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Initialschock

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Es war tief in der Nacht, als wir in Madras landeten. Eine Weile standen wir auf dem Vorfeld, schließlich fuhren Busse vor, danach passierte lange nichts. Endlich ging die Kabinentür auf, und so müde und gereizt wir eben noch waren: Kaum schlug die feuchtheiße Luft herein, waren wir hellwach und mit allem versöhnt. So mußte eine Ankunft in den Tropen riechen! Wir hörten auf zu atmen und begannen zu inhalieren. Man roch das ganz Andre des noch unbekannten Landes, und als wir die Gangway betraten, spürte man’s in allen Poren. Das Chaos am Gepäckband war für uns kein Ärgernis, sondern das nächste Erlebnis. So muß es hier sein, nickten wir einander zu, ebendeshalb sind wir ja gekommen.

Schöner kann eine Reise kaum beginnen. Dabei findet die Ankunft, genau genommen, schon während des Landeanflugs statt. Wir hatten Madras wie einen illuminierten Stadtplan unter uns gesehen, kein unendliches Lichtermeer wie Bombay oder Karachi, doch ähnlich intensiv. Der Überfluß an nächtlicher Beleuchtung macht viele Metropolen Asiens zur Lichtskulptur. Man sieht die Häßlichkeit der Städte nicht, man sieht ihr Elend nicht, man sieht nur ihre Schönheit – ein ästhetisches Vergnügen wider alle Vernunft, das mich jedes Mal in erwartungsvolle Hochstimmung versetzt.

Am spektakulärsten fällt eine nächtliche Landung in Abu Dhabi oder Dubai aus: Minutenlang fliegt man einigermaßen tief über der Stadt, die im einen wie im andern Fall am Reißbrett entstand und entsprechend lückenlos wie eine einzige riesige Sehenswürdigkeit angestrahlt ist, jede Straße in Gelb, jedes Grundstück in Weiß, und alles über die Maßen hell. Man hat den Eindruck, daß hier auch noch jeder Briefkasten beleuchtet wird.

Deutsche Städte haben diesen Glamourfaktor nicht, auch wenn sie de facto schöner sein mögen. Und den Alltag weit angenehmer strukturieren als beispielsweise das verheißungsvoll funkelnde Madras. Dort ging es dann auf einer mehrspurigen Straße in die Stadt, auf dem Mittelstreifen hatten die »Unberührbaren« Zelt an Zelt errichtet. Im Zentrum schliefen sie zu Hunderten nebeneinander auf dem Bürgersteig, dazwischen stand das eine oder andre weiße Rind. 38 Grad, überall in den Straßen Überschwemmungen, wahrscheinlich waren Abwasserrohre gebrochen. Ich erinnere mich an einen nackten schwarzen Mann, der tief in einen Gully hinabgriff. Dann waren wir wirklich angekommen. Und keinesfalls entsetzt, im Gegenteil, wir fanden alles einfach nur aufregend. Es könnte sein, versicherten wir einander vor dem Einschlafen, daß uns dies Land gefallen würde.

Und es gefiel uns dann auch. War der erste Eindruck vorentscheidend für das Erleben der gesamten Reise? Natürlich wiegelt man bei einer solchen Vermutung ab. Als Reisender will man ein offenes Gemüt zeigen und im Lauf der Reise durch die Bandbreite seiner Urteile auch beweisen – vornehmlich sich selbst. Andrerseits will man, daß die Reise »gut« wird, und ein gelungener Auftakt beschwingt ungemein. Da gibt es erst mal nichts zu hinterfragen, sondern alles zu genießen. Wer auch weiterhin staunen will, und das ist in Ländern wie Indien durchaus eine angemessene Haltung, wird häufiger Anlaß dazu finden als der, der sich von Anfang an in kritische Distanz gesetzt hat.

An der Schwelle vom Vertrauten zum Unvertrauten sind Reisende besonders wachsam und entsprechend aufnahmebereit. Nicht ohne Grund versuchen Entwicklungsländer und Diktaturen, Besucher ihrer Hauptstadt mit einer aufwendig gestalteten Prachtstraße vom Flughafen ins Zentrum positiv einzustimmen. Aber die Phase des Ankommens hält auch am Tag nach der Landung an. Es braucht eine Weile, bis man sich in der Fremde als in seinem neuen Alltag bewegt, entsprechend zielorientiert Eindrücke sucht und andere ausblendet. Nur die allerersten Tage ist man wirklich offen. Was man dabei registriert und fortan immer wieder ähnlich registrieren wird, kann im Verlauf der Reise zu einem ihrer Leitmotive akkumulieren – dem ersten Versuch, im Fremden auch mental anzukommen.

