Читать книгу Schrecklich schön und weit und wild - Matthias Politycki - Страница 6

Die Mär vom leichten Gepäck

Оглавление

»Man sollte unbedingt mit leichtem Gepäck reisen.«13 Dieser Satz, leicht variiert, geistert als Gemeinplatz durch die Reiseliteratur. Vor dem geistigen Auge sieht man einen wettergegerbten Zausel, beschwingt in ein moderat hügeliges Terrain hineinschreitend, seinen moderat gefüllten Wanderrucksack auf dem Rücken. Ja, so einer weiß, was man auf eine Reise alles nicht mitnimmt!

Aber wie lange wird er auf diese Weise unterwegs sein können? Seit Jahrzehnten wiege ich meinen Rucksack nach dem Bepacken, einen Flying Dutchman von Jack Wolfskin, weniger als 16 Kilogramm wiegt er nie, meistens deutlich über 18 Kilogramm. Dazu kommt ein Tagesrucksack, der, den Anforderungen der Reise entsprechend, mal kleiner, mal größer ausfällt; 8 Kilogramm darf er maximal wiegen – und tut es nicht selten. Bei Reisen mit Koffer kämpfe ich regelmäßig gegen die 23-Kilogramm-Marke.

Jedes Mal wundere ich mich, wie schnell aus dem Allernötigsten ein respektabler Haufen wird, der am Ende nur mit Mühe zu verstauen ist. Während der Reise werde ich froh um jedes Teil sein, das ich mitgenommen habe. Sollte ich darauf verzichten, weil ich ja vor Ort nachkaufen könnte, was mir fehlt? Dafür müßte ich kostbare Reisezeit opfern. Mögen andere mit leichtem Gepäck reisen, ich reise lieber mit ein bißchen mehr. Ausrüstung beruhigt.

Irgendjemand hat irgendwo zu Protokoll gegeben, er reise bloß mit Zahnbürste und Kreditkarte. Der Mensch ist anscheinend nur von einem gutgeführten Hotel zum nächsten gefahren. Würden sie heute noch leben, kämen Bert Brecht oder Oscar Wilde als Urheber des Satzes sehr in Frage. Ebenso nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist mir die Bitte einer Exfreundin: »Tu mir den Gefallen und nimm Kondome mit, man weiß ja nie.« Wir waren damals schon länger getrennt, und sie meinte es wirklich ernst, das verwirrte mich am allermeisten. Mit derselben Bestimmtheit erklärt Dschisaiki: »Ohne ADAC-Rückholversicherung fahre ich nicht los.« Burroughs reiste nicht ohne Heroin, Bruce Chatwin nicht ohne seinen Montblanc-Füller, Theroux nicht ohne Kurzwellenradio.14 Ich habe meine Reisegefährten gefragt, was sie mitnehmen. So einig sie sich in vielerlei Hinsicht auch sind, packtechnisch liegen zwischen ihnen Welten. Konsul Walder:

»Egal wohin und wie lange, ich reise nur mit Handgepäck. Ist befreiend. Immer dabei ist ein Reisetagebuch von Moleskine, Umfang je nach Reisedauer. Dort wird nicht nur hineingeschrieben, sondern auch -geklebt und -skizziert, im Verlauf der Reise entsteht deren Dokumentation.«

Eric wiegt die Bücher, die er mitnimmt, sie dürfen maximal 350 Gramm wiegen. Sein Handy läßt er daheim: »Was für eine Erlösung, mal nicht erreichbar zu sein. Da fühle ich mich gleich doppelt auf Reisen, noch weiter weg von zu Hause als ohnehin.«

Hingegen der K: »In die westlichen Zivilisationen nehme ich iPad, iPhone, Fotoapparat und sonstige Hightech-Hilfen mit, bei Touren beschränke ich mich auf Mobiltelefon, Kindle und das Nötigste. Allerdings habe ich stets einen europäischen und einen amerikanischen Stecker im Gepäck. Früher, zum Wandern in Finnland, mußten immer sechs Bierdosen mit, das waren jeweils schon drei Kilo. Das hat sich allerdings dank der Preisangleichung erledigt.«

