Читать книгу Chris Owen - Die Wiedergeburt - Matthias Kluger - Страница 37
Kapitel 31: Er liest
ОглавлениеWashington, D. C., 2022
Die Kinder waren Sandras Ein und Alles. Meira, jetzt knapp sieben Jahre alt, liebte es, in die Schule zu gehen, und widmete sich gewissenhaft ihren Hausaufgaben. Verspielt malte sie bunte Blumen um die noch krakelig geschriebenen Worte oder seitlich der »Einmaleins«-Rechenaufgaben.
Wenn es um Chris ging, so vergötterte sie ihn ebenso wie der Rest der Familie. Zum einen lag dies unzweifelhaft an der äußeren Erscheinung. Die helle, wolkenfarbige Haut wie auch die sanft blickenden, klaren Augen glichen der Gestalt eines Engels. Zum anderen beeindruckte sein erstaunlicher Entwicklungsverlauf. Bereits mit einem Jahr lief er ungehalten zwischen den Beinen seiner Mutter umher; im Alter von zwei Jahren entwickelte sich sein anfängliches Geplapper zu sauber geformten Worten. Als er vier Jahre alt war, fiel Sandra auf, dass er die aus dem Bücherschrank gezogenen Romane nicht einfach nur betrachtete, nein, er schien völlig geistesabwesend, während die roten Augen flink über die Seiten huschten. Die seinem Alter entsprechenden Bilderbücher blieben unangetastet.
Dann, im zarten Lebensalter von fünf, hörte sie ihn. Gemeinsam mit seiner Schwester saß Chris auf der Kinderschaukel im Garten. Meira hing sichtlich an den Lippen des Bruders und lauschte konzentriert, wie er soeben eine Passage aus einem Buch laut vorlas. Sandra erinnerte sich an den Inhalt, denn vor nicht allzu langer Zeit hatte sie selbst die Geschichte von Kunta Kinte, dem Sklaven aus Roots gelesen. Chris betonte sanft jede Wendung des Romans, wie Omoro seinem Sohn Kunta den Kummer nehmen wollte, da dessen Großmutter verstorben war. Omoro erklärte seinem Sohn, dass in jeder Dorfgemeinschaft drei Gruppen von Menschen lebten: Die erste Gruppe sei diejenige, die man sah, wie sie aß, umherlief, schlief und arbeitete. Die zweite Gruppe sei die der Vorfahren, zu denen nun auch die Großmutter Yaisa gegangen war. Als Kunta seinen Vater nach der dritten Gruppe fragte, lief es Sandra eiskalt den Rücken hinab. Chris sah zu seiner Schwester Meira und rezitierte liebevoll, dass die dritte Gruppe einer jeden Gemeinschaft jene sei, die darauf warte, wieder auf die Welt zu kommen.
Mit seitlich geneigtem Kopf lief Sandra auf die Schaukel zu, während sie dem Text lauschte. Chris’ Lippen formten indes Wort für Wort des Romans Roots, den sie, Sandra, von Olivia geschenkt bekommen hatte. Er enthielt eine handschriftliche Signatur ihrer Schwiegermutter mit den Worten: »Dieses Buch schenke ich dir von ganzem Herzen, im Andenken an deinen Mann und unseren wundervollen Sohn. Ich habe es jetzt endlich gekauft, nachdem ich beim ersten Versuch durch Magie davon abgehalten wurde.«
»Chris, was machst du da?«, flüsterte Sandra, da Chris, derart in die Lektüre vertieft, sie nicht zu bemerken schien.
»Ich lese Meira vor«, antwortete Chris anständig, so als ob dies das Normalste der Welt sei.
»Das kannst du nicht lesen.« Sandra wusste selbst nicht, wie sie ihren Satz interpretieren sollte. Das kannst du nicht lesen, weil … du in deinem Alter unmöglich lesen kannst; oder: Das kannst du nicht lesen, weil … es sich um keine Lektüre handelte, die ihr altersgerecht für ihn und Meira erschien. Vorerst entschied sie sich für letztere Version.
»Chris, das ist keine gute Geschichte für euch beide. Bitte gib mir das Buch!«
»Aber Mom, Roots ist spannend«, protestierte Chris, während er ihr dennoch brav das Buch entgegenhielt. Sandra griff danach.
»Wir unterhalten uns später darüber. Spielt doch noch ein wenig im Garten. Derweil helfe ich Grandma beim Abendessen.« Verwirrt ging Sandra zurück ins Haus.
»Schade«, meinte Meira. »Es hat mir wirklich gefallen.«
»Ich hab’s schon ganz gelesen«, erwiderte Chris. Er sah seine Schwester an, lächelte verschwörerisch und begann, diesmal ohne Buchvorlage, von Neuem zu rezitieren: »Der Regen hatte aufgehört …«
»Mami, Chris hat mir die Geschichte weitererzählt«, entfuhr es Meira eine Stunde später kauend am Esstisch, froh darüber, ihre Mutter ausgetrickst zu haben.
»Welche Geschichte?«, fragte Elias.
»Na, die aus dem Buch«, sagte Meira stolz.
»Was für ein Buch?«, wollte Elias wissen.
»Roots«, gab Sandra die Antwort.
»Roots?« Rachels Blick stellte tausend Fragen.
Elias lachte auf, während Chris scheinbar teilnahmslos in seinen Burger biss. »Klar, Chris liest Roots!«, prustete Elias.
Bevor Sandra antworten konnte, begann Chris frei – und wieder Wort für Wort, wie es geschrieben stand – vorzutragen, wie ein junges Mädchen der Dorfgemeinschaft in Afrika vor vielen Jahren verschwunden war und jeder der Dorfbewohner sanftmütig der klagenden Großmutter Mut machte, dass die Verschwundene sicher am nächsten Morgen zurückkommen würde.
»Was ist das?«, fragte Rachel; Elias hörte auf zu kauen.
»Roots«, war die lapidare Auskunft von Chris.
Sandra stand wortlos auf und holte das Buch aus dem Schrank. Wieder am Tisch, fing sie an darin zu blättern.
»Kapitel 19, Seite 75, zweiter Absatz«, half ihr Chris.
Alle Augen waren auf Sandra gerichtet, außer denen von Chris, der damit beschäftigt war, eine Handvoll Pommes in den Mund zu stopfen. »Könntest du das wiederholen?«, bat Sandra.
»Ich darf weitererzählen?«
»Ja, ja, mach weiter«, forderte Sandra ungeduldig.
Chris schloss die Augen und mit leiser Stimme trug er über Minuten hinweg die Passage aus Kapitel 19 des Romans vor. Die Stille am Tisch ließ den Vortrag wie eine Predigt wirken.
Blass im Gesicht, senkte Sandra den Roman. Dann sah sie zu Elias. »Wort für Wort«, murmelte sie.
Ihr Bruder beugte sich aus dem Rollstuhl zu ihr hinüber und griff nach den Seiten. »Chris, du willst mir doch nicht erzählen, dass du lesen kannst, darüber hinaus auswendig lernst?« Elias hörte sich ärgerlich, nein, eher verängstigt an, während sein Blick auf dem fünfjährigen Knirps ruhte. Dieser schien mit der allgemeinen Verwunderung nichts anfangen zu können, denn er aß genüsslich sein Lieblingsmenü weiter.