Eine Ankunft per Schiff ist in jedem Fall ein besonderes Erlebnis, es muß nicht gleich die Hafeneinfahrt von Sydney sein oder eine Südseeinsel, die nach sechs Seetagen auf dem Pazifik im Dunst des Horizonts auftaucht. Auch wer mit dem Eurostar in St Pancras ankommt, wird durch den Anblick der wunderschönen Bahnhofshalle bestens auf London eingestimmt. Als wir 1990 nach einer Woche mit der Transsib in Ulan-Bator einfuhren, bestand die Stadt noch zur Hälfte aus Jurten, befremdlicher konnte das erste Erleben der Fremde nicht ausfallen. Schon beim Einchecken ins Hotel ahnte ich, daß ich ein neues Lieblingsland gefunden hatte.

Eric sagt, das Chaos einer fremden Stadt könne »so überwältigend sein wie der plötzliche Einsatz einer Rockband«. Da er aus einer Stadt komme, in der es ihm zu geordnet und gesittet zugeht, sei gerade das über ihn hereinbrechende Chaos ein Genuß. Von seiner Ankunft in Neapel erinnert er noch nach zwanzig Jahren jedes Detail: »Ich trat aus dem Bahnhof, ein riesiger Vorplatz, darüber ein knallblauer Himmel, von fern Verkehrslärm, Gehupe, über allem lag der Geruch von faulendem Gemüse. Und gleich neben dem Bahnhofseingang war ein riesiger Stapel alter Matratzen, das war das i-Tüpfelchen! Ich habe mich sofort in die Stadt verliebt. Und bin sicherheitshalber nie wieder hingefahren.«

Konsul Walder warnt dagegen vor zuviel Euphorie bei der Ankunft: »Der erste Eindruck ist trügerisch wie bei Frauen auch. Ich gebe dem Land, selbst wenn es schön sein sollte, eine zweite Chance.«

Ähnlich verhalten sieht es Indra: »Es ist einfach, Hongkong sofort zu lieben. Um hinter die Kulissen zu blicken, braucht man jedoch auch beim Reisen Geduld. Phnom Penh ist eine Stadt, die man erst beim dritten oder vierten Anlauf ins Herz schließt, dann aber lohnt sie mehr als Hongkong.«

Meist unterschätzt man das Ankommen, will so schnell wie möglich angekommen sein. Dabei ist die verhalten bis offen euphorische Art der Annnäherung, deren wir uns angesichts des Fremden ganz automatisch befleißigen, im Grunde eine der sympathischsten Phasen einer Reise – was uns selber betrifft. Hier winken wir noch nicht ab, wissen Bescheid, sind wegen dieser oder jener Eigenheit eines Reiselands gereizt und nicht mehr in der Lage, es neu und frisch zu erleben. War unser Blick bei der Ankunft aus Unkenntnis verzerrt, so ist er’s dann nicht minder aus einer gewissen Kenntnis heraus.

Gerade Unsicherheiten und Mißverständnisse, wie sie jedes Ankommen begleiten, sind kostbar. Das Erstaunen über rätselhafte Aspekte des neuen Alltags wird am Ende der Reise vielleicht eine der zentralen Reiseerfahrungen sein. Als ich in einem Restaurant kurz nach meiner Ankunft in Japan auf die Toilette ging, erschrak ich vor der Wärme der Toilettenbrille. Sie war elektrisch vorgeheizt. Dann gab es anstelle von Klopapier eine Art Mischpult an der Wand mit einem knappen Dutzend Knöpfchen. Sie waren nur auf Japanisch beschriftet und, wie sich beim Ausprobieren herausstellte, steuerten Temperatur und Stärke des Wasserstrahls, mit dem man sich zu reinigen hatte. Eine Taste für den Fön danach gab es auch und sogar eine, mit der man das Rauschen einer Klospülung erzeugen konnte, um die tatsächlichen Geräusche zu übertönen. Was ich nicht fand, war eine Taste, um die Spülung in Gang zu setzen. Ich mußte den Wirt um Hilfe bitten, der auch gleich beflissen mit mir mitkam. Die Taste saß sehr diskret an einer völlig anderen Stelle des Raums, weit vom Mischpult entfernt.

