Читать книгу Schrecklich schön und weit und wild - Matthias Politycki - Страница 11

Länder abhaken

Оглавление

Am 14.1.2016 erhielt ich folgendes Rundmail von Dr. Black:

Liebe Freunde,

(…) 2015 war ein fantastisches Jahr für mich. Obwohl ich vollzeitig berufstätig war, ist es mir gelungen, allein im letzten Jahr ALLE SIEBEN KONTINENTE zu besuchen. Hier ist die beeindruckende Liste meiner Reisen:

January: ANTARCTICA, SOUTH AMERICA (Chile, Argentina, Uruguay)

February: NORTH AMERICA (California)

March: ASIA (Burma/Myanmar, Hong Kong)

April: New York

Mai: Mexico

June: EUROPE (Germany, Austria, Slovenia, Hungary, Slovakia, Poland, Ukraine, Romania, Bulgaria)

Juli: AFRICA (South Africa, Swaziland, Lesotho, Namibia, Botswana, Zambia, Zimbabwe)

August: Burning Man (not a continent, but like another planet)

September: Oregon Coast

October: Shocking, but I stayed at home in California – but it was full of festivals and parties

November: Mexico, Japan

December: OCEANIA/AUSTRALIA (Fiji – my 120th country, Australia)

27 Länder und sieben Kontinente in einem Jahr. Und nicht nur kurz mal reingeschaut bei einem Stop-Over oder so (außer Antarctica – nur fünf Tage), sondern volle Reisen, meist längere Auto-Touren.

Zur Zeit bin ich in Tasmanien, und es gelingt mir immer noch nicht, mich mal auszuruhen. Aber morgen soll das Wetter schlecht werden. Vielleicht werde ich mal ausschlafen. (…)

Dr. Black, der seit seiner Studienzeit in Kalifornien lebt und offensichtlich auch ständig zwischen seinen zwei Hauptsprachen hin und her »reist«, ist nicht der einzige, der Länder abhakt. Der jüngste Globetrotter, der bereits im Alter von 37 Jahren alle Länder der Erde bereist hat – der Norweger Gunnar Garfors –, hält einen weiteren Guinness-Weltrekord dafür, daß er im Jahr 2012 innerhalb eines einzigen Tages fünf Kontinente besucht hat. Zwei Jahre später der nächste Weltrekord: 19 Länder in 24 Stunden.21

Man nimmt es achselzuckend zur Kenntnis. Mit Reisen als dem Sich-Einlassen auf fremde Kulturen hat es nicht unbedingt zu tun. Aber auch Eric hat offensichtlich den Ehrgeiz, möglichst viel von der Welt zu sehen:

»Ich habe eine Landkarte in meinem Wohnzimmer, die mit einer dünnen Goldschicht belegt ist, man sieht nur die Ländergrenzen. Rubbelt man ein neu bereistes Land mit einer Münze frei, leuchtet es rot, grün oder gelb. Ist immer wieder ein schönes Gefühl.«

Auf eher skurrile Weise verfolgt auch Dschisaiki beim Reisen Ziele, die weit über die einzelne Fahrt hinausweisen: »Ich betreibe in aller Heimlichkeit das Projekt, alle Buchstaben des Alphabets nach bereisten Ländern ›abzuhaken‹, bin bei ca. 80 Prozent und warte auf Staatsgründungen mit Q, X und Y.«

Einer wie Achill weiß gar nicht mehr, wie viele Länder er mittlerweile bereist hat. Zumindest kann er mir sagen, daß er in 28 Wüsten war und dort etwa fünfeinhalb Jahre verbrachte. Ein Freund solcher Statistiken ist er nicht, aber: »Die Menge der bereisten Länder zeigt ja auch einen Erfahrungswert an, Quantität bürgt für Qualität der Erkenntnisse.«

Der Reisende ist das Gegenteil des Spezialisten. Seine Sehnsucht richtet sich aufs große Ganze, im Lauf seines Reiselebens wird er, darin dem Schriftsteller verwandt, bestenfalls Fachmann fürs Allgemeine. Er ist nicht so sehr Liebhaber eines bestimmten Landes, in das er bei jeder Gelegenheit zurückkehrt, als der Welt insgesamt. Potentiell fühlt er sich von allen 194 Ländern angezogen, die es offiziell derzeit gibt.22 Hinzu kommen 13 weitere Staaten, Nationen, Länder oder Territorien, bei denen die Staatseigenschaft umstritten ist.23 Sein Hauptproblem besteht darin, Zeit zu finden, all die Länder – ob Territorien oder Staaten – auch tatsächlich zu besuchen.

