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44. Die Hilfe, welche die Kirche von der heutigen Welt erfährt

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Wie es aber im Interesse der Welt liegt, die Kirche als gesellschaftliche Wirklichkeit der Geschichte und als deren Ferment anzuerkennen, so ist sich die Kirche auch darüber im klaren, wieviel sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt. Die Erfahrung der geschichtlichen Vergangenheit, der Fortschritt der Wissenschaften, die Reichtümer, die in den verschiedenen Formen der menschlichen Kultur liegen, durch die die Menschennatur immer klarer zur Erscheinung kommt und neue Wege zur Wahrheit aufgetan werden, gereichen auch der Kirche zum Vorteil.

Von Beginn ihrer Geschichte an hat sie gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkünden. Diese in diesem Sinne angepaßte Verkündigung [praedicatio accomodata] des geoffenbarten Wortes muß ein Gesetz aller Evangelisation [lex evangelizationis] bleiben. Denn so wird in jedem Volk die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen, entwickelt und zugleich der lebhafte Austausch [commercium] zwischen der Kirche und den verschiedenen nationalen Kulturen gefördert [Fußnote auf LG 13]. Zur Steigerung dieses Austauschs bedarf die Kirche vor allem in unserer Zeit mit ihrem schnellen Wandel der Verhältnisse und der Vielfalt ihrer Denkweisen der besonderen Hilfe der in der Welt Stehenden, die eine wirkliche Kenntnis der verschiedenen Institutionen und Fachgebiete haben und die Mentalität, die in diesen am Werk ist, wirklich verstehen, gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt.

Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören [auscultari], sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfaßt, besser verstanden und passender verkündet [aptus proponere] werden kann.

Da die Kirche eine sichtbare gesellschaftliche Struktur hat, das Zeichen ihrer Einheit in Christus, sind für sie auch Möglichkeit und Tatsache einer Bereicherung durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens gegeben, nicht als ob in ihrer von Christus gegebenen Verfassung etwas fehle, sondern weil sie so tiefer erkannt, besser zur Erscheinung gebracht und zeitgemäßer gestaltet werden kann.

Die Kirche erfährt auch dankbar, daß sie sowohl als Gemeinschaft wie auch in ihren einzelnen Kindern mannigfaltigste Hilfe von Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen empfängt. Wer nämlich die menschliche Gemeinschaft auf der Ebene der Familie, der Kultur, des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, der nationalen und internationalen Politik voranbringt, leistet nach dem Plan Gottes auch der kirchlichen Gemeinschaft, soweit diese von äußeren Bedingungen abhängt, eine nicht unbedeutende Hilfe.

Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben [Fußnote auf Texte von Justin und Tertullian sowie auf LG 9].

GS 44 ist in der Aula und hinter den Kulissen intensiv diskutiert worden. Die Neuheit dieser Sätze, ja: ihre Sprengkraft, wurde erkannt. Es gab mehr als einen Versuch, die sich hier deutlich erkennbare Vision einer lernenden Kirche abzuschwächen, die dieses Lernen eben nicht taktisch versteht, sondern als Notwendigkeit für sich selbst erkennt.35 Auch der Hinweis in der ersten Fußnote auf die Kirchenkonstitution Lumen Gentium, Nr. 13 kann nicht verbergen, dass es sich um eine wirklich neue und Lumen Gentium übersteigende ekklesiologische Einsicht handelt. Dies zeigt ein kurzer Textvergleich. Kapitel 13 aus Lumen Gentium betont zwar wie GS 44, dass die Kirche im Austausch mit den „Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker“ steht – daher wird die Passage in GS 44 zitiert –, schränkt aber ein: „soweit sie gut sind.“ Und fährt dann fort: „bei der Übernahme aber reinigt, kräftigt und erhebt sie diese.“ Die Austauschkommunikation mit dem kulturellen Kontext bleibt damit klar einseitig gesteuert: Es ist die Kirche, die bestimmt, was (für die Kultur und für sie) gut sei, was verbessert, gestärkt und betont werden müsse. Niemand wird dagegen verkennen können, in welche neue Dynamik der Wechselseitigkeit GS 44 vorstößt. Hier ist davon die Rede, dass die Kulturen eigene Reichtümer aus sich heraus hervorbringen, die in sich nicht noch einmal extern bewertet werden müssen; dass schon der rein immanente Einsatz für die Humanisierung der Gesellschaft hilfreich für die Kirche ist; dass diese Hilfe erfolgt, „gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt“; ja sogar davon, dass die Kirche von der „Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger“ profitiert. GS 44 ist (fast) gänzlich frei von der Gefahr einer „epistemologischen Arroganz“ des Schreibers36 und präsentiert eine Kirche, die sich als Akteur in kulturelle Pluralität einordnet, die andere Akteure respektiert, deren Leistungen dankbar nutzt und die sich ihrerseits ihrer Kultur anbietet, ohne eine Holschuld der anderen zu konstruieren. „Wohl noch nie zuvor“, so kommentiert Yves Congar, hat die Kirche „formell so anerkannt, dass sie gegenüber der Welt auch die Empfangende ist. Sie bekennt das in diesem Artikel 44, dessen Dichte und relative Neuheit einen eingehenderen Kommentar verlangen würden.“37

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