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11. Der Gott des Alten Testamentes
ОглавлениеNoch einmal kann man hier rückfragen, ob das nicht alles eine Projektion des Menschen ist. (Feuerbach) Ob das alles wirklich so war, kann doch niemand sagen. Niemand hat Gott je gesehen, heißt es im Alten Testament, also könnten doch die ganzen Geschichten auch Erfindungen des Menschen sein. Das Alte Testament ist ja von Menschen über viele Jahrhunderte aufgeschrieben worden. Es ist in vielen Psalmen und Geschichten die einfache Schilderung der Not des Menschen. Er schreit sie zum Himmel, er weint, er jammert, er klagt. Die einzige Frage lautet: Kommt dem Wehgeschrei des Menschen von Jahwe her Hilfe zu?
Und darauf gibt das Alte Testament eine klare Antwort: Ja, Gott hat unser Schreien erhört. Er hat nicht alles Leid von uns genommen, aber er hat geantwortet und er hat uns von unseren Fesseln befreit, speziell von den Fesseln der Gefangenschaft in Ägypten. (Ex 3, 7)15 Und diese Befreiungstat ist für das Volk Israel nicht anders zu erklären als mit einem Eingreifen Gottes in die Geschichte. Diese Erfahrung des Handelns Gottes ist so überwältigend, dass das ganze Volk davon berichtet. Das ist bis heute das große Fest in Israel: das Pessahfest, die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft Ägyptens. (Ex 20, 2) Diese ist nur zu erklären mit dem Handeln Gottes, der dem Volk signalisiert: Ich bin da, (Ex 3, 14) es gibt mich, ich handle an dir und ich bin der einzige Gott, der diese Macht hat, dir zu helfen. Diese Macht haben die vielen anderen Götter nicht. Das ist die Kurzbotschaft Gottes an den Menschen.
Diese Erfahrung des befreienden Handeln Gottes muss für das Volk Israel so überwältigend gewesen sein, dass es daraus alle seine anderen Zugänge zu Gott ableitet. Aus dieser Erfahrung heraus wird das Alte Testament über mehrere hundert Jahre hinweg verfasst. Es sind die Hinterlassenschaften der Erfahrungen eines Volkes, das seine Erfahrung von der Befreiung nicht anders interpretieren kann als mit dem gewaltigen Handeln Jahwes.16 Er ist in unsichtbarer Ferne, sein Name darf nicht genannt werden und man soll sich von ihm kein Bild machen. Er ist der Unaussprechliche, Unsichtbare, Bildlose, aber er hat als Einziger diese gewaltige Macht, sein Volk gegen alle Widerstände zu befreien.
Er handelt an seinem Volk, schließt einen Bund mit ihm und führt es aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit hinaus. Er vermittelt seinem Volk, dass er dessen Knechtschaft nicht ertragen kann, dass er Mitleid mit ihm hat und es befreien will. Gleichzeitig schärft er diesem Volk ein, dass es diese Freiheit nur dann aufrechterhalten kann, wenn es an der Erhaltung dieser Freiheit mitarbeitet und sich an einige Regeln hält. Diese Regeln sind die Zehn Gebote. Sie dienen der Freiheit des Volkes und jedes einzelnen Menschen. Diese befreiende Tat Gottes führt zur Handlungsfreiheit des Menschen.17 Diese äußere Befreiung wird später im Christentum fortgesetzt hin zur inneren Befreiung jedes einzelnen Menschen von seiner inneren Knechtschaft.18
Es geht hier religionsgeschichtlich um den Umbruch vom gedachten und projizierten Gott hin zu jenem Gott, den es „wirklich“ gibt. Es ist der Umbruch geschehen vom gedachten, vorgestellten und in den Himmel hineinprojizierten Gott hin zum wahren Gott, der sich selbst zeigt, der da ist („Ich-bin-da“) und der in dieser Welt handelt. Das Volk Israel geht davon aus, dass es möglich ist, dass der letzte Grund allen Seins, also der Schöpfer des gesamten Universums, anfängt, sich selbst zu zeigen und den Menschen anzusprechen. Das Sein und das Absolute haben sich schon immer ausgedrückt in dem Seienden, in den Dingen und den Ereignissen der Welt. Das Neue aber ist, dass jetzt nicht mehr nur das Sein im Seienden „spricht“, sondern dass der Grund von allem, der Schöpfergott selbst, der allem Sein zugrunde liegt, anfängt zu sprechen und zu handeln. Er ruft das Volk und einzelne Menschen in einen besonderen Dienst (Abraham, Moses, die Propheten).
