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MEIDEN SIE ZUKUNFTSBESOFFENHEIT UND DEN ZUKUNFTSZEIGEFINGER
ОглавлениеIn den wilden Turbo-Zeiten der »New Economy« wurde ein Spiel Mode, das wir für die nächste Zukunftsübung gut verwenden können: Bullshit Bingo.
Bullshit Bingo war eine ironische Antwort auf die Angeberkultur des »New Business Speak«. Immer, wenn ein Redner auf einer der unzähligen Business-Konferenzen wundersame Modewörter wie »Power Selling« oder »Equity Power« benutzte. Nach zehn dieser Wörter in zehn Minuten stand man (besser eine Gruppe) auf und brüllte lautstark: Bullshit!
Ich möchte Ihnen vorschlagen, in jeder Zukunftsdebatte, in der folgende Sätze mehr als einmal fallen, aufzustehen und lautstark Bullshit! zu brüllen:
Alles wird immer schneller!
In einer Zeit, in der sich der technische Fortschritt unaufhörlich beschleunigt…
Angesichts immer schnellerer Veränderungen in unserer Welt, unvorstellbarer neuer technischer Möglichkeiten und ihrer überstürzenden Wirkungen auf die gewachsenen Strukturen … (Klaus von Dohnányi)
Das menschliche Wissen verdoppelt sich alle fünf Jahre …
Die Halbwertszeit des Wissens wird unaufhörlich kürzer …
Wir müssen uns der immer schnelleren Veränderung schleunigst anpassen …
Wir können uns nicht mehr leisten, dieser rasenden Entwicklung hinterherzuhinken …
Etc. …
Als Gegenspieler der Apokalyptiker haben auch die Apologeten des Übertechnischen, die »Techno-Transzendentalisten«, eine lukrative Marktnische gefunden. Ray Kurzweil etwa, der Handelsvertreter der künstlichen Intelligenz, prophezeit uns seit vielen Jahren denkende Computer und die Überflüssigkeit des Menschen, virtuellen Sex an jeder Ecke und nanotechnische Glückseligkeit. Der US-Futurist John Brockman lässt in seinem neuen Buch Die nächsten fünfzig Jahre21 die guten alten Techno-Märchen der 60er wieder aufleben: Intelligenz, so eine These, wird in 50 Jahren nicht mehr nötig sein, denn es ist dann möglich, dass man jede Frage laut ausspricht, und von dem mit Supertechnologie ausgestatteten Wänden schallt einem sofort die Antwort entgegen.
Das geht bei jeder Großveranstaltung und Fernsehsendung runter wie Öl – denn wer hätte keine Lust, vollkommen blöd mit intelligenten Wänden zu sprechen? Deshalb haben die Techno-Tranzendentalisten stets volle Säle. Niclas Negroponte unterhält uns seit vielen Jahren mit der »großen digitalen Erlösung« (er macht das wirklich gut, ganz ohne Sarkasmus!). Der fröhliche Japaner Michael Kaku schreibt, so wie fröhliche, technikfreundliche Japaner das eben tun, über die »spektakulären Techniken von morgen«. Sein Kollege Jeremy Rifkin wäscht uns abwechselnd mit Wasserstoffrevolutionen und dem »Ende der Arbeit« (diesmal aber endgültig!) den Kopf. Ein fröhliches Ensemble des Zukunftsentertainments.
Die »Technotopisten« markieren das andere Extrem des möglichen Zukunftsdenkens. In ihnen spiegelt sich die gute, alte Jungs-Kinderzimmer-Mentalität unserer Jugend: Wir basteln uns einen Materie-Transmitter! Mister Spock, Perry Rhodan, der Mausbiber Gucky und Gary Glitter versammeln sich auf der Bettkante der futuristischen Träume. Von allzu viel Komplexität oder gar so unerfreulichen Dingen wie sozialen Realitäten, naturwissenschaftlichen Grenzen oder technologischen Barrieren lassen wir uns dabei nicht ablenken!
Der ständig sich beschleunigende technische Fortschritt… Wo ist er? Wo sind die sensationellen Erfindungen geblieben? Die kalten Fusionen, bahnbrechenden Krebsmittel, Exorbitalstationen? Wo sind die Reparatur-U-Boote in unseren Adern, die Gen-designten Medikamente zur Heilung von Krebs, die Durchbrüche bei der Transplantationsmedizin (das organische Zweitohr)? Verdoppelt sich »das Wissen« tatsächlich alle fünf Jahre? Wie misst man das? Wer definiert, was »Wissen« ist und was nur ein Informationsdetail?22
Technologie braucht Zeit, manchmal sehr viel Zeit. Der technische Fortschritt hat eine klar erkennbare Rhythmik von Durchbruchsphasen und Verdauungsphasen, die den Prozess wieder entschleunigen. Die gigantischen Investitionen in die Finessen des Verbrennungsmotors, das Straßennetz (die teuerste Infrastruktur-Investition, die die Menschheit je getätigt hat). Technologische Revolutionen brauchen Lernprozesse – es hat siebzig Jahre gedauert, bis die europäische Bevölkerung so gut Auto fahren konnte, dass der Blutzoll auf den Straßen auf ein erträgliches Maß sank (die Auto-Techniker hatten natürlich auch Anteil an diesem Prozess). Wir werden noch viele, viele Jahre brauchen, bis Computer tatsächlich unsere kleinen Alltagsfreunde sind. Dem »rasenden Fortschritt« steht eine ständige Gegenkraft der Verlangsamung gegenüber. Dazu gehört die störrische Verweigerung der Menschen, sein Beharren auf analogen, körperlich-animalischen Verhaltensformen. Dazu gehören Gewohnheiten. Faulheiten. Das Vergessen. Diese »limits of speed« sind in Wirklichkeit jedoch keine Hemmnisse, sondern höchst sinnvolle Regulationsmechanismen.