Bierdosen nehme ich auch manchmal mit, allerdings erst auf dem Rückflug. Es gefällt mir, damit zu Hause noch mal auf das Reiseland anzustoßen. Aber derlei sammelt sich quasi von selbst, entscheidend beim Thema Gepäck ist nur der Hinflug. Susan verzichtet (neben manch anderem) auf einen Fön, den sie eigentlich für unverzichtbar hält – weil die strikten Gepäckbestimmungen von Ryanair sie dazu zwingen. Auch für Indra ist weniger keinesfalls mehr. Da sie für alle Fälle vorbereitet sein möchte, nimmt sie vom Abendkleid bis zu Gummistiefeln (für den Strandspaziergang bei Regen) jedes Mal viel zuviel mit: »Schließlich reise ich nicht in Birkenstockschuhen und Rentnerhosen. Wenn ich auch unterwegs eine Wahl bei der Bekleidung treffen kann, fühle ich mich fast so, als hätte ich mein Zuhause mitgenommen.«

Die einen genießen den Luxus der Fülle auch während des Reisens, die anderen den Luxus der Reduktion. Doch selbst Achill, der nie mehr als 12 bis 15 Kilogramm mitnimmt, um »die Leichtigkeit des Seins« zu genießen,15 will auf alle Fälle vorbereitet sein. Er führt fünf verschiedene Packlisten, je nach Destination – Wüste, Wald, Gebirge, Stadt und Strand: »Das einzige, was ich manchmal zuwenig dabeihatte, waren Bücher.«

Ich führe lieber nur eine Standard-Packliste. Sie gilt für Lese-, Tauch-, Trekking-, Recherche- und Urlaubsreisen gleichermaßen, für Winter- wie Sommerziele, ist also extrem umfangreich. Nur für Marathonreisen habe ich eine separate Liste. Und für meine halbjährige Fahrt auf der Europa hatte ich auch eine, da mußte ich freilich vom Smoking abwärts an einiges denken, was bei meinen anderen Reisen keine Rolle spielt – und drei Koffer füllte. Doch selbst meine Standard-Packliste umfaßt bereits 200 Punkte und manche davon (wie »Wander-« oder »Tauchausrüstung«) weitere zehn Unterpunkte. Wenn ich die Liste einige Wochen vor Reisebeginn ausdrucke, kann ich sofort zwei Drittel davon streichen, ohne erst groß nachzudenken. Danach sieht man’s auf einen einzigen Blick, daß nicht mal halb soviel zu packen ist, wie es theoretisch hätte sein können – welch eine Erleichterung.

Bleibt das Problem des seelischen Gepäcks. Am besten, heißt es, lasse man es zu Hause. Funktioniert das? Konsul Walder: »Man kann Probleme wegreisen, sofern man jeden Tag aufs neue losfährt, ohne zu wissen, wo man die kommende Nacht schläft. Der Streß, den man auf diese Weise hat, verdrängt die Alltagssorgen – Reisen ist dann wie eine Arschbombe ins kalte Wasser. Andernfalls muß man nur lang genug reisen. Probleme werden harmloser, je weniger Möglichkeiten man hat, sie aktiv anzugehen. Man kann seine Probleme in der Ferne aussitzen wie ein Politiker.«

Ein einziges Mal habe ich es versucht, im August 1977. Mein seelisches Gepäck hatte ich mit aller Sorgfalt gepackt und zu Hause abgestellt. Dann fuhr ich zur Autobahnauffahrt München-Schwabing, um meinem Kummer davonzutrampen. Wohin? Egal! Normalerweise ist das Ablehnen von Mitfahrgelegenheiten beim Trampen so wichtig wie Mimik und Gestik bei der Akquise, mit dem gestoppten Lift muß man mindestens die nächste »gute« Raststätte oder Auffahrt erreichen, von der man zügig weiterkommt. Diesmal wollte ich nehmen, was mir geboten wurde. Vielleicht hatte ich in den Monaten davor allzulange an einem Ziel festgehalten, jetzt sollte mein Weg in ein neues Leben vom Schicksal bestimmt werden. Ich wollte Teer riechen und nicht viel mehr als Mittelstreifen sehen, ein Ziel war mir egal.