Jahwe tritt aus seinem Versteck heraus und erweist seine Macht gegenüber allen anderen Göttern und Völkern durch seine Befreiungstat. Besonders dieses machtvolle Handeln überzeugt das Volk, dass hier Gott selbst am Werk sein muss. Daher sprechen auch alle Befreiungsgeschichten (Auszug aus Ägypten, Durchzug durchs Rote Meer) von der gewaltigen Befreiungstat Gottes, die gewalttätig klingt: Die Ägypter werden total vernichtet. (Ex 14, 26–31) So ist zwar das Alte Testament von Menschen aufgeschrieben worden, aber ihre Erfahrung ist für sie nicht anders zu interpretieren als durch das machtvolle Handeln Gottes.
Es wurde schon erwähnt, dass im Hebräischen das Sprechen und Handeln sehr nahe beieinander liegen. Das hebräische Wort „dabar“ für „Wort“ und „Sprechen“ ist sehr viel wirklichkeitsnäher als das griechische Pendant, Logos. Logos ist eher abstrakt und wirklichkeitsfern während „dabar“ geradezu Wirklichkeit schafft, und daher heißt es im Buch Genesis: „Gott sprach, es werde Licht! Und es wurde Licht.“ (Gen 1, 3) Das Sprechen Gottes schafft Wirklichkeit. Die Erfahrung des Volkes Israel ist eben das Sprechen, Handeln und Wirken Gottes. Gott wirkt mit Macht, er ist wirklich. Und so ist es nur zu verständlich, dass Gott auch der „Bewirker“, der Schöpfer der Welt ist. Er erschafft die Welt aus dem Nichts durch sein Wort. Gottes Sprechen ist Handeln, und dies bewirkt eine Initialzündung, sodass die Welt sich dann von selbst weiterentwickeln kann.19
Gott spricht und das Ganze wird. Er gibt sein Vermögen an die Welt weiter, sodass die Welt aus sich selbst heraus werden und sich selbst übersteigen kann. Dieser Werdeprozess ist Ausdruck der großen Wirk-, Entwicklungs- und Entfaltungskraft des Göttlichen. Jahwe setzt etwas in Gang, was dann alles Weitere aus sich selbst heraus entlässt und von selbst weiterentwickeln kann. Das „von selbst“ ist fast ein göttliches Prinzip. Die Welt entwickelt sich von selbst evolutiv weiter, die Sonne scheint von selbst, die Embryonalentwicklung geht von selbst, das Herz schlägt von selbst und vieles mehr. Gott ist der Schöpfer dieses riesigen Kosmos, der sich nach wie vor ausdehnt und weiterentwickelt.
An diesem Wort, Sprechen und Handeln des Schöpfers, an seinem Logos hat die menschliche Vernunft Anteil. Logos ist nicht nur Wort, sondern auch Ur-Vernunft, Ur-Wort, Ur-Sinn. Dieser Logos liegt der Welt voraus, er liegt ihr zugrunde und findet sich in allem: in den Gesetzen der Natur, in der Logik der Vernunft, im Sprechen des Menschen, sogar in den Begriffen der verschiedenen Sprachen. Da dieser Logos dem Menschen und der Natur innewohnt, kann der Mensch die Logik der Sprache und des Denkens verstehen lernen, er kann die Logik der Welt mit ihren Naturgesetzen schrittweise begreifen, er kann Naturwissenschaft betreiben und so die Logik der Welt immer besser verstehen. Er kann den Logos aber nicht nur im Denken, in der Welt und ihren Gesetzen finden, sondern auch tief in seinem Inneren als das innere Wort (Gadamer) und den Seelengrund in sich, den er als die Stimme Gottes identifizieren kann. Der Mensch soll an diesem Logos, der in allem zu finden ist, sein Maß nehmen. Von ihm her soll er seinen eigenen Sinn finden.
Wenn der Schöpfergott mit seinem Logos die Welt erschafft und sie durch diesen Logos im Sein erhält, dann ist dieser Gott keiner, der ständig wie ein Baumeister an der Entwicklung von Tieren oder Pflanzen herumbastelt oder sich Naturgesetze ausdenkt und diese dann in der Welt umsetzt. Wenn Gott der Schöpfer ist, dann ist mit seinem Logos im Schöpfungsakt und in jedem Moment alles gegeben: die Möglichkeit zur Expansion des Kosmos, die Entstehung von Leben und menschlichem Geist, die evolutive Entwicklung der Welt, die Naturgesetze, schließlich alles, was diesen Kosmos ausmacht und im Innersten zusammenhält. Gott ist nicht jemand, der im Laufe der Zeit an der Welt herumkorrigiert.
