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Kapitel 5

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New York City

Der Brief hatte Hanky erschüttert. Nicht etwa das Schreiben an sich, das eher sachlich verfasst war, sondern die Emotionen, die mit diesem Schriftstück reisten.

Hanky war sich noch immer nicht über alle seine Fähigkeiten im Klaren. Nun war schon etwas mehr als ein Jahr vergangen, seit er den Tausendschläfer besiegt hatte, dennoch entdeckte er fast jeden Tag kleine Hinweise darauf, dass die Welt des Übersinnlichen - oder, wie er lieber sagte, der Extrafähigkeiten - scheinbar grenzenlos war. Seine wichtigste Fähigkeit war es, von jeder beliebigen Person Informationen telepathisch zu empfangen und sie in seinem Gehirn zu speichern. Diese Fähigkeit erlaubte es Hanky, ungeheures Wissen anzuhäufen, und machte das Lernen leicht. Die Gefahr solcher Übungen lag darin, dass es häufig schwierig war, sich von den Gefühlen anderer Menschen zu distanzieren. Dass allerdings ein sogenannter toter Gegenstand Emotionen transportieren konnte, war neu für ihn. Zum Glück bewies Walt großes Einfühlungsvermögen und hatte ihn in Ruhe gelassen. Eine ganze Weile hatte Hanky unschlüssig auf dem Sofa gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Ihm war noch nicht klar, wie er Roger helfen konnte. Instinktiv wusste er, dass der FBI-Mann noch am Leben war, doch das war auch schon alles. Wie sollte Hanky vorgehen, wo mit den Ermittlungen beginnen? Alles war sehr verschwommen und nebulös. Schließlich nahm er den Brief noch einmal zur Hand und las ihn erneut.

Bei den Ermittlungen zu mehreren mysteriösen Mordfällen im Gebiet der Staaten New York und New Hampshire hatten örtliche Einheiten der Mordkommission das FBI um Unterstützung gebeten.

Vier Leichen im nördlichen New York und drei Leichen in New Hampshire, aufgefunden auf Mülldeponien, stellten die Beamten der Mordkommission und die zuständigen Gerichtsmediziner vor ein schwieriges Problem. Alle Leichen hatten drei Millimeter große Löcher in der Stirn, die laut Obduktionsbericht aber nicht die eigentliche Todesursache waren. Alle Opfer starben an akutem Herzversagen, was normalerweise auf extrem hohe Stressbelastung zurückzuführen ist. Auffallend und bei allen Untersuchten identisch war die ungewöhnlich hohe Konzentration von Adrenalin. Bei der Öffnung der Schädeldecken wurde bei allen Opfern eine Perforation der Zirbeldrüse festgestellt. Die Mediziner waren ratlos und konnten sich keine Prozedur vorstellen, bei der es nötig war, durch die Stirn die Zirbeldrüse zu punktieren. Die ermittelnden Beamten wussten noch weniger mit diesen Informationen anzufangen. Ungewöhnlich war auch die Tatsache, dass die Täter ihre Opfer einfach auf Mülldeponien ablegten. Vermutlich hatten sie gehofft, dass die Leichen unter den Müllbergen begraben würden und niemand Notiz nehmen würde. Tatsächlich war das erste Opfer auch nur zufällig gefunden worden. Da die herbeigerufenen Polizeibeamten mehr als nur eine Leiche fanden, verständigte der zuständige Staatsanwalt seine Kollegen der angrenzenden Staaten, was zum Fund der Leichen in New Yorkführte.

In diesem Stadium wurde ich vom New Yorker Büro auf den Fall angesetzt. Ich sollte verdeckt ermitteln und versuchen, die Leute zu finden - wir waren uns von Anfang an sicher, dass es sich um mehrere Täter handeln musste -, die für die Morde verantwortlich waren. So streifte ich durch Kneipen und Bars, die von der Fundstelle aus in einem Radius von zwanzig Meilen aufgefunden worden waren.

Anfangs hörte ich nur das übliche Geschwätz angetrunkener Kleinstadtbewohner. Jeder hier hatte seine eigene Theorie über die Morde, sogar von Außerirdischen wurdegefaselt, bis ich eines Abends Zeuge eines leise geführten Gesprächs wurde.

