste er, dass es noch früh war, doch er wusste auch, dass sein Großvater meist früh auf den alten Beinen war. Es hatte kaum dreimal geklingelt, als eine müde, aber dennoch unendlich vertraute Stimme aus dem Hörer drang. »Hallo, wer ist da? Hier spricht Ray Berson. Hallo ...«

»Guten Morgen, Großvater, hier ist Hanky. Habe ich dich etwa geweckt?«

Hanky versuchte fröhlich zu klingen, damit der alte Ray sich keine Sorgen machte, aber da hatte er seinen Großvater unterschätzt.

»Was ist los, Hanky? Stimmt was nicht? Du rufst doch sonst nicht so früh an.«

»Nein, nein, Großvater, alles in Ordnung. Ich wollte einfach nur mal deine Stimme hören. Ich vermisse dich halt. Willst du nicht für ein paar Tage nach New York kommen? Wir könnten ein paar Museen besuchen oder in ein Musical gehen. Einfach Zeit miteinander verbringen.«

»Nein, Hanky, lass mich mal, wo ich bin. Der eine Besuch bei dir hat mir fürs Erste gereicht. So viele Leute und so wenig Natur vertrage ich nicht so gut. Es genügt schon, dass du mir dieses Höllending aufgeschwatzt hast.« (Damit meinte er das Telefon. Hanky hatte nicht lockergelassen, bis der alte Ray schließlich zugestimmt hatte. Hanky hatte sogleich ein Handy gekauft und seinen Großvater eindringlich gebeten, das Gerät jeden Abend auf die Ladestation zu stellen, um sicherzugehen, dass sein Großvater in jeder Situation Hilfe herbeirufen konnte. Schließlich war der alte Ray ja nicht mehr der Jüngste.)

Sie unterhielten sich noch eine Weile, wobei Ray herauszufinden versuchte, was seinen Enkel so beunruhigt hatte. Hanky wiegelte ab und war zugleich beruhigt, dass es seinem Großvater ganz gut ging. Dann beendete er das Telefonat mit der Zusicherung, sich bald wieder zu melden.

Er legte das Telefon auf die Station und begab sich ins Bad. Was hatte seine Unruhe ausgelöst, fragte er sich. Jeden Tag passierten schreckliche Dinge, doch solange sich Hanky nicht bewusst damit befasste, schlug sein Unterbewusstsein auch keinen Alarm. Doch hier war es anders. Immer noch fühlte Hanky ein gewisses Unbehagen, als ob etwas sehr Schlimmes auf ihn zukäme. Jemand steckte in einer bösen Klemme und dachte an ihn. Das war die einzige, sehr nebelhafte Erklärung, die Hanky zu seiner Vorahnung einfiel.

Als er einige Minuten später in die Küche kam, schlug ihm der angenehme Duft frisch gekochten Kaffees entgegen. Walt stand hinter dem Küchentresen, pfiff ein fröhliches Lied und bereitete das Frühstück vor. Als er Hanky bemerkte, unterbrach er sein Tun und fragte lächelnd: »Na, alter Junge, gut geschlafen?«

»Nein, Walt, eher nicht. Mich haben beunruhigende Träume immer wieder wach werden lassen. Ich bin ziemlich gerädert«

»O je«, ließ Walt hinter dem Tresen verlauten, während er sich eine Scheibe Schinken in den Mund stopfte. Die nächsten Worte konnte Hanky nicht verstehen, ließ Walt aber in dem Glauben, dass er seinem Monolog folgen würde. Müde setzte er sich an den Küchentisch und schaute blicklos aus dem Fenster. Etwas lauter und vor allem deutlicher, so eine Scheibe Schinken konnte sich schon sehr negativ auf die Kommunikation auswirken, sagte Walt: »Sag mal, interessiert es dich denn nicht brennend, was in dem Brief von Roger steht?«

»Was für ein Brief?«, wunderte sich Hanky.