Es heißt ausdrücklich „Im Anfang (Herv. v. Verf.) war der Logos und der Logos war bei Gott, und der Logos war Gott“ (Joh 1, 1) und nicht „Am Anfang“. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, heißt es bei Herrmann Hesse, also ist der Logos in allem Anfanghaften und in allem Ursprünglichen und Anwesenden „da“ und gegenwärtig. Der Schöpfergott schafft alles aus diesem Logos heraus und hält alles im Sein. Er ist der Ursprung schlechthin, aus dem alles je neu ursprünglich aufspringt. Man spricht auch von der „creatio continua“, von der kontinuierlichen Schöpfung, die in der „creatio ex nihilo“, in der Schöpfung aus dem Nichts, schon grundgelegt ist.
Diese Schöpfung aus dem Nichts wird im Buch Genesis als ein Sechs-Tage-Werk geschildert. (Gen 1, 1–31) Man darf sich das wohl nicht so vorstellen, dass Gott die Welt in sechs Tagen aus Einzelteilen zusammensetzt, dass er jeden Stern einzeln und die Sonne und den Mond und jedes einzelne Tier erschafft. Aus dem Vielen wird durch Zusammensetzung keine Einheit, sondern umgekehrt: Die Vielheit entfaltet sich aus dem Einen. So ist wohl mit der Schöpfungsgeschichte eher ein kontinuierlicher Werdeprozess und Entfaltungsprozess gemeint. Insofern ist der Gedanke der Schöpfung durchaus mit dem Gedanken einer evolutiven Entwicklung der Welt zu vereinbaren.
Allerdings kann die naturwissenschaftliche Theorie, die diese evolutive Entwicklung verstehen helfen will – wie im Kapitel über Christentum und Naturwissenschaften näher ausgeführt wird –, zwei Übergänge kaum erklären: den Übergang vom Unbelebten zum Belebten und vom tierischen Bereich hin zum menschlichen Geist. Theologisch kann man es sich hier leicht machen und sagen: Wenn sich aus dem Unbelebten etwas Belebtes entwickelt und vom Belebten eine Entwicklung hin zum menschlichen Geist stattfindet, dann muss beides schon von Anfang an in der Schöpfung verborgen da gewesen sein, das sich dann evolutiv herausbildet. Es fragt sich nämlich, wo und wie das wirklich Neue entsteht, also die lebendige Pflanze aus unbelebter Materie und der menschliche Geist aus dem Tier. Rein innerweltlich stellt sich die Frage, ob sich das Leben aus der unbelebten Materie herausentwickeln kann und ob der menschliche Geist aus dem Tier entsteht? Das Phänomen der Evolution mit dem Entstehen von Neuem, des Belebten aus Unbelebtem und des Geistes aus Nicht-Geistigem wird mit dem Begriff der Emergenz belegt. Dazu mehr im Kapitel über Christentum und Naturwissenschaft.
Aristoteles verwendet für die Entfaltungsdynamik des Lebendigen den Begriff der Selbstbewegung. Er hat diese Vorstellungen in seiner Physik entwickelt (von „Physis“, „Natur“). Er sah, dass alles Lebendige in der Welt sich verändert und dass Veränderung ein Phänomen von Raum und Zeit ist. Auf der Suche nach dem letzten Grund schloss er, dass es hinter allem Veränderlichen einen letzten Grund geben müsse, der selbst nicht veränderlich ist. Dieser Grund ist jenseits von Raum und Zeit und somit der Veränderung nicht unterworfen. So kam er auf den unbewegten Beweger als den letzten Grund des Seins. Das klingt aus seiner Perspektive plausibel. Von einem Schöpfergott im hier beschriebenen Sinn wusste er wohl nichts.
Das Judentum geht mit der Konzeption des Schöpfers und der Schöpfung, die in der Lage ist zur aktiven Selbstentfaltung, Selbstbewegung und Selbsttranszendenz (Selbstüberstieg) des Lebendigen, wohl darüber hinaus. Das Göttliche ist von hier aus nicht der unbewegte Beweger, sondern – so könnte man sagen –, der aus sich selbst heraus seiende Schöpfer, der sich aus sich selbst heraus versteht und insofern selbst-verständlich ist, der das Leben anstößt und im Leben etwas anstößt, das dann „von selbst“ weiter werden kann.
