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1 Die Entdeckung des Kontextes, oder:
Eine Kirche auf der Höhe des Konzils
ist auf der Höhe der Leute

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Während der Beratungen über die Vorlagen zur späteren Pastoralkonstitution ‚Gaudium et spes‘ kommt es in der Aula des Zweiten Vatikanischen Konzils am 1. Oktober 1964 zu einem folgenreichen Eklat. Erzbischof Marcel Lefebvre hält farbige Umschläge hoch und richtet eine Anfrage an den Konzilssekretär Pericle Felici: „Welche Autorität haben diese Heftchen für das Konzil?“ Der Sekretär antwortet spontan noch am selben Tag: „Diese Dokumente sind mehr privater Natur.“ Was heißen soll: Wer sie denn beachten möchte, kann das tun – wer nicht, der nicht. Richtig wichtig sind andere Texte; die hatte man ja auch schon länger vorher ausgeteilt, und die waren ja auch in weiße Umschläge eingetütet worden.

Auf diese Bewertung hin entbrennt eine stürmische Diskussion. Der Salzburger Dogmatiker Hans-Joachim Sander als Kommentator von Gaudium et spes vergleicht die Situation mit einem Wespennest, in das Felici hineingestochen hatte.16 Denn zum einen erfuhren natürlich jene Väter und Theologen, die hart an den farbigen ‚Heftchen‘ gearbeitet hatten, eine Entwertung genau jener Mühen. Die Äußerungen Lefebvres und Felicis hatten die Dokumente mit jenen Flugblättchen vergleichbar gemacht, die rund um die Konzilsaula kursierten und die tatsächlich oft genug nicht ernstzunehmen waren. Zum anderen aber ging es um eine prinzipielle, sozusagen theologiearchitektonische Frage. Und man darf wohl als sicher annehmen, dass sich Erzbischof Lefebvre später noch oft sehr geärgert haben wird, die erwähnte Frage nach der Autorität überhaupt gestellt zu haben. Denn letztlich war es sein Vorstoß, der den Debatten um Gaudium et spes eine ganz neue Wendung gab – wodurch die Pastoralkonstitution zum Fokus jenes theologischen Sprachfortschrittes wurde, den man als die eigentliche Frucht des Konzils ansehen kann.

Aber der Reihe nach: Was war denn nun in diesen farbigen Umschlägen? Und was in den weißen? Und wieso konnte man auf die Idee kommen, die Texte in den farbigen Hüllen für minderwertige, nicht dogmatisierbare Texte zu halten, obwohl sie doch von einer offiziellen Konzilskommission erarbeitet worden waren? Hat die dogmatische Qualität von Textentwürfen etwa etwas mit ihrer Verpackung zu tun? Das Rätsel ist schnell gelöst. Die weißen und erheblich früher verteilten Umschläge enthielten einen Haupttext mit dem Titel ‚De Ecclesia in Mundo huius temporis‘; die farbigen Umschläge transportierten sogenannte ‚Adnexa‘, also Anhänge zu diesem Haupttext. Der Haupttext – das berühmt-berüchtigte Schema XIII des Konzils – hieß so, weil er sowohl im Inhalt wie im Duktus Bekanntes referierte: Das Verhältnis von Kirche und Welt wurde gemäß überzeitlicher Prinzipien und christologischer Reflexionen in allgemeiner Form vorgestellt. Kniffliger war die Sache mit den Adnexa: Hier hatten Fachexperten und Bischöfe zusammen bestimmte empirische Problembereiche fokussiert, in denen ‚die Menschheit‘ mit Recht von der Kirche eine orientierende Position erwarten durfte. Gemäß der großen Metapher Johannes’ XXIII. von den ‚Zeichen der Zeit‘ in seiner Enzyklika ‚Pacem in terris‘ von 1963 versuchte man, jene epochalen Herausforderungen zu definieren, zu denen man als Kirche nicht schweigen könne. Hierzu gehörten damals unter anderem die Frage eines möglichen Nuklearkrieges, der dramatischen Bevölkerungsentwicklung oder des risikohaften Fortgangs der Wissenschaften.