Zwei Männer mittleren Alters saßen etwas abseits an der Theke einer kleinen Bar, die ich in den vergangenen Tagen schon des Öfteren besucht hatte. Den einen kannte ich schon vom Sehen, der andere Gast aber war mir unbekannt. Aus dem Gespräch konnte ich bruchstückhaft heraushören, dass der Unbekannte versuchte, seinen Gesprächspartner anzuwerben. Der Unbekannte hatte einen militärisch kurzen Haarschnitt und wirkte sehr durchtrainiert. Nach einer Weile ging er fort, und zurück blieb der offenbar tief in Gedanken versunkene andere Mann. Ich musste herausfinden, um was es in dem Gespräch gegangen war. Also bestellte ich zwei Drinks und rückte näher an ihn heran. Zunächst war er misstrauisch, im Verlauf des Abends und weiterer Getränke wurde er dann doch noch gesprächig. Er berichtete mir von einer Vereinigung, die sich Gruppe Phönix nannten. Diese Leute waren sehr konservativ und rassistisch. Mein Gesprächspartner war erschrocken über die krassen, gewaltbereiten Äußerungen des PhönixMitglieds und wollte deshalb in der nächsten Zeit Bars meiden, um diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. Er hatte sichtlich Angst, ich hingegen wollte und musste jeder Spur nachgehen, die mich möglicherweise zu dem Täterkreis führen konnte. Also warum nicht hier beginnen? Gleich am nächsten Tag informierte ich mich im Internet über diese ominöse Gruppe. Ich fand nur sehr wenige Informationen. In entsprechenden Foren wurde jedoch erschreckend offen dem Rassismus gehuldigt und unverblümt eine weiße Vorherrschaft gefordert, um die minderwertigen Rassen< in die Schranken zu weisen. Doch niemand sprach direkt von der Gruppe Phönix und der ihr untergeordneten Odin Force. Trotzdem gab es diese Organisationen, und ich vermutete, dass diese Leute etwas mit den Morden zu tun hatten. Dieser Frage wollte ich auf den Grund gehen, und so wartete ich in der Bar einige Tage auf das Auftauchen des militärischen anmutenden Mannes. Eine Woche später war es so weit. Der Kerl kam herein und schaute sich suchend um. Ich hatte mir extra paramilitärische Kleidung gekauft und gab mich entsprechend progressiv. Laut schimpfte ich über die Ungerechtigkeit der Welt und die der Gruppen, jeder wisse ja wohl, wen ich damit meine, die das ganze Finanzsystem steuerten und damit Elend über alle rechtschaffenen Leute brächten. Ich dachte schon, ich hätte etwas zu dick aufgetragen - der Wirt schaute mich ganz verwundert an - als der Militärische auf mich zugeschritten kam. Er versuchte mich zu beruhigen, was ich zu Anfang nicht zuließ. Er blieb aber hartnäckig, und schon bald fing er mit seinem Anwerbungsgespräch an. Kurz gesagt, schon am nächsten Tag wurde ich der Ortsgruppe vorgestellt, durchlief am folgenden Wochenende einen Eignungstest, der meine sportliche und moralische Eignung prüfen sollte. Da ich erstaunlich gut abschnitt, wurde ich unter großem Tamtam feierlich aufgenommen und musste einen Treueeid ablegen. So wurde ich Woche um Woche weiter nach oben empfohlen, da meine Eignung für den militärischen Arm der Organisation nicht zu übersehen war. Schließlich wurde ich Mitglied einer mobilen Einheit mit dem heroischen Namen Odin Force. In dieser Gruppe, die mit allen Arten moderner, beweglicher Waffen ausgestattet war, besuchte ich weitere Fortbildungskurse. In abgelegenen Gegenden wurde trainiert, die Wälder im nördlichen Territorium des New York State waren nun mein neues Zuhause. An den abendlichen Lagerfeuern wurde von vergangenen Einsätzen geschwärmt, allerdings nie in Anwesenheit sogenannter Offiziere. Was ich da erfuhr, ließ mir den Atem stocken, obwohl ich das Gerede am Anfang als angeberisches Geschwätz abtat. Doch nach und nach glaubte ich den Geschichten. Natürlich hatte es in meiner Karriere bei der Odin Force kleinere Straftaten seitens meiner >Kameraden<gegeben, aber nichts, was ein Einschreiten und den Verlust meiner Tarnung gerechtfertigt hätte. Dann kam allerdings der Tag, der mich zur Flucht veranlasste und mich meinen Glauben an den Staat verlieren ließ.