Jedenfalls möglichst viele davon. Wo sich der Tourist auf die Sehenswürdigkeiten eines Landes konzentriert, widmet sich der Reisende auch der Erforschung des Alltäglichen. Er vergleicht das Gesehene mit früheren Reisen, er bilanziert und wertet. In seinen stillsten Momenten sieht er den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, was als Vielfalt der Erscheinungen den Reiz des Reisens ausmacht, er sieht, wo er auch gerade sein mag, das Immergleiche, wiewohl in vielfältigster Ausprägung, und versteht es tiefer und umfassender, als hätte er’s nur in der Heimat gesehen: Menschliches, Allzumenschliches.

Das Geschäft des Reisenden hinter all seinen tagtäglichen Verrichtungen ist nichts weniger als praktische Philosophie. Er gewinnt seine Erkenntnisse nicht mithilfe von Logik, sondern von Empirie. Das erklärt, warum uns die Bücher von Reiseschriftstellern oft unmittelbarer berühren als die von Autoren, die ein Leben lang kaum etwas anderes gesehen haben als ihren eigenen Schreibtisch. Man nehme ein beliebiges Werk von Kipling, Krakauer, London, Chatwin – sogleich wird man gepackt von der Direktheit, mit der sie alle auf ihr Thema losgehen wie ein Matador auf den Stier: durchaus elegant und manchmal etwas selbstverliebt, aber vom ersten Moment an zielstrebig. Man spürt in jeder Zeile, daß sie Sujet und Figuren in ihrer innersten Logik begriffen haben und vollständig beherrschen. Ihre Welt- und Menschenkenntnis ist auf solch helle, transparente Weise in die Oberfläche ihrer Texte eingegangen, daß auch in die dunklen Abgründe darunter ungewöhnlich viel Licht fällt.

Neben dem Streben nach Erkenntnis gibt es vom Abenteurer- bis zum Bildungsbürgertum zahlreiche weitere Beweggründe, um in der Ferne nach Rekorden zu jagen und der Leidenschaft des Sammelns zu frönen: die »Seven Summits« besteigen, die jeweils höchsten Berge der sieben Kontinente, oder alle 14 Achttausender, die schönsten Metropolen der Welt besichtigen24 oder die schönsten Plätze der Welt,25 alle Weltmeere befahren oder alle Major-Six-Marathons laufen, ganze Länder oder Kontinente zu Fuß durchqueren …

Reflexhaft fragt man sich, welche Superlative man dagegen ins Feld führen könnte und was man selber abgehakt hat. Nun, ich habe … den saubersten Ort Asiens besucht: Mawlynnong im indischen Bundesstaat Meghalaya hat den Titel »Cleanest village in the whole of Asia« 2003 zugesprochen bekommen. Dahinter steckte zwar ursprünglich nur das Marketing-Magazin Discover India, der Titel hat sich nichtsdestoweniger durchgesetzt. Und am regenreichsten Ort der Welt war ich auch: Cherrapunjee, ebenfalls in Meghalaya, hält den Guinness-Rekord »The wettest place on earth«, allerdings für die jährliche bzw. monatliche Niederschlagsmenge im Jahr 1861. Der aktuelle Rekord wird von Mawsynram gehalten, das ganz in der Nähe liegt. Anders formuliert: Ich habe bei solchen Gesprächen nichts zu bieten.

Nach Erhalt des Mails von Dr. Black blieb mir nichts anderes übrig, als wenigstens nachzuzählen, wie viele Länder ich bereist hatte. Es war mir bis dato nicht in den Sinn gekommen und nun lediglich mithilfe meiner Braunen Bücher zu schaffen. Bald mußte ich darüber nachdenken, welches bereiste Land als Staat gelten durfte – vor allem im karibischen Raum und in der Südsee – oder ob die Staatsform eines Landes für den Reisenden nicht völlig egal ist.

