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Kapitel 34: Heimlichkeiten

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Obwohl gerade einmal sechs Jahre alt, begriff Chris vom ersten Augenblick an, worauf seine Mutter und die Lehrerin Miss Rudolph abzielten. Daran, dass er in seinem Alter sowohl fließend schreiben als auch lesen konnte, fand er nichts Außergewöhnliches. Ebenso empfand er sein künstlerisches Geschick als Normalität, auch wenn er erkannte, dass gleichaltrige Kinder wesentlich unsicherer und unpräziser vorgingen. Für ihn schien die Welt auf den Kopf gestellt. Betrachtete man ihn als bemerkenswertes Genie, so empfand er vielmehr die Menschen um sich herum als … eben untalentierter.

»Ich soll mich im Unterricht nicht vordrängeln, sondern zurückhalten?«

»Ja, genau so gehen wir vor«, sagte Miss Rudolph. »Sicher langweilst du dich bei dem, was ich deinen Mitschülern als Unterrichtsstoff vermitteln werde. Doch du musst dieses Gefühl verbergen und so tun, als ob du wie die anderen Schritt für Schritt dazulernst.«

»Dann werde ich mich verstellen. Wird bestimmt spaßig«, lächelte Chris seine Mutter an.

»Nachmittags treffen wir uns viermal die Woche hier; dann werden wir dein vorhandenes Wissen und Können weiter vertiefen. Du erhältst sozusagen Privatunterricht von mir.«

»Und keiner darf davon erfahren?«

»Keiner«, schaltete sich jetzt Sandra ein. »Außer der Familie und Daniela weiß niemand Bescheid.«

Dass seine Mutter die Lehrerin mit Vornamen ansprach, war ihm bisher entgangen. Chris gefiel der Vorschlag. Mit den anderen Kindern aus der Schule zu spielen, langweilte ihn. Ausgenommen Meira. Seine Schwester betrachtete ihn mit Stolz und er fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, die sie ihm entgegenbrachte, geschmeichelt. Stundenlang erzählte er ihr Geschichten, die er zuvor gelesen hatte. Wenn es indes darum ging, über diese Geschichten und deren Inhalte nachzudenken, sich darüber zu unterhalten, verebbte das Interesse der Schwester. Noch war sie nicht so weit, seinen Überlegungen zu folgen. Sicher würde es mit Miss Rudolph spannend werden. Zweifellos würde sie ihm dabei helfen können, Themen, an denen er scheiterte – was ihn teilweise grimmig stimmte –, so zu erklären, dass auch er sie verstand. Würde Miss Rudolph auch das andere, das »Ding«, deuten können? War sie in der Lage, ihm das in seinem Kopf zu erklären? Sollte er sich ihr überhaupt anvertrauen? Im Internet hatte er heimlich über Hannibal Lecter gelesen. War er bei dem, was sich ab und an in seinem Kopf abspielte, ebenso verrückt wie Hannibal? Würde man ihn auch wegsperren, sollte er sein Geheimnis preisgeben?

Chris Owen - Die Wiedergeburt

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