Schon am frühen Morgen waren wir angewiesen worden, das Gelände zu sichern, da hoher Besuch angekündigt war. Wir verteilten uns rund um eine große Lichtung, die ab und zu als Landeplatz für Helikopter genutzt wurde. Ich stand, ganz in schwarz gekleidet, mit einer geladenen M16 in der Armbeuge am Rand des Waldes. Um Punkt neun Uhr hörte ich das Knattern eines nahenden Hubschraubers. Kurz darauf schwebte eine schwarz lackierte Maschine ohne jegliche Kennung heran und landete sanft in der Mitte der Lichtung. Mehrere Männer in dunklen Anzügen verließen den Helikopter. Aus reiner Neugier schaute ich durch mein Fernglas zu den Männern hinüber. Was ich sah, war ein Schock für mich: Ich kannte einige der Männer dort drüben. Gerade wurde der stellvertretende FBI-Direktor Stuart Melanscy vom Lagerkommandanten Rudgar Kruger begrüßt. Direkt daneben standen, breit lächelnd, Staatssekretär Wilson Mac Adams und Senator Samuel Benjamin aus Nevada. Hinter diesen Repräsentanten der Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich zwei meiner Kollegen postiert, die ich aus dem Washingtoner Büro kannte: Joe Curtis und Mike Stellino. Ich fragte mich, was diese Männer hier zu suchen hatten. War diese ganze Organisation ein getarntes Projekt des FBI? War ich einer falschen Fährte auf der Spur? Das konnte doch nicht sein.

Nach einer Weile wurde ein gefesselter Mann zu der Gruppe gebracht. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck blickte der Senator ihn an. Dann sagte er etwas zu ihm und spuckte verächtlich aus. Das Gesicht des Gefesselten war mit Blutergüssen übersät, was auf eine vorangegangene Folterung hindeutete. Der stellvertretende FBI-Direktor gab dem Agenten Curtis einen kurzen Wink, worauf dieser mit einer lässigen Bewegung seine Dienstwaffe zog und dem Gefangenen ohne Zögern in den Kopf schoss. Der Mann brach sofort zusammen und blieb liegen. Die Gruppe setzte ihr Gespräch fort, als sei nichts geschehen. Nach weiteren fünf Minuten brachten vier Odin-Mitglieder eine offenbar recht schwere Kiste herbei und verluden sie in den Hubschrauber. FBI-Agenten, Staatssekretär und Senator verabschiedeten sich vom Kommandanten und verschwanden einer nach dem anderen in der Maschine. Kurz darauf startete der Hubschrauber und flog dicht über den Baumwipfeln davon.

Zwei Stunden später lag noch immer der Leichnam auf der Lichtung, gut sichtbar für jeden. Vor dem Haupthaus sammelten sich die Männer. Den leise geführten Unterhaltungen entnahm ich, dass es sich bei dem Erschossenen um einen FBI-Agenten handelte. Dieser Mann war für die Entsorgung der Leichen verantwortlich gewesen, die später auf den Müllhalden gefunden worden waren. Ich vermutete, dass der Agent die Toten mit Absicht dort platziert hatte, um die Ermittlungsbehörden aufmerksam zu machen. Ich kannte den Mann nicht, was aber auch nicht verwunderlich war, da über dreißigtausend Mitarbeiter des FBI in den USA tätig sind. Das ich die Insassen des Helikopters identifizieren konnte, war schon ein großer Zufall.