Die Szene spielte keineswegs in einem Luxusrestaurant, derart aufwendig programmierte »Shower toilets« sind in Japan weit verbreitet. Der Initialschock bei der Ankunft, so sehe ich es im Rückblick, erzeugte bereits den Kulturschock, unter dem ich noch nach Wochen stand – eine Reise nach Japan ist für mich bis heute eine Reise in die Zukunft der Zivilisation geblieben. Kehrt man nach ein paar Wochen zurück nach Deutschland, erkennt man bei tausenderlei Gelegenheit, wie überaus perfekt der Alltag in Japan organisiert ist.

Was mag ein Japaner denken, der zum ersten Mal in Deutschland auf die Toilette geht – und über die Kälte der Klobrille erschrickt? Er wird sein Erlebnis zur Anekdote verarbeiten und fortan seine Freude daran haben. Gibt es auch einen Initialschock, der die Freude am Fremden anhaltend trübt? Ich erinnere mich an die Landung der Fähre in Alexandria 1978, die sofort von Einheimischen gestürmt wurde, um uns unerbetene Serviceleistungen aufzuzwingen; erinnere mich an das rüde Verhör eines New Yorker immigration officer bei meiner ersten Einreise in die USA 1982; erinnere mich an Kampala 1993, wo wir von Drogendealern verfolgt wurden, weil wir nichts kaufen wollten. Dschisaiki erinnert sich an seine Einreise nach Gaza, eineinhalb Kilometer Fußmarsch durch israelisch kontrolliertes Niemandsland, ein Bauwagen, dahinter wartende Pferdekutschen. Jürgen erinnert sich an die Ankunft im kurdischen Diyarbakir 1988: »Vom Flugzeug zum Flughafengebäude ging man zu Fuß durch ein Spalier türkischer Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag und schwerem Geschütz im Hintergrund, ob Panzer oder Artillerie, weiß ich nicht mehr. Es war jedenfalls ein martialischer Empfang.«

Und ein sensationell aufregender zugleich. Auch Alexandria, New York, Kampala, Gaza waren ganz gewiß und vor allem anderen aufregend. Der Initialschock reißt uns aus der eigenen Welt hinüber in eine fremde, mal erleben wir ihn als Warnung, mal als Verheißung. Schlimm ist eigentlich nur eine Ankunft im Fremden, die man achselzuckend erlebt – in Colombo ging es mir so, und darauf folgte dann auch eine eher beiläufige Reise durch mittelinteressantes Terrain.

Der K beteuert, sein erster Eindruck von Jamaika sei überhaupt nicht aufregend gewesen, sondern abscheulich und nichts als abscheulich, er habe ihm bereits den gesamten Urlaub verdorben. Wahrscheinlich formuliert er deshalb so barock: »Ankunft per Schiff. Schon im Hafen von Montego Bay überall bettelnde oder minderwertige Waren anpreisende Afro-Kariben mit mehr oder minder kompletten Gliedmaßen. Eine Freakshow wie aus einem Fellini-Film, dazwischen sexualisierte westeuropäische Rentnerinnen auf der Jagd nach Lowprice-Lovern – Lumpen, Laster, Kiffen, Klauen … Wahrscheinlich der widerlichste Ort der Erde.«

Auch Wolle dachte bei seiner Einreise in den Irak 2015: »Um Himmels willen, wo bist du denn hier gelandet?« Er fügt freilich an: »Man muß nur lang genug bleiben: Irgendwann hat man sich auch an das Schreckliche gewöhnt und empfindet es als normal.«

So wie das Schöne nicht selten des Schrecklichen Anfang ist,16 ist das Schreckliche – vielleicht nicht des Schönen, aber zumindest des Interessanten Anfang. Dann gilt es, das negative Urteil, das man sich aufgrund seines Initiationserlebnisses gemacht hat, so schnell wie möglich wieder wegzureisen.

Schrecklich schön und weit und wild

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