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ÜBERWINDEN SIE DEN ZUKUNFTSZYNISMUS
Оглавление»Ich weiß buchstäblich nicht, was die Leute damit meinen, wenn sie sagen, man muss nach vorne sehen, um zu wissen, wohin wir gehen. Worauf sollen wir denn blicken? In der Zukunft gibt es für uns noch nichts zu sehen. Nach-vorne-Blicken kann doch nur bedeuten, dass wir in unserer Vergangenheit nützliche und humane Ideen suchen, mit denen wir die Zukunft gestalten können.«3 So formulierte es vor kurzem der Medienkritiker Neil Postman. Noch trockener sagte es unser geliebter Karl Popper:
»We can know nothing about the future, otherwise we would know it!«
Zukunfts-Zynismus – also die Leugnung, dass die Auseinandersetzung mit Zukunft überhaupt einen Sinn machen kann – ist ein beliebter Freizeitsport, und er kann sich auf die Zitate kluger Männer berufen. Nichts ist leichter, als sich schenkelklopfend über die Unmöglichkeit jeder Prognose zu verständigen: Hoho – alles Unsinn – wenn nicht einmal die Wetterfrösche uns den Regenschauer von heute Nachmittag vorhersagen können!
Fallen wir also ruhig einmal ein in den Chor der Zukunftszyniker. Dabei brauchen wir noch nicht einmal die allbekannten Fehlprognosen-Bonmots zu bemühen, die heute jede zweite Rede schmücken (Dauerbrenner: die Prognose des »IBM«-Chefs Thomas Watson aus den 40er Jahren: »Es gibt einen Weltmarkt für vier Computer!«).4
Im Jahre 1910 wagte ein Dutzend abendländischer Publizisten und Denker aus dem deutschsprachigen Raum das ehrgeizige Projekt einer 100-Jahre-Voraussage. Sie erschien in Buchform unter dem Titel Die Welt in 100 Jahren in Berlin: 24 Kapitel über die Zukunft der Frauen, des Verkehrs, der guten Sitten, des Theaters und so fort. Hier einige Schlüsselzitate:
»Es gibt mancherlei, was wir trotz unserer Unzulänglichkeit voraussagen können. Zum Beispiel, dass das menschliche Vorwärtsstreben von jetzt ab weit schneller vonstatten gehen wird. In den kommenden Gärten werden Johannisbeeren wachsen so groß wie Damascenerpflaumen, Äpfel so groß wie Melonen […] Obwohl jede Ortschaft ihr Theater hat, wird man nur in New York und Paris Theater spielen und dies mittels Fernharmonium auf den Schirm in alle Welt übertragen. […] Nachts wird die Luft von Millionen Lichtern erhellt, und im tausendjährigen Reich der Maschine gleicht die Kriegsführung einem Schachturnier. Die Steppen Amerikas, die Dschungel Indiens, die Gletscherfirnisse der Alpen werden mit bunten, gen Himmel schreienden Plakaten bedeckt sein. Die Zahl der Wahnsinnigen wird irre steigen, das Verbrechen zur Domäne der Frauen geworden sein, die beiden großen Bewegungen der Neuzeit, die Frauen- und die Arbeiterbewegung haben ihre Ziele erreicht, u.a. durch die Mittel, die Menschheit ohne Elternschaft fortzupflanzen.«
Das scheint wie wilder Unsinn, gemischt mit zeitüblichem Pathos. Allerdings: Wenn man genauer liest, finden sich einige erstaunliche Erkenntnisse. Und im Kapitel »Die Kommunikation der Zukunft« wurde so gut wie alles präzise vorausgesagt, was unsere heutige Kommunikationswelt ausmacht:
»Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem ›Empfänger‹ herumgehen, der irgendwo, im Hut oder anderswo angebracht, auf eine der Myriaden von Vibrationen eingestellt sein wird. Der Empfänger wird trotz seiner Kompliziertheit ein Wunder der Kleinmechanik sein. Konzerte und Direktiven, ja alle Kunstgenüsse und das Wissen der Erde werden drahtlos übertragen sein. Monarchen, Kanzler, Diplomaten, Bankiers, Beamte und Direktoren werden ihre Geschäfte erledigen und ihre Unterschriften geben können, wo immer sie sind, sie werden eine legale Versammlung abhalten, wenn der eine auf der Spitze des Himalaya, der andere an einem Badeorte ist…«5
Grasen wir weiter auf der fruchtbaren Weide der Zukunftsirrtümer: Hermann Kahn, der wohl berühmteste US-Zukunftsforscher der 60er und 70er Jahre, ein Zwei-Zentner-Mann mit massivem Sendungsbewusstsein (er erfand zum Beispiel die »doomsday machine«, die Stanley Kubricks Film »Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben« inspirierte), machte 1968 in seinem berühmten Werk Ihr werdet es erleben6 zusammen mit Anthony J. Wiener, unter anderem folgende technische Prognosen für das Jahr 2000:
Wirksame Appetits- und Gewichtskontrolle; kein Mensch muss mehr wiegen, als er will,
»Winterschlaf« zu Erholungs- und Therapiezwecken auch beim Menschen,
Riesenunterseeboote für Massenguttransporte,
Verlässliche Wettervorhersagen und Beeinflussung des Wetters durch den Menschen,
Privatflugzeuge für jedermann.
Auch hier kann man mühelos die Formel »Der Wunsch ist der Vater aller Prognosen« erkennen. Doch diese sieben Fehltreffer sind lediglich ein kleiner Ausschnitt aus insgesamt 100 (!) Technik-Voraussagen Kahns, von denen die anderen 93 durchaus unser heutiges technisches Environment beschreiben. Zum Beispiel sahen Kahn und Wiener voraus:
den Boom der Bankautomaten,
den Siegeszug der Videorekorder,
die GPS-Ortungssysteme,
Hochgeschwindigkeitszüge.
Und wie steht es mit den »Trendbrüchen«, mit den völlig unerwarteten Ereignissen der Weltgeschichte? »A trend is a trend is a trend. But the question is: will it bend?« Wie es Alec Cairncross, Chefökonom der britischen Regierung, nach dem Krieg formulierte, lauern hier die wahren Fallen für die Zukunftsschau.
»Ich zweifle nicht daran, dass die Sowjetunion, dieses riesige ostslawische Imperium in die Endphase ihrer Existenz eingetreten ist«, schrieb der Dissident Andrej Amalrik in einem Essay des Jahres 1982.7 »Zehn Jahre, nicht länger, wird dieses tönerne Imperium noch dauern, bevor es zu Staub zerfällt.« Prophetische Sätze. Aber wer wollte in der Hochphase des Kalten Krieges hören? Wir alle hatten uns in der bipolaren Welt des Kalten Krieges gemütlich eingerichtet – im Osten wie im Westen.
14 Jahre vor dem Untergang der Titanic, 1898, erschien ein Buch des Autors Morgan Robertson mit dem Titel Wreck of the Titan. In diesem Buch kollidiert ein 75 000-Bruttoregistertonnen-Ozeanriese auf seiner Jungfernfahrt mit einem Eisberg und sinkt, mehr als die Hälfte der 3000 Passagiere ertrinken.8
H.G. Wells, der Autor der Zeitmaschine, hat nicht nur Romane, sondern auch ein ernstes Prognosebuch geschrieben. In The Shape of Things to Come von 1933 sah er einige geschichtliche Entwicklungen, wie den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, den Zweiten Weltkrieg, den Luftkrieg, präzise voraus. 1933 wollte niemand das Buch lesen.9
2000 erschien das Buch Die kommende Internet-Depression.10 Eine sehr genaue Analyse der Mechanismen, mit der die Technologieblase die Weltwirtschaft für fünf bis zehn Jahre in den Keller ziehen wird … Soll ich daraus zitieren? Lieber nicht. Es ist zu deprimierend, weil es zu wahr geworden ist!