Doch ehe ich weitere Schlussfolgerungen ziehen konnte, fuhren große Lastwagen auf das Haupthaus zu und hielten direkt davor. Wir wurden in Teams eingeteilt und eilten zu fünf bereitstehenden Geländewagen. Kurz darauf startete der Konvoi zu einem mir unbekannten Ziel. Wir mussten nicht weit fahren. Uber holprige Landstraßen gelangten wir nach einer halben Stunde in ein kleines, abgelegenes Tal. Dort befand sich ein alter, nicht mehr in Betrieb befindlicher Flughafen, der im Wesentlichen nur noch aus einer rissigen, mit Unkraut überwucherten Landebahn bestand. Windschiefe, rostige Hangars und ein nur noch in Fragmenten erhaltener Tower bildeten eine morbide Kulisse. Die Lastwagen hielten am Rand der Landebahn, unsere Geländewagen fuhren weiter direkt in die Hangars. Dort wurden wir von bewaffneten Männern empfangen, die uns eilig aus den Fahrzeugen winkten. Gruppenweise wurden wir zur Sicherung des Flugfelds losgeschickt. Im Laufschritt begaben wir uns zu den angewiesenen Positionen. Tiefes Brummen, verbunden mit einem leichten Vibrieren der Luft, kündigte die unmittelbar bevorstehende Landung eines größeren Flugzeugs an. Kurz verdeckte ein Schatten die Sonne, und schon setzte eine graue Hercules C-130 zur Landung an. Die dreißig Meter lange und fünfunddreißig Tonnen schwere Maschine setzte sicher auf und kam nach erstaunlich kurzem Bremsweg zum Stehen.

Sofort setzten sich die Lastwagen in Bewegung und hielten hinter der Maschine. Die Heckladeklappe senkte sich nach unten. Männer sprangen aus den Lastwagen und eilten zum Flugzeug, stiegen die Landerampe hinauf, um kurz darauf mit Krankentragen wieder aufzutauchen. Undeutlich erkannte ich, dass es offenbar hilflose Menschen waren, die auf den Tragen lagen. Die Männer hoben sie auf die Ladefläche der Lastwagen. Verwundert und verständnislos schaute ich dem Entladen des Flugzeugs zu. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer waren die Menschen, die hier auf Lastwagen verladen wurden, und wo kamen sie her? Was sollte mit ihnen geschehen? Mir schwirrte der Kopf. Etwa zehn Meter rechts von mir stand ein anderer Odin-Soldat, der meine Verwunderung offenbar bemerkt hatte. Er lachte und rief: »Na, wohl zum ersten Mal dabei, wenn wir die Spender abholen?«

Die Spender? Ich konnte nichts mit der Bezeichnung anfangen. Ehe ich noch zu einer Antwort ansetzten konnte, fuhr er fort: »Du wirst dich schon noch daran gewöhnen. Alle zwei bis drei Wochen kommt eine neue Lieferung als Ersatz für die Ausfälle. Du glaubst ja nicht, wie schnell manche von denen den Geist aufgeben und einfach wegsterben. Die halten echt nicht viel aus. Der Dienst hier am Flugfeld gehört noch zu den angenehmsten Aufgaben. Warte nur, bis du zum Entsorgen eingeteilt wirst. Das ist echt widerlich. Na ja, du wirst schon sehen.«

Er lachte noch einmal hämisch auf und konzentrierte sich dann wieder auf die Beobachtung des Flugfelds.

Gedanken rasten durch meinen Kopf. Spender - Lieferung - Ausfälle - Entsorgung. Etwas in mir weigerte sich, dieses Geschehen als Realität zu akzeptieren. Wie war es nur möglich, dass ein organisierter Menschenhandel in diesem Umfang bisher unentdeckt geblieben war? Woher kamen die armen Menschen, die hier nur als Spender bezeichnet wurden, und was spendeten sie? Wer war für all das verantwortlich? Wer war so skrupellos? Hier wurden Menschen missbraucht und ermordet, in einer Dimension, die ich mir nicht ausmalen mochte. Wie viele Menschen waren schon gestorben und entsorgt worden? Ich befand mich unter Bestien in Menschengestalt.

Das Anlaufen der Propeller lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Flugfeld. Die Lastwagen hatten bereits die Landebahn verlassen und die Landstraße erreicht. Wir bekamen den Rückzugsbefehl und rannten zu den Geländewagen in den Hangars.

Auf der Fahrt zurück zu unserem Standort unterhielten sich die Odin-Soldaten so zwanglos und locker, als hätten sie eben dem Verladen von Obst und Gemüse beigewohnt und nicht dem Transport von Todgeweihten.

Für mich standfest, dass ich noch in dieser Nacht verschwinden musste. In meiner Unterkunft verzog ich mich nach unserer Ankunft in die Toilette, um diesen Bericht zu schreiben. Ich werde versuchen, diese Machenschaften zu beenden, diese Bestien zur Strecke zu bringen.