»Ja, von was rede ich denn eigentlich die ganze Zeit? Heute Morgen war ein Brief von diesem FBI-Mann in der Post, Roger Thorn, und ich hab dich gerade gefragt, ob du nicht mal nachschauen willst, was er denn will.«

»Entschuldige, ich bin noch nicht ganz wach. Wo ist denn der Brief?«

Walt legte die Stirn in Falten, ersparte sich aber jeglichen Kommentar. Er kam um den Tresen herum, verschwand kurz im Flur und kam gleich mit einem zerknitterten Umschlag zurück. Diesen legte er vor Hanky auf den Tisch und kehrte zur Küchenzeile zurück. Gespannt verfolgte er von dort aus, wie Hanky den Umschlag von allen Seiten betrachtete und schließlich aufriss.

***

Der Saal

Die ganzen Tage hatte sie - wann immer die Kopfschmerzen erträglich waren - ihre Umgebung im Auge zu behalten versucht. Ihr Name war Carmen Galinda, doch daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie konnte sich an nichts erinnern, nur an den Schmerz, den fürchterlichen Schmerz, der in ihrem Kopf wütete wie ein wildes Tier. Suchend glitten ihre Augen hin und her und blieben an der Frau zu ihrer Rechten hängen. Über ihrem Kopf war jetzt ein Bildschirm positioniert. Carmen konnte nicht erkennen, was darauf zu sehen war. Nur einen rötlichen Schimmer auf der Haut der Frau sah sie und ihr gequältes, schmerzverzerrtes Gesicht.

Zwei Männer in grünen Krankenhauskitteln traten in ihr Blickfeld, einen glänzenden Wagen aus Aluminium vor sich herschiebend. Am Bett der Frau hielten sie an. Einer von ihnen beugte sich über sie und begutachtete die Schläuche, die aus ihrer Stirn ragten. Offenbar zufrieden, richtete er sich wieder auf und grinste. Fast fröhlich wandte er sich an seinen Kollegen: »Mit der werden wir eine gute Ausbeute erzielen. Ihre Panik begünstigt den Ausstoß des Serums. Der Chef wird zufrieden sein.«

Der andere nickte nur und deutete mit dem Kinn in Carmens Richtung. Ein hämisches Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. »Ja, wird er wohl. Morgen kümmern wir uns um die Schönheit da drüben.« Er starrte Carmen unverwandt an und ließ seine begierigen Blicke über ihren Körper schweifen. Sein Partner bemerkte den Blick und die Gier darin und warf rasch ein: »Tu ja nichts Unüberlegtes. Der Boss wird sauer, wenn sich jemanden an den Spendern zu schaffen macht.«

Der Angesprochene grinste breit. »Nun mach dir mal bloß nicht ins Hemd«, brummte er abfällig. »Man wird ja wohl noch schauen dürfen. Außerdem, was macht es am Ende für einen Unterschied? Wenn die Ziegen keine Milch mehr geben, werden sie sowieso entsorgt. Du weißt, was ich meine!« Verschwörerisch zwinkerte er seinem Kollegen zu. Die beiden hantierten noch eine Weile an den Geräten herum, die auf einem Tisch hinter der Frau standen, und verließen dann Carmens Sichtfeld. Noch einige Zeit hörte sie die Männer, bis schließlich das Klacken einer Tür verriet, dass sie den Raum verlassen hatten.

Carmen versuchte die Worte einzuordnen. Spender? Was bedeutete das? War sie ein Spender? Für was? Sie wollte kein Spender sein. Sie wollte ihr Leben leben, auch wenn es nur ein einfaches, bescheidenes war. Angst breitete sich in ihr aus. Das Wort “Entsorgung” flößte ihr noch mehr Furcht ein. Sie fing an zu zittern, Schweiß brach aus allen Poren ihres Körpers. Nein, nein, nein! Sie wollte nicht entsorgt werden, sie wollte hier heraus. Sie musste fliehen. Adrenalin, ungeheuer konzentriert, verlieh ihrem Körper eine Kraft, die sie selbst nie für möglich gehalten hätte. Verzweiflung kämpfte gegen Chemie und bewirkte Unvorhergesehenes. Die Chemikalie, verantwortlich für die Lähmung ihres Körpers, wurde absorbiert. Carmen spürte sich selbst wieder, wenngleich brennende Schmerzen ihre Muskulatur peinigten. Mühsam hob sie den Arm und tastete über ihre Stirn. Doch da war nichts. Keine Kabel, keine Schläuche. Erleichtert atmete sie auf. »Morgen kümmern wir uns um die Schönheit da drüben«, hallte es in ihrer Erinnerung wider. Morgen würden diese Männer Schläuche in ihren Kopf stecken. Morgen würde sie verloren sein. Sie musste handeln, aus diesem Saal des Grauens fliehen, hinaus in die Freiheit, zurück ins Leben, nach Hause.