Das Problem, das sich nun mit solchen Themen stellt, liegt auf der Hand: Wie soll die Theologie aus ihren überzeitlichen Quellen wie der Bibel, dem Lehramt oder auch der Philosophie Erkenntnisse generieren, die sich auf geschichtliche, empirische Fragen beziehen – und zwar so, dass sie sich nicht in spekulativen Reflexionen ergehen, sondern als konkrete ethische Standpunkte erkennbar werden? Wie soll man dogmatisieren – also als unhintergehbare Sprachmarke errichten –, was sich im Lauf der Geschichte verändern wird? Und, noch grundsätzlicher gefragt: Hat denn die Kirche als überzeitliche Stiftung, als vollendete Gesellschaft (‚societas perfecta‘) mit solchen Themen überhaupt konstitutiv etwas zu tun? Dies waren harte Fragen, die keineswegs einfach beantwortbar erschienen. Man sah sich im Dilemma, zu diesen wichtigen Themen einerseits wenig Eigenes sagen zu können, andererseits aber angesichts des Problemdrucks auch nicht schweigen zu dürfen. Von Beginn des Entschlusses zu einer Pastoralkonstitution17 an verfolgte man daher eine Doppelstrategie: Es müsse im selben Dokument sozusagen zwei Textsorten geben, deren dogmatisches Gewicht voneinander abzuweichen hätte. Der Haupttext mit seinen unwandelbaren Prinzipien war unproblematisch. Die Anhänge aber sollten entweder als ‚Instruktionen‘ erscheinen, als eine Art ‚Sozialkatechismus‘, als globale Schlussfolgerungen oder situative Analysen, jedenfalls aber unterhalb des dogmatisierbaren Niveaus verbleiben.

Diese Taktik macht es durchaus verständlich, dass man die beiden Textsorten auch äußerlich unterschied und für das Unwandelbare die Nichtfarbe Weiß, für das Wandelbare aber die Farbigkeit der Umschläge vorsah – die man dann auch noch später und kurzfristiger versandte. Trotzdem: Ein Unbehagen blieb bei den Protagonisten eines neu zu entwerfenden Formates namens ‚Pastoralkonstitution‘ zurück. Um es im Schema ‚Außen-Innen‘ zu reformulieren: Kann man denn Kirche wirklich so radikal getrennt von ihrem ‚Außen‘, also ‚der Welt‘ denken, dass sie sich zu deren Großproblemen nur unterhalb ihres höchsten Redeniveaus äußern kann? Hat denn Offenbarung wirklich nur überzeitliche Qualität? Kann lehramtliche Dogmatik sich nur so verstehen, dass sie von realer Menschheitsgeschichte im Kern nicht verändert werden kann? Haben kirchliche Texte keinerlei Autorität, wenn es um die konkreten Ortsbestimmungen des Menschseins geht – um Tod und Not, um Dramatik und Flucht, aber auch um Schönheit und Eleganz?

Diese Fragen brachen auf, als das anzuschlagende Niveau der Adnexa vom Konzilssekretär noch einmal auf das denkbar Niedrigste heruntergepegelt wurde: ‚mere privatum‘, mehr privater Natur seien diese Texte. Subjektive Meinungsäußerungen, ohne konziliares Gewicht. Der vehemente Protest gegen diese Qualifizierung vereinte Majorität und Minorität und führte in der Folge zu der gemeinsamen Einsicht, dass sich eine Trennung in dogmatischen Hauptteil und nicht-dogmatischen Anhang einfach verbietet. Sander kommentiert: „Damit war (…) die bisher verfolgte Darstellungsstrategie der ‚ecclesia ad extra‘ hinfällig geworden. Man war damit jedoch sprachlos geworden und musste eine neue Sprache sprechen lernen.“18

Es markiert die Größe des Konzils, dass man einer derartigen Verunsicherung trotz hochgespannter Außenerwartungen, innerer Fraktionsbildungen und allgemeinen Zeitdrucks nicht ausgewichen ist. Wie man heute weiß, wurde mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes eine solche ‚neue Sprache‘ wenn nicht gefunden, so doch in Anfängen gewagt.19 Wer diese Konstitution genau liest, wird überall die alte Zweiteilung in prinzipielle und auf Empirie bezogene Passagen bemerken. Am deutlichsten wird dieser Dualismus wohl in der bekannten Fußnote gleich zu Anfang des Textes. Hier wird betont, dass Gaudium et spes zwar aus zwei Teilen besteht, diese aber als Einheit anzusehen seien. Denn im ersten lehrhaften Teil fehle nicht die pastorale, im zweiten empirischen nicht die lehrhafte Absicht. Man sei sich klar darüber, dass man im zweiten empirischen Teil lehrhaft behandle, was „nicht nur aus bleibenden, sondern auch aus bedingten Elementen besteht.“20