Am Abend saß ich am Stadtrand von Itzehoe. In Gedanken war ich bereits dabei, mich auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz in die Felder zu schlagen, da hielt ein klappriger R4, und zwei Mädchen fragten, wohin es um diese Uhrzeit denn noch gehen solle. Wenn man damals unter Trampern mit seinen Lifts angeben wollte, behauptete man, den Fahrer eines Mercedes Coupé gestoppt zu haben – oder eine Frau. Aber zwei Mädchen in einem R4 waren, weißgott, auch nicht schlecht. Mein seelisches Gepäck, an das ich während des Tages immer wieder gedacht hatte, löste sich auf der Stelle in nichts auf.

Die beiden Mädchen hießen Ati und Heike, die Fahrt mit ihnen ging gerade mal 10 Kilometer weiter, nach Hohenlockstedt. Ihrer Einladung zum Abendessen folgte auch bald die zum Übernachten. Oh nein, ein eindeutiges Angebot war das nicht, schließlich wohnte Atis Freund Uwe mit ihnen zusammen, außerdem war ich ja weggefahren, um wegzufahren, nicht um anzukommen. Im Dorfkrug spielten wir mit der Tochter der Wirtin ein Würfelspiel, bei dem der Verlierer die nächste Bierrunde zahlen mußte, erfreulicherweise meist die Tochter, die wir alle nicht sonderlich mochten. Den Rest der Nacht sah ich nur noch Würfel.

Am nächsten Tag brachten mich Ati und Heike zu einer »guten« Kreuzung – und luden mich ein, auf der Rückfahrt wieder bei ihnen vorbeizukommen. Bald saß ich in einem VW-Bus, der an den Autobahnausfahrten sogar extra herausfuhr, um weitere Tramper aufzulesen, Sound und Stimmung waren sensationell. Ab Aarhus sprang einer nach dem andern wieder ab, ich blieb als letzter noch bis Frederikshavn, übernachtete dort hinter einem Stapel Holzpaletten am Kai. Im nachhinein frage ich mich, warum ich von dort nicht die Fähre nach Göteborg nahm und einfach so weitermachte. Stattdessen nahm ich nur die Fähre zur Insel Laesø. Wie ich dort aber Tag für Tag in meinem kleinen Zelt hockte oder die Nudisten am Strand bestarrte, war mein seelisches Gepäck plötzlich wieder da. Solange ich Tempo gemacht hatte, war ich es tatsächlich los gewesen, nun, da ich zur Ruhe kommen wollte, hatte es mich wieder eingeholt. Tagsüber gab es Quallen und abends im »Seemanns- und Missionshotel« als Nachtisch saure Milch.

Eine Woche lang hielt ich es aus, dann trampte ich zurück. In Vejle mußte ich während eines Wolkenbruchs durch die ganze Stadt laufen, in Haderslev entrollte ich meinen Schlafsack trotz anhaltendem Regen an einem Feldrand. Es war ein Bundeswehrschlafsack mit Gummierung, gegen Mitternacht wachte ich patschnaß auf. Auch in Hohenlockstedt schien diesmal keine Sonne für mich. Ati und Heike fuhren mit mir nach Hamburg, um mir eine Nacht lang St. Pauli zu zeigen. Morgens auf dem Fischmarkt wurden Zimmerpalmen und kistenweise Bananen angepriesen: »Heute ist Sonntag, Leute, da ist Affenjagd in Afrika, da wird der Urwald gefegt …« Mir war nicht zum Lachen zumute. Irgendwann stand ich wieder an der Autobahn. Als wolle mich das Schicksal jetzt auch noch verhöhnen, hielt ein silberner Mercedes Coupé, und der Lift ging sogar bis Würzburg. Danach nahm mich ein Lkw-Fahrer mit, allerdings hatte ich meinen Platz im dunklen Laderaum einzunehmen, es war mir fast lieber so. Am Stadtrand von München mußte ich raus. Ich wußte ganz genau, wo mich mein seelisches Gepäck erwartete, versuchte nicht mal, daran vorbei und nach Hause zu fahren. Als sie mir die Tür öffnete, mußte ich kaum etwas sagen. Weil ich pleite war, hatte ich den ganzen Tag nichts gegessen, und sie war das Gegenteil einer Frau, die gern kochte. Es gab Nudeln ohne Soße und ohne Parmesan, nur Nudeln. Aber ich wußte auch so, wie maßlos gescheitert ich mit meiner Reise war.

Schrecklich schön und weit und wild

Подняться наверх