Damit endete der Bericht Roger Thorns.

Ratlos legte Hanky die eng beschrieben Seiten auf den Tisch. Was sollte er nur machen, wie konnte er helfen? Suchend schaute er sich nach Walt um, doch der war nicht mehr in der Küche. Hanky war unsicher, ob er ihm den Brief zeigen, ihn in diese Sache hineinziehen sollte. Auf der anderen Seite brauchte er Hilfe. Dies war nicht nur ein Monster, das er jagen und hoffentlich am Ende besiegen konnte, sondern hier war die Anzahl der Monstren nicht abzusehen. Doch es ging nicht nur darum, diese Verbrecher dingfest zu machen, sondern vor allem um die Rettung unzähliger Menschenleben. Er würde Walt den Bericht lesen lassen, und danach sollte er selbst entscheiden, ob er Hanky helfen wollte.

Entschlossen stand er auf und eilte in sein Büro. Er hatte schon zu lange gezögert. Allein konnte er keine Lösung finden, keine Entscheidung treffen. Er brauchte seine Freunde. Zuerst telefonierte er mit Paul Green, der sich sofort bereit erklärte, bei einer möglichen Ermittlung zu helfen, obwohl Hanky ihm noch keinerlei Auskünfte über die Art des Problems gegeben hatte. Paul wusste, dass es dringend war, wenn Hanky ihn um Hilfe bat.

Richard Miller zu erreichen erwies sich anfangs als recht schwierig, da niemand zu wissen schien, wo er sich aufhielt. Das Problem erledigte sich von selbst, als Richard nebst seiner Frau Rita an Hankys Tür klingelte, beladen mit einem riesigen Kuchenpaket.

Walt, der den Bericht in der Zwischenzeit gelesen hatte, zog sich scheinbar sorglos schwatzend mit Rita in die Küche zurück, um Kaffee zu kochen und den Tisch zu decken.

Hanky und Rich setzten sich ins Wohnzimmer. Dort gab Hanky ihm schweigend den Brief.

Richard drehte den Bericht mit fragendem Blick in den Händen hin und her und schaute Hanky dann besorgt an. »Was ist los?«

»Bitte, Rich, es ist sehr ernst. Lies den Brief und lass uns später reden.«

***

Der Saal

Im ganzen Raum blinkten rote Warnlichter an den Apparaturen hinter den Betten der Spender. Dazu hallte ein durchdringendes Piepen aus den Gräten. Keuchen, schrille Schreie und schmerzvolles Stöhnen erfüllten den Saal. Vereinzelt lagen nackte Menschen blutend am Boden, und überreizte Nerven ließen ihre Glieder unkontrolliert zucken.

In einem Nebenraum hatte sich die automatische Warn- automatik angeschaltet und ein Notsignal zu einer Überwachungszentrale gesendet. Der Operator hatte mehrfach versucht, Kontakt zu den Medizintechnikern des Saals aufzunehmen, ehe er seinen Supervisor auf das Problem aufmerksam machte.

(Inzwischen ...)

Bob und Frank waren seit Stunden unterwegs. Vor lauter Jagdfieber hatten sie den Saal und ihre Aufgaben dort völlig vergessen. Zweimal waren sie schon ganz nah daran gewesen, ein Opfer zu fangen, doch immer war etwas dazwischengekommen. Nun lauerten die beiden in der Nähe eines Krankenhauses, sich der Ironie dieser Situation nicht bewusst. Ihren Wagen hatten sie am hinteren Ende des Parkplatzes abgestellt. Hier, weit vom Haupteingang entfernt, hofften sie unbemerkt eine Person überwältigen zu können. Doch nichts rührte sich. Niemand kam auch nur in die Nähe ihres Fahrzeugs.

»Verdammt, Bob, das wird wieder nichts. Wir stehen hier schon ewig.« Um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, schaute Frank bedeutungsvoll auf seine Uhr und erschrak. »Mist, verdammter Mist«, schimpfte er los. »Das kann doch nicht wahr sein. Du meine Güte!«

»Was ist denn?«, fragte Bob verständnislos.