Selbst die Terror-Attentate vom 11. September 2001, in ihrem Wesen geradezu prototypische »Trendbruch-Events«, blieben keineswegs unvorhergesagt. Im Jahre 1998 erschien der Politthriller Ausnahmezustand, der mit Denzel Washington und Bruce Willis verfilmt wurde. Plot: 2000 Tote durch islamistische Terror-Attentate in New York. Im Juni 1999 (!!!!) erschien in der amerikanischen Zukunftszeitung The Futurist folgender Text:
»Der kommende Superterrorismus (Superterrorism: Assassins, Mobsters, and Weapons of Mass Destruction)
Die Natur des Terrorismus wandelt sich: Während ›billige‹ Bombenattentate und Geiselnahmen für Jahrzehnte auf der Tagesordnung standen, werden nun hochtechnologische Angriffe auf ganze Länder, Attacken auf große Bevölkerungsgruppen und die Infrastruktur ganzer Staaten wahrscheinlicher. Die USA werden langsam, aber sicher auch auf ihrem eigenen Territorium ein Ziel. Senator Bill Frith, ein Mediziner aus Tennessee, sagte bereits vor kurzem voraus, dass eine chemische oder biologische Attacke auf den Kongress in den nächsten fünf Jahren nicht unwahrscheinlich ist. Senator John Glenn äußerte die Hoffnung, dass es keines katastrophischen Anschlags bedarf, um die Konsequenzen aufzuzeigen.
Die kommende lange Schlacht wird wie folgt aussehen:
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann der Superterrorismus die Zivilisation, so wie wir sie kennen, ernsthaft beschädigen oder ausrotten.
Während der Kalte Krieg fünfzig Jahre dauerte, sollten wir uns auf eine viel längere Schlacht gegen den Superterrorismus vorbereiten.
Man kann unmöglich alle Ursachen für den Terrorismus – etwa Armut in der Dritten Welt – vollständig beseitigen. Die Auseinandersetzung mit diesen Problemen kann jedoch das Ausmaß der Bedrohung reduzieren.
Keine einzelne Regierung kann die kommenden Herausforderungen alleine meistern – eine neue Ära internationaler Zusammenarbeit steht bevor.
Die Grundrechte sind ein wichtiges Rückgrat unserer Gesellschaft, müssen aber der neuen Gefahrenlage angepasst werden.«
Popper hat Unrecht. Und dennoch Recht: Was »wir« über die Zukunft wissen, ist in der Tat oft spärlich. Aber nicht, weil es keine Möglichkeit der Prognose gibt, sondern weil »wir« davon keine Kenntnis nehmen. In der Geschichte gab es keine Erscheinung, keine Evolution, keine Technologie, die nicht von sensiblen Geistern oder analytischen Denkern vorhergesehen und beschrieben wurde. Das Problem nur: Es hörte ihnen keiner zu!
Woran liegt das? Prognosen sind, wie vieles andere auch, eine Frage des Angebots und der Nachfrage. Ihr Markt wird von komplexen Faktoren wie Zeitgeist-Strömungen und nicht zuletzt ökonomischen Interessen geprägt. Damit sieht sich der Prognostiker einem Geflecht von Widerständen, Erwartungen, »Zukunftsklischees« gegenüber. Prognosen, die öffentlich wahrgenommen werden, sind oft nichts anderes als die Bestätigungen von Erwartungshaltungen, kollektive Übereinkünfte über unsere kognitiven comfort zones.
WICHTIGE ZUKUNFTSFORMEL
Richtige Prognosen kauft einem (meistens) keiner ab!
Es könnte aber eigentlich alles ganz einfach sein: Wir müssen lediglich die richtigen Zukunftsseher heraussuchen – und die Scharlatane, die Opportunisten und Ideologen aussortieren. Die Zukunftsspreu vom Weizen trennen!