Das 20. Jahrhundert war in vieler Hinsicht eine weitaus schnellere Ära als unsere: Flugzeug, Auto, Telefon, Radio, Penicillin, Atombombe – die Durchbruchserfindungen häuften sich innerhalb weniger Jahrzehnte. In seinem Buch The End of Science hat der US-Wissenschaftler John Horgan vor einigen Jahren einen radikalen Standpunkt eingenommen: Der Fortschritt ist vorbei. Die »big plums«, die wichtigsten Erfindungen und Entdeckungen, so Horgan, sind gemacht. Der Rest ist Feinkram, mühsame Verbesserung, Detailarbeit, Lückenfüllen, Komplettierung, Cross-Referencing. Und unbedeutende, aber unglaublich aufwendige Fragen wie die, ob wir in einem zwölf- oder einem 18-String-Wurmlochuniversum wohnen …
Man muss Horgan nicht Recht geben. Aber man kann konzedieren: Wir lernen erst ganz, ganz langsam, wie der Code des Lebens funktioniert. Wir sind noch unendlich weit weg von einer wirklichen »Biotechnologie«. Wir sind in den sensationellen Technologien, die uns in der Jahrtausendwende-Euphorie des Jahres 2000 versprochen wurden, noch blutige Anfänger!
Die Explosion des menschlichen Wissens: Während die Zahl der Bits und Bytes, die in den planetaren Datennetzen kursieren, sich tatsächlich etwa alle fünf Jahre verdoppelt (Kontobewegungen, unsinnige Mails, Fußnoten von wissenschaftlichen Traktaten ohne Ende), ist »Wissen« eine viel zu kostbare Kategorie, als dass sie einfach »explodieren« könnte (welch absurdes Bild!). »Die Welt ist kein informelles System, sondern ein sinnvoller Text«, schrieb Steve Talbott in Was kommt nach der Informationsgesellschaft?23 Wissen ist analog, es läuft nur auf menschlicher Hardware, und diese verhält sich noch weitaus komplexer als unser Firmen-Server!
Besonders schwierig wird die Lage, wenn sich die Idee des Turbo-Fortschritts mit dem mahnenden Zeigefinger verbindet: Bei Strafe des Untergangs sollen wir uns nun alle – ja was denn? Verkabeln lassen? Unbedingt fortschrittsfreundlicher werden? Alles Neue bejahen? Menschen ändern sich aber nicht durch Drohungen, sondern nur, wenn sie neue Optionen erleben können! Und ihre Skepsis ist in vielen Fällen durchaus berechtigt!
Mit ein bisschen Humor können wir die Techno-Propheten durchaus richtig einordnen – und unseren Spaß mit ihnen haben. Nehmen wir zum Beispiel Walter Wacker. Er ist einer jener glühenden Botschafter aus dem Lande Technotopia, die Bücher über die kommenden 5000 Jahre Technologie schreiben – und er kann reden wie ein Motivationstrainer. Aber er ist auch noch witzig und ein Künstler der rhetorischen Dialektik. Auf einem Kongress sagte er neulich:
»Ich bin Futurologe, und ich denke mir diese ganzen Dinge natürlich aus […] Das einzige, was ich mit allergrößter Sicherheit weiß, ist, dass ein Optimist eine gute Zukunft haben wird und ein Pessimist eine schlechte«.24
Solange derlei offen ausgedrückt wird, besteht wenig Anlass, sich Sorgen zu machen. Nur sollten wir von unseren Herren und Damen der Übertechnik-Front nicht allzu viele Antworten auf die Frage erwarten, wie Zukunft aussehen wird.
NÜTZLICHE ZUKUNFTSFORMEL
Zukunft ist nicht Beschleunigung
Zukunft ist Evolution
Weshalb ist dies für die Frage der Future Fitness so wichtig? Zukunftskompetenz kann nur entstehen, wenn wir nicht ständig atemlos »den Trends« oder »der Beschleunigung« hinterherlaufen müssen. Nur wenn man überhaupt die Chance hat, Veränderungen in menschenmöglichem Zeitmaß zu beeinflussen, kann überhaupt so etwas wie gestaltete und bewältigte Zukunft entstehen.
Und darum geht es!