So kann man die Gottesvorstellungen des Volkes Israel wie folgt zusammenfassen: Der Grund allen Seins, der die Dinge überhaupt erst zu dem macht, was sie sind, zeigt sich nicht nur in den Dingen, sondern er tritt explizit aus sich selbst heraus und beginnt zu sprechen. Das ist ein Paradigmenwechsel in der Weltgeschichte. War der Mensch bisher von sich aus auf der Suche nach dem letzten Grund und den innersten Zusammenhängen der Welt, beginnt nun dieser letzte Grund sich selbst als eine Person zu zeigen. Er kommt dem Menschen „von drüben“ entgegen. Er geht auf den Menschen zu. Sein Wirken wird aufgeschrieben im Alten Testament in menschlichen Worten. Und dieses machtvolle Wirken ist Indiz seiner Existenz und seines wirklichen und wirkenden Da-seins. Das „Ich-bin-Da“ ist eine Bezeugung seines eigenen Daseins. Aber dieses Dasein Gottes, nach dem die Menschen so lange gesucht haben, ist nicht so „da“ wie ein Ding, sondern eher in der Weise des Vorübergangs, des unerkannten und oft auch unbemerkten innerweltlichen und innerseelischen Wirkens, des indirekten Anwesend-Seins.
Die Schriften des Alten Testamentes entstanden über viele Jahrhunderte. Es sind Erfahrungen von Menschen mit einer anderen Dimension des Seins, mit Erfahrungen, die sie rein innerweltlich nicht erklären können und die sie ihrem Gott zuschreiben. Das Aufgeschriebene ist nicht mehr nur Wort des Menschen, sondern ein von der Erfahrung göttlichen Handelns inspiriertes Menschenwort. So stammen die Antworten auf die Fragen des Menschen nicht mehr nur aus seinen eigenen Überlegungen, sondern vom Schöpfergott selbst. Die unglaubliche Größe und unfassbare Dimension der Schöpfung20 und des Schöpfergottes kommen auf den Menschen zu. Es mussten womöglich erst einige Milliarden Jahre vergehen, bis der Mensch das aushalten konnte. Er selbst, der Mensch, kam vor ca. zweihunderttausend Jahren auf diese Welt. Erst vor 3500 Jahren war er so weit evolutiv herangereift, dass er dieses Sprechen und die beginnende Nähe Gottes aushalten konnte.
Noch im Alten Testament heißt es: „Wer Gott sieht, stirbt.“21 Moses (1250 v. Chr.) hat Gott nur schemenhaft gesehen. Er fragt Gott nach seinem Namen, und es wird ihm gesagt, er solle dem Volk sagen, dass der Name des unbekannten Absoluten ist: „Ich-bin-da.“ (Ex 3, 13–20) Dies ist eigentlich eine philosophische Antwort. „Ich-bin-da“ heißt einfach ausgedrückt: Es gibt mich. Ihr Menschen habt so lange nach mir gesucht, und nun zeige ich mich und offenbare der Welt, dass es mich gibt. Mit dieser Selbstoffenbarung tritt Gott erstmals in der Geschichte an die Öffentlichkeit und offenbart sich selbst als Da-sein.
Der Mensch beginnt seinerseits langsam, sich auf diesen personalen Gott einzulassen. Erst jetzt kann der Mensch offenbar diese „Direktheit“ Gottes ertragen. Der Mensch hat Gott gesucht, und Gott lässt sich finden, indem er seinen Namen preisgibt. Es findet ein dialogisches Geschehen statt: Der Mensch sucht und findet Gott, Gott gibt sich zu erkennen und der Mensch beginnt, sich auf diesen personalen Gott einzulassen. Der Gott führt sein Volk durch die Wüste in die Freiheit, aber das Volk versteht nicht genau, was Gott von ihm will, es murrt. Da entschließt sich Gott – wenn man das so menschlich sagen darf –, sich noch genauer der Welt zu zeigen: Er wird Mensch. Man kann es auch philosophischer ausdrücken: Das Göttliche verdichtet sich in dieser Welt und zeigt, was es ist: menschlich. Das Dasein wird zum So-sein. Und das heißt im Umkehrschluss: Das Menschliche muss vergöttlicht werden, damit es wirklich menschlich wird. Das allein Menschliche steht in der Gefahr, hinter dem Menschlichen zurückzubleiben.