Hier vollzieht sich Dogmengeschichte. Denn zum ersten Mal werden veränderliche Umstände als solche Gegenstand der obersten kirchlichen Lehrverkündigung. Wie deutlich den Konzilsvätern diese Neuheit vor Augen stand, mag der Hinweis zeigen, dass über diese Fußnote sogar eine eigene Abstimmung des ganzen Konzils erfolgte.21 Noch einmal Sander: „Diese Fußnote schließt die Entwicklung des Textes ab. Sie repräsentiert die Innen-Außen-Problematik und die Nicht-Ausschließungsstrategie der pastoralen Ortsbestimmung, die den Text nicht nur von Anfang an begleitet haben, sondern seine Genealogie bestimmen. Mit ihr werden Pastoral und Dogmatik in eine neue Beziehung gesetzt: Sie stehen in keiner Unterordnungs-, sondern in einer Innen-Außen-Konstellation und in keiner Darlegung von einem dieser Pole darf der jeweils andere ausgeschlossen werden. Das jeweilige Außen hat für das Innen konstitutiven Rang und in der Differenz zwischen beiden werden Ausschließungen ausdrücklich überschritten.“22

Mit anderen Worten: Man entdeckt, dass der geschichtliche Kontext theologischer Gottesrede und pastoraler Verkündigung nicht als eine Art Aufführungsmanege fungiert, sondern beide Sprachvorgänge von innen her verändern muss. Man muss aus dem gegebenen Kontext heraus erst erlernen, was man über die Gegenwart Gottes wissen und was man in den Kontext hinein verkünden kann. Wer Eselsbrücken mag – es gilt sozusagen das ‚Triple-Kon‘. Konzil, das bedeutet: Der Kontext wird konstitutiv.

Diese Entdeckung des Kontextes, diese kulturhermeneutische Wende kann als die Grundspur konziliarer Theologie überhaupt angesehen werden. Sie kommt begrifflich sicherlich am klarsten in Gaudium et spes zum Ausdruck, liegt aber als Ausrichtung und organisierendes Prinzip auch in den anderen Dokumenten vor. Pointiert kann man sagen: Die Kirche geht als predigende in das Konzil hinein – und kommt als zuhörende wieder heraus. Zumindest auf der programmatischen Ebene ist das so:

– ‚Dei Verbum‘, die Konstitution über die göttliche Offenbarung – und damit über das Herz der Theologie – wechselt vom Instruktions- zum Kommunikationsparadigma und entdeckt Gott als den Sich-Mitteilenden, der sich die Menschen und die Kirche als Freund wünscht, um in ein Gespräch zu kommen. Gott selbst als der Zuhörende!

– ‚Sacrosanctum concilium‘, die Liturgiekonstitution, akzentuiert, dass der Gottesdienst der Kirche ein dialogisches Geschehen zwischen dem Gottesgeist und den Gläubigen in ‚tätiger Teilnahme‘ darstellt – welch letztere wachsen kann, wenn der kulturelle Rahmen der Feier (Sprache, Riten, Besonderheiten des Ortes usw.) konstitutiv einbezogen wird. Kontextuelles Zuhören als Bedingung der Möglichkeit für die Erfahrbarkeit der liturgischen Zeichen!

– ‚Lumen Gentium‘, die Konstitution über die Kirche, macht einen Unterschied zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche, spricht vom Volk Gottes der Menschen und eröffnet damit den Weg, Kirche größer zu denken als in den Grenzen ihrer institutionellen Präsenz. Kulturelle Neugier wird zur Basiskompetenz einer Kirche als lernender Organisation!

– Die Erklärung ‚Nostra aetate‘ rät den Christen, sehr aufmerksam die heiligende Weisheit der je anderen Religionen wahrzunehmen. Religiöse Vielfalt als Chance zum Zuhören!

– ‚Ad Gentes‘, das Dekret über die missionarische Tätigkeit der Kirche, fordert direkt dazu auf, dass „das christliche Leben (…) dem Charakter und der Eigenart jeder Kultur angepasst“ wird (AG 22). Zuhören als erster Schritt der Inkulturation!

– ‚Christus Dominus‘, das Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe, empfiehlt diesen dringend, Einrichtungen der pastoralsoziologischen Forschung einzurichten (CD 17, auch CD 16), damit sie überhaupt wissen können, in welchen Bedingungen die Gläubigen ihrer Diözesen leben. Kontextuelles Zuhören als Weiterbildungsmaßnahme der Funktionsträger!

Man könnte viele weitere Beispiele dafür bringen, dass eine kulturhermeneutische Offensive als Leitphilosophie des Konzils ansprechbar ist.23 Die Hauptprogrammatik aber liefert hierfür die Pastoralkonstitution, die den Platz der Kirche in der Welt identifiziert – und eben nicht ihr gegenüber oder gar höhergestellt –, die gottgefällige Autonomie der Kultur herausschält und die Verkündigung der Kirche sogar darauf verweist, sich und ihren Inhalt von den Leuten her neu zu erfassen. Zuhören, um überhaupt dazuzugehören!