»Hast du mal auf die Uhr geschaut? Weißt du, wie spät es ist? Mann, wir haben schon Nachmittag. Die Spender sind seit gestern nicht mehr versorgt worden.« Eiligst startete er den Wagen und verließ den Parkplatz.

»Nun reg dich doch nicht so auf, Frank. Was soll denn schon groß passieren?«

»Was passieren soll?«, echote Frank. »Ja, bist du von allen guten Geistern verlassen? Die Betäubungsmittel reichen nicht ewig, außerdem müssen die Behälter mit dem Serum alle vierundzwanzig Stunden geleert werden, sonst ist das Zeug nicht mehr zu gebrauchen. Da hast du uns in eine verdammte Scheiße geritten, das sag ich dir.«

»Wieso eigentlich immer ich?«, maulte Bob und sah den Schlag nicht kommen, den Frank ihm verpasste. Mit einem hörbaren Krachen brach seine Nase, und Blut spritzte über sein T-Shirt.

***

In Molly Barns Haus (zur Mittagszeit des gleichen Tages) Nachdem Molly Barns Carmen versorgt hatte, schlief die junge Frau erschöpft ein. Molly schlich sich in die Küche und ergriff den Hörer des an der Wand befestigten Telefons. Sie sammelte sich kurz, um dann die Nummer des örtlichen Sheriffbüros zu wählen. Eine weibliche Stimme meldete sich und erkundigte sich, wie sie helfen könne. Molly fasste sich kurz und bat darum, mit dem Sheriff verbunden zu werden.

»Sheriff Ward ist sehr beschäftigt«, klang es aus dem Telefon. »Würden Sie mir bitte den Grund Ihres Anrufs mitteilen?«

Molly war aufgebracht und wollte sich nicht mit einer Telefonistin herumschlagen. Sie kannte den Sheriff schon aus ihren Jugendtagen, und Jeff Ward saß bestimmt mit seinem dicken Hintern hinter dem Schreibtisch und las Zeitung. Für ihre Verhältnisse ungewöhnlich scharf antwortete sie deshalb: »Junge Dame, wenn Sie mir nicht sofort Jeff Ward ans Telefon holen, dann werden Sie morgen im Supermarkt an der Kasse stehen. Haben Sie mich verstanden?«

Es knackte in der Leitung, und Molly dachte schon, die Telefonistin habe einfach das Gespräch beendet, als sie undeutlich die Stimme des Sheriffs hörte: »Hallo, hier Sheriff Ward. Was kann ich für Sie tun?«

Ohne auf das kauende Geräusch einzugehen, das durch den Hörer klang, berichtete sie ihm alles, was sich seit dem Morgen ereignet hatte. Dazu gehörte auch die unglaubliche Geschichte, die ihr Carmen stockend und in gebrochenem Englisch erzählt hatte.

Fünf Minuten später bremsten die Streifenwagen des Sheriffs vor Molly Barns Haus.

***

(Inzwischen ...)

Der Supervisor reagierte prompt und verständigte umgehend die Leitstelle der Odin Force. Kommandant Rudgar Kruger schickte sofort drei mobile Eingreiftrupps los, die in schwarzen SUVs davonbrausten. Gefahr war im Verzug, und der Kommandant wusste genau, was geschehen würde, sollten seine Leute erneut versagen. Mit zusammengebissenen Zähnen und zu Schlitzen verengten Augen suchte er nach einer Möglichkeit, seine eigene Haut zu retten. Zu viel hatte er riskiert, zu tief steckte er in der ganzen Angelegenheit, zu mächtig war die Organisation, um einfach davonzurennen und auszusteigen. An wen hätte er sich schon wenden können? Die Gruppe Phönix war weltweit vertreten und hatte ihre Männer an maßgeblichen Stellen positioniert. Nein, es gab keine Flucht, er musste erfolgreich sein und es bleiben. Er musste seinen Job erledigen, koste es, was es wolle. Mit einer eckigen Bewegung drehte sich Kruger um und ging zurück zur Funkzentrale.