Ich entschied mich, mit Abstrichen, fürs Länder-, nicht fürs Staatenzählen. Selbstverständlich konnten bloße Zwischenlandungen nicht mitgerechnet werden. Mitunter ärgerte ich mich, zum Beispiel über meine Reise durch die UdSSR im Jahr 1987. Wäre ich ein paar Jahre später aufgebrochen, hätte ich auf derselben Strecke einige Staaten mehr gesammelt, die ich nur als Sowjetrepubliken bereist hatte. Andrerseits bescherte mir eine kurze Fahrt nach St. Petersburg 2005 Rußland als »neues« Land, zusätzlich zur UdSSR. Am 17.6.2016 kam ich auf 97 Länder.

Also auf die Hälfte aller 194 Länder, die zur Zeit unsre Welt sind, immerhin. Man könnte auch sagen: gerade mal. Was nützte es, 26 Mal in Österreich oder 18 Mal in Italien gewesen zu sein, wenn man in dieser Zeit locker auch in … Aber man reist doch nicht im imaginären Wettstreit mit anderen? Oh, ich kenne einige, die genau das tun.

Weil ich schon dabei war, addierte ich die Tage, die ich auf Reisen war,26 und kam auf einen Jahresdurchschnitt von 175,66 Tagen. Abgesehen von meiner halbjährigen Kreuzfahrt auf der Europa 2006/07, bei der das Abhaken ja gewissermaßen vom Kapitän und seiner Crew für mich erledigt wurde, war das Jahr 2000 mein Spitzenjahr, sowohl was Reisedauer betrifft (226 Tage) als auch »Abhaken« (10 Länder). Zur Erinnerung Dr. Black im Rückblick auf 2015: »27 Länder und sieben Kontinente in einem Jahr.« War er, abgesehen von den angegebenen Pausen, nonstop unterwegs gewesen? Wie konnte er das physisch überhaupt durchhalten? Dr. Black lacht: »Ich habe einen alten Jeep Cherokee, der reist für mich. Ich bin so gehfaul, daß ich gesetzeswidrig in verkehrsberuhigte Innenstädte hineinfahre, auf Wanderwegen durch die Landschaft, durch Tempelanlagen (Tikal, Angkor Wat) und in Burgen hinein. Einmal, in Tschechien, bin ich sogar in ein Schloß reingefahren, richtig in das Innere des Gebäudes. Interessanterweise sind es immer die Deutschen, die sich darüber ereifern.«

Und so fahre er jetzt weiter, bis er alle 194 –?

»Eins nach dem andern«, dämpft oder befeuert Dr. Black meine Erwartungen: »Mein nächstes Ziel ist es, bis zum 70. Lebensjahr 150 Länder bereist zu haben.«27

Ich brauchte ein paar Wochen, um das Ergebnis meiner statistischen Selbsterkundung zu verdauen. Aus freien Stücken hätte ich den Aufwand nicht betrieben, im nachhinein will ich die Sache aber nicht herunterspielen oder lächerlich machen. Auch unter Läufern bin ich es gewohnt, nach meiner persönlichen Bestzeit beim Halb- oder beim Marathon gefragt zu werden; selbst unter Freizeitsportlern will man wissen, wo der andere leistungsmäßig steht. Unter Reisenden funktioniert es ähnlich. Urteile und Tips eines weitgereisten Wüstenprofis wie Achill haben einfach ein anderes Gewicht als die eines Zufallsbekannten im Sammeltaxi, der gerade mal Barcelona, Prag und Lissabon abgefeiert hat.

Dennoch, und das habe ich erst jetzt begriffen, war Abhaken anscheinend nie meine Sache. Ich bin einfach nur neugierig gewesen. Was mir wirklich zu denken gibt, seitdem ich mir über meine Reisen Rechenschaft gegeben habe, ist die Tatsache, daß ich, abgesehen vom Tadsch Mahal und der Südsee, bis heute nicht mal meine Traumziele »abgehakt« habe – weder Timbuktu noch den Hoggar, weder Grönland noch Arktis oder gar Antarktis; was den Kilimandscharo betrifft, so war ich zwar schon mal im Basislager bei Marangu, bestiegen habe ich ihn aber noch nicht. Warum eigentlich? Gereist bin ich ja. Nur eben nie dorthin, wo ich seit Jahrzehnten am allermeisten hinwollte. Denn was den Tadsch Mahal und die Südsee betrifft, so lagen sie schlichtweg auf der Route der Europa. Andernfalls hätte ich selbst diese beiden Traumziele bis heute versäumt.

Schrecklich schön und weit und wild

Подняться наверх