Unter unsäglichen Mühen richtete sie sich auf und hielt auf der Bettkante sitzend inne. Sie schwankte leicht, Übelkeit stieg in ihr auf. Hastig atmend, mit offenem Mund, saugte sie ihre Lungen voll Sauerstoff und konzentrierte sich darauf, den Brechreiz zu unterdrücken. Nach einigen Minuten stand sie auf, hielt sich noch mit einer Hand am Bettgestell fest, ehe sie einige unsichere, mit steigender Zuversicht immer sicherere Schritte wagte. Der Fußboden war kalt, was ihr half, sich der Realität ihrer Situation zu stellen. Kalte Füße signalisierten, dass sie immer noch unter den Lebenden weilte und dies hier keinesfalls ein Albtraum war. Suchend blickte sie sich nach einem Ausgang um. Absichtlich ließ sie den Blick an den unzähligen Betten mit den Menschen darin vorübergleiten, sah nicht genauer hin. Erst einmal musste sie sich in Sicherheit bringen, dann konnte sie versuchen, den Elenden hier zu helfen. Endlich erblickte sie eine Tür, gute fünfzig Meter entfernt. Sofort eilte sie dem Ausgang zu - sie hoffte, dass es ein Ausgang war. Es war wie ein Lauf durch die Hölle, vorbei an all den bemitleidenswerten Gestalten, die nackt und gepeinigt in den Betten lagen. Carmen hielt den Blick nach unten gerichtet, konzentrierte sich nur darauf, die Tür zu erreichen. Augenblicke später umfasste ihre Hand die Türklinke. Sie atmete einige Male tief durch, um ihren jagenden Puls zu beruhigen. Dann lauschte sie. Wo waren die Männer geblieben, die sie vorher beobachtet hatte? Waren sie dort draußen hinter der Tür? Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte keinen Laut vernehmen. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit und spähte hinaus.

Vor ihr lag ein dunkler Flur, Schatten deuteten Türöffnungen an. Alles war ruhig. Carmen schlüpfte in den Gang und schloss behutsam den Eingang zum Saal. Erstaunt stellte sie fest, dass es hier muffig roch, nach altem, nassem Gemäuer, nicht, wie sie erwartet hatte, steril wie in einem Krankenhaus. Darauf bedacht, die Füße so geräuschlos wie möglich aufzusetzen, schlich sie zum Ende des Gangs und zu einem sich anschließenden Treppenhaus. Sie entschied sich, den Weg nach unten zu nehmen.

Zwei Etagen tiefer fand sie endlich den ersehnten Ausgang. Durch ein kleines, in die Tür eingelassenes Fenster konnte sie auf den Hof eines Fabrikgeländes hinausschauen. So vermutete sie zumindest, da sich alte, aus Backstein errichtete Lagerschuppen an größere Gebäude schmiegten, und weiter hinten konnte sie schemenhaft einen hohen Schornstein erkennen. Draußen war Nacht, und dichter Nebel hüllte die Szenerie ein. Eisig lief ein Frösteln über ihre Haut, und sie wurde sich ihrer Nacktheit bewusst. Doch Kleidung zu finden, war im Moment von untergeordneter Bedeutung. Erst einmal musste sie von hier verschwinden.

Wie ein Phantom huschte sie nach draußen und verschwand im nächsten Schatten. Sie lauschte erneut auf verdächtige Geräusche, doch das ganze Gelände lag verlassen da. Nichts deutete darauf hin, was sich hinter diesen Mauern abspielte. Carmen tastete sich von Schuppen zu Schuppen, bis sie vor einem maroden Maschendrahtzaun stand. Zum Glück war er an vielen Stellen löchrig, zum Teil lag er ganz am Boden. Mit großer Vorsicht, da ihre Füße ungeschützt waren, stieg sie über die Überreste des Zauns, um dann über eine angrenzende Wiese zu einem Maisfeld zu laufen. Zwischen den mannshohen Stauden tauchte sie unter und verschwand.

Lebens Spender

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