All dies war auf dem Konzil überraschend und ist es seitdem wohl immer noch.24 Zu eingefräst sind die jahrhundertelangen Routinen einer Kirche als ‚societas perfecta‘, als vollkommene Gesellschaft, die den Leuten nur dann Heil zuspricht, wenn sie ins Innere der verfassten Kirche eintreten. Wer seine Umwelt so lange im Modus der Bringschuld modelliert hat; wer glaubte, vom sicheren Boden der Tradition alles um sich herum bewerten zu können; wer sich so lange als einzige sakramentale Heilsanstalt verstanden hat – der wechselt nicht mal eben in den Modus der Selbst(er) findung durch Kulturkontakt. Und sei es noch so sehr höchstlehramtliche Äußerung: Auch ein Konzil braucht Zeit – manche sagen: drei Generationen – bis es wirksam in Ausbildungsgänge, Rollen-Selbstbilder, Planungskennziffern und dogmatische Sprachstile eingesickert ist. Man ist nur ehrlich, wenn man sagt: Unsere gegenwärtige Kirchenpraxis ist noch um einiges davon entfernt, diesen umwälzenden Fortschritten der Konzilsdogmatik in den Alltagsroutinen zu entsprechen. Die Vision einer diakonischen Kirche, die sich eins macht mit ihrem je neu und örtlich unverwechselbar gegebenen Kontext und die ihre Botschaft durch diesen kenotischen Akt neu empfängt, um sie erst dann zu verkünden – diese Vision sucht weiter nach ihrer geschichtlichen Stunde. Nach wie vor hätte Camus recht, wenn er sein Diktum auf uns bezöge: Sie haben verlernt, die wirklichen Gesichter in ihrer Umgebung zu sehen. Sie suchen weiterhin vor allem nach dem, was sie schon zu kennen glauben.

16 Vgl. Sander 2005: 626; sowie ebd.: 616–691 sowie Tanner 2006: 319–322.

17 Eine solche Konstitution war gar nicht im Konzilsplan vorgesehen. Gaudium et spes gilt ja gerade deswegen als genuine Frucht des Konzils, ja als sein unverwechselbarster Ausdruck, weil sich die Notwendigkeit zu solch einem Text aus den Debatten der Aula erst ergab; vgl. nur Sander 2005: 827–864; Pesch 1994: 311–350, bes. 348 f; Mette 2005.

18 Sander 2005: 627.

19 Dies ist ja das bekannte Diktum Karl Rahners, der von Gaudium et spes wie vom ganzen Konzilswerk als dem ‚Anfang des Anfangs‘ spricht; vgl. Rahner 1966: 14 u. ö. Wie sehr Rahner mit dem hier eher intuitiv gespürten als konzeptionell schon gewussten fälligen Fortschritt dogmatischer Rede gekämpft hat, zeigen seine Interventionen während der Debatten (vgl. Sander 2005: 650–663. 847 f), noch mehr aber seine überaus konstruktiven Einordnungen des dann dogmatisierten Dokumentes in der nachkonziliaren Zeit (vgl. nur Rahner 1967a).

20 Gaudium et spes, Fußnote zum Titel; zit. nach Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1: 592.

21 Vgl. Sander 2005: 685–691. 704–710.

22 Sander 2005: 687.

23 Und es ist sicher kein Zufall, dass ebendiese dogmatischen Errungenschaften der kulturhermeneutischen Grundhaltung (Öffnung zur Ökumene, Religionsfreiheit, Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, Mission als Inkulturation, kulturell adaptierte Liturgie usw.) heute den eigentlichen Streitpunkt mit rechtsintegralistischen Kräften darüber bilden, inwiefern das Vatikanum II überhaupt als dogmatisches Konzil angesehen wird.

24 Vgl. als eine wichtige Stimme Klinger 1997: 77 f: „Die Pastoralkonstitution ist ein Wendepunkt in der Kirche. Sie stellt die Tradition vom Kopf auf die Füße; diese war bis dahin selbst eine Quelle der Offenbarung. Man konnte von ihr her alles, was nicht zu ihr gehört, bewerten. Nun aber heißt es: Die Kirche vermag dem eigenen Glauben nicht beredter Ausdruck zu geben, als wenn sie ihn von den Menschen her versteht, an die sich wendet, ihre Würde achtet, ihre Rechte anerkennt, Dialog mit ihnen führt (…). Dieser Perspektivwechsel im Umgang mit der Vergangenheit hat grundlegenden Charakter. Man kann seine Bedeutung nicht hoch genug einschätzen; denn er wird in der Konstitution [gemeint ist GS, MS] (…) methodisch durchgeführt.“

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