***

Die Fabrik (früher Nachmittag)

Der rostige Kastenwagen mit der Aufschrift Schrotthandel Mac Mullen kam schlingernd vor dem Haupteingang des alten Fabrikgebäudes zum Stehen. Die Türen flogen auf, Bob und Frank sprangen hastig aus dem Fahrzeug, rannten zum Eingang, entriegelten die Tür und eilten die Treppen empor. Schon im Treppenhaus hörten sie die Alarmanlage schrillen. Bestürzt schauten sie einander an, während eine hektische Stimme aus dem Funkgerät Antwort forderte. Bob ergriff das Mikro und meldete sich keuchend: »Hier Station sechzehn. Alles unter Kontrolle.«

»Was soll das heißen, alles unter Kontrolle?«, antwortete der Operator in der Zentrale und winkte hastig den Supervisor herbei. »Wir haben hier schon seit einer Stunde einen Alarm auf den Monitoren. Seit dieser Zeit versuchen wir, Sie zu erreichen!«

»Wir waren beschäftigt. Sie wissen, wie das ist, wenn man mehr als einen Spender hat, dessen Werte kritisch sind«, antwortete Bob und war sicher, eine gute Ausrede gefunden zu haben.

»Nein, ich weiß nicht, wie das ist«, antwortete der Operator kühl. »Die Regularien in einem Notfall sind im Handbuch ausdrücklich ausgewiesen. Daran haben Sie sich zu halten. Auf jeden Fall haben wir ein Team losgeschickt, um zu sehen, was bei euch schiefläuft.«

Bob erschrak fast zu Tode. »Nein, das ist nicht nötig. Wir können alles regeln, Hilfe ist nicht nötig, wir schaffen das schon. Aber danke für das Angebot. Sie können beruhigt das Team zurückbeordern.«

»Unsere Leute werden auf jeden Fall einmal nachschauen. Sie müssten in wenigen Minuten bei Ihnen eintreffen«, klang es aus dem Lautsprecher der Funkanlage.

Bob sprang auf, stieß dabei den Stuhl um und rannte zum benachbarten Saal. Als er die Tür öffnete, wurde ihm fast schlecht vor Angst.

Zur gleichen Zeit bremsten vier Einsatzfahrzeuge des Sheriffs vor dem Fabrikgebäude. Ein fünfter Wagen stellte sich quer vor die Einfahrt des Geländes und blockierte damit jeglichen Zugang. Die Beamten sprangen aus den Wagen und griffen zu ihren Waffen. Der Sheriff trat vor die Eingangstür. Erleichtert stellte er fest, dass die Tür unverschlossen war. Leise drehte er den Griff und betrat den Eingangsbereich. Aus einem der oberen Stockwerke waren aufgeregte Stimmen zu hören. Eilig winkte Sheriff Ward seinen Leuten, und gemeinsam betraten die Männer das Treppenhaus. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, stiegen sie die Stufen hinauf, doch niemand stellte sich ihnen in den Weg. Im zweiten Stock blieben sie vor einer Tür stehen, hinter der Stimmen und andere Geräusche zu hören waren. Jeweils rechts und links der Tür postierte sich ein

Beamter, die Waffe im Anschlag, ehe der Sheriff die Tür mit einem Ruck aufriss. Sofort brach ein Sturm aus verzweifelten Schreien, Stöhnen und Wimmern über die Polizisten herein, vermischt mit dem penetranten mechanischen Piepen medizinischer Maschinen. Dazu kam ein unvorstellbarer Gestank nach Blut, Kot und Erbrochenem, der ihnen wie eine giftige Wolke entgegenströmte. Sheriff Ward hielt sich eine Hand vor den Mund, um seinen Brechreiz zu unterdrücken, und betrat den Raum. Dieser entpuppte sich als Krankensaal mit enormer Ausdehnung. Hier standen bestimmt dreihundert Betten, und auf fast jedem lag ein nackter Mensch.

»Was ist das hier?«, keuchte ein Deputy, der direkt hinter Sheriff Ward stand.

»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete der Sheriff. »Aber es ist schrecklich, und was dies hier auch zu bedeuten hat, wir werden es beenden.« Damit griff er zu dem Mikrofon, das an der Schulter seiner Uniform befestigt war, drückte auf den Sendeknopf und sagte: »Zentrale, hier SheriffWard. Alarmieren Sie sofort die Staatspolizei. Schicken Sie so viele Leute her wie nur möglich, und zwar sofort. Wir benötigen hier Hilfe. Ich brauche Krankenwagen, Ärzte und Pflegepersonal. Machen Sie schnell.«

Er wartete nicht auf Antwort, sondern beorderte seine Männer in den Saal. Forschend schauten die Polizisten durch den Raum, auf der Suche nach einem Verantwortlichen.

Diesmal war es Bob, der richtig reagierte. Gerade als die Tür zum Saal aufgestoßen wurde, schaute er in diese Richtung. Erschrocken sah er, wie die Polizisten den Raum betraten, und duckte sich instinktiv hinter ein Bett. Frank, nur einige Schritte entfernt, beugte sich gerade über einen schreienden Spender und versuchte, ihm eine Beruhigungsspritze zu verabreichen. Auf allen vieren krabbelte Bob zu ihm und zog ihn am Hosenbein. Mürrisch schaute Frank nach unten, wohl überzeugt, einen weiteren Spender zu erblicken. Stattdessen kniete Bob vor ihm, und er überlegte erstaunt, was diese Verrücktheit wohl zu bedeuten hätte. Doch noch eher er seinen Gedanken zu Ende denken oder Bob fragen konnte, was er denn auf dem Boden suchte, sagte der gepresst nur ein Wort: »Polizei!« Gleichzeitig zerrte er Frank nach unten. Dass er flüsterte, war angesichts des hundertfachen Geschreis der erwachten Spender völlig unnötig.

»Wir sind aufgeflogen, Frank. Soeben ist die Polizei aufgetaucht. Die Cops stehen noch am Eingang, und wir können nicht raus. Was sollen wir nur machen?«

Frank richtete sich ein wenig auf und schaute zur Saaltür. Tatsächlich, da standen Uniformierte, die sich ratlos umschauten. Frank war sicher, dass die Polizisten nicht lange brauchen würden, um die Lage einzuschätzen. Dann folgte mit Sicherheit eine erste Durchsuchung des Saals, bei der Bob und er entdeckt und anschließend verhaftet wurden. Nein, er wollte nicht in Handschellen zum nächsten Gefängnis verfrachtet werden, und schon gar nicht wollte er erklären, was er hier getan hatte. Das würde sein Todesurteil bedeuten. Nicht von staatlicher Stelle, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit - die Odin Force würde ihn zum Schweigen bringen.

Fluchend ließ er sich wieder auf den Boden sinken und ignorierte Bobs fragenden, erwartungsvollen Blick. Auf einmal hatte er die rettende Idee. Wer außer ihnen wusste denn, wie viele Spender im Raum waren? Ja, das war die Lösung, der Ausweg aus dem Schlamassel. Sie mussten sich als Spender ausgeben. Im folgenden Durcheinander würde sich schon eine Möglichkeit zur Flucht ergeben. Also eins nach dem anderen. »Zieh dich aus«, herrschte er Bob an, der natürlich überhaupt nichts verstand und ihn blöd anglotzte.

»Du sollst dich verdammt noch mal ausziehen. Wir müssen uns unter die Spender mischen, um hier rauszukommen! Verstehst du?«

Bob verstand zwar nicht alles, aber er gehorchte und entledigte sich seiner Kleider. Frank war schon nackt und beschmierte sich mit dem überall auf dem Boden verteilten Gemisch aus Blut, Dreck und Kot. Dann kramte er einen Kugelschreiber aus seiner zusammengeknüllten Kleidung. Fest drückte er ihn gegen die Stirn, um dann mit der freien Hand heftig auf das Ende des Schreibers zu schlagen. Die Mine durchstieß die Haut, und ein kleiner Blutfaden suchte seinen Weg nach unten. Danach richtete er den Kugelschreiber auf Bob, der langsam begriff, was Frank plante. Nackt, mit Stirnwunde und beschmutzten Leibern konnten die Cops sie nicht mehr von den Spendern unterscheiden. Sie brauchten nur ihre Rolle spielen, um zu entkommen.

Frank verteilte ihre Kleidungstücke unter verschiedenen Matratzen und zog dann einen Spender vom Bett auf den Boden. Danach vergewisserte er sich, dass keiner der Polizisten in seine Richtung schaute, und legte sich rasch auf das Bett. Sofort begann er mit Armen und Beinen herumzuzappeln und jämmerlich zu schreien.

